Editorial Schattenspiel 3
Silvia von Steinsdorff Gute und schlechte Informalität? Informelle Politik in West und Ost 5
Astrid Lorenz Präsent und dezentralisiert Informelle Politik in der Bundesrepublik Deutschland 17
Rafael Mrowczynski Gordische Knoten Verwaltungshierarchien und Netzwerke in der UdSSR 31
Gerd Meyer Ambivalenzen personalisierter Politik Das Beispiel Polen 47
Kerstin Zimmer Klientelismus im neopatrimonialen Staat Regionale Machtsicherung in der Ukraine 59
Vadim Volkov Jenseits der Gerichte Warum die Gesetze nicht so funktionieren, wie sie sollen 75
Vladimir Gel’man Wahlen à la russe Formale Normsetzung und informelle Methoden 85
Heiko Pleines Informelle Einflußnahme und Demokratie Wirtschaftsakteure in Rußland und der Ukraine 99
Barbara Lehmbruch Staat, Markt und Schwarzmarkt Überlebensstrategien rußländischer Behörden 109
Tina Olteanu Vertrauensverlust Korruption und Demokratie in Osteuropa 121
Schwerpunkt - Parlamentswahlen in Polen
Kai-Olaf Lang Auf dem Weg zur IV. Republik? Die Parlamentswahlen in Polen vom 25. September 2005 135
Janusz Rolicki Polen am Wendepunkt Prognosen eines politischen Menschen 149
Michał Witkowski Kulturscheide Bekenntnisse eines Unpolitischen 156
Editorial:
Schattenspiele Filz und Klüngel, Beratergremien und Netzwerke, Vetternwirtschaft und Nepotismus, Klientelismus, Patronage und Korruption – die Begriffe sind Legion. Sie alle versuchen das Phänomen zu erfassen, daß Politik in Ost und West nicht nur so funktioniert, wie es Verfassungen, Geschäftsordnungen der staatlichen Institutionen und Gesetze vorgeben. Aber die Konturen solch informeller Politik treten erst dann aus dem vormodernen Dunkel hervor, wenn Rechtsstaat und Demokratie ihr Licht werfen. Eine Herrschaft ist nach dem Diktum von Abraham Lincoln demokratisch, wenn sie durch und für das Volk ausgeübt wird. Da das Volk in den modernen Flächenstaaten Herrschaft über sich selbst nur durch gewählte Repräsentanten ausüben kann, müssen formale Regeln und Institutionen gewährleisten, daß allgemeinverbindliche und notfalls mit Zwang durchgesetzte Entscheidungen auch wirklich von jenen Repräsentanten getroffen werden, die das Volk gewählt hat. Zugleich sollen diese Regeln dafür sorgen, daß die Volksvertreter sich nicht an ihren persönlichen Interessen, sondern am Wohle des Volkes, dem Gemeinwohl, orientieren. Ihre Aufgabe ist, die Sphäre des Privaten und des Öffentlichen wie Licht und Schatten zu scheiden. Informelle Praktiken finden hingegen im Zwielicht statt. Kerstin Zimmer zeigt in diesem Heft von Osteuropa, wie im neopatrimonialen ukrainischen Staat Ressourcen des Staatsapparates für machtpolitische Zwecke mißbraucht werden; Vadim Volkov demonstriert, wie im Rußland der 1990er Jahre hoheitliche Aufgaben kommerzialisiert und durch Gewohnheitsrecht und Gewaltpotential ersetzt wurden. Gleichzeitig muß informelle Politik nicht nur darauf befragt werden, wie sie formal-demokratische Regeln unterwandert, sondern auch darauf, wie sie deren Schwächen ausgleichen und dafür sorgen kann, daß die Bürger nicht nur die Verfahren, sondern auch das Ergebnis von Politik als legitim betrachten. Gerd Meyer wirft ein Schlaglicht auf die Ambivalenzen personalisierter Politik in Polen, wo die von der Verfassung nicht vollständig gedeckte starke Stellung des Präsidenten Aleksander Kwaśniewski es diesem ermöglichte, Stabilität in die polnische Politik zu bringen, so daß das Land die schwierige Aufgabe meisterte, den acquis communautaire der EU zu übernehmen. Offenbar kann informelle Politik den formalen Institutionen auch die nötige Deckung gewähren, die sie zum Reifen oder zumindest zum Überleben benötigen. Die Idee zu diesem Themenheft entstand auf einer Tagung des Arbeitskreises „Vergleich osteuropäischer Gesellschaften“ der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, die von Dorothée de Nève und Astrid Lorenz konzipiert von der Bundeszentrale für politische Bildung sowie der Berlin Graduate School of Social Sciences dankenswerterweise finanziert wurde. Astrid Lorenz, Manfred Sapper, Silvia von Steinsdorff, Volker Weichsel
Silvia von Steinsdorff Gute und schlechte Informalität? Informelle Politik in West und Ost Informelle Verfahren spielen in der Politik eine zentrale Rolle. Die Bandbreite reicht von der Arbeit in verfassungsmäßig nicht vorgesehenen Beratungskommissionen über Klientelismus, Korruption bis zu mafiosen Praktiken. Informalität tritt überall dort auf, wo formale Institutionen Leistungsdefizite aufweisen. Ob informelle Praktiken funktional oder dysfunktional sind, um die Effizienz formaler Institutionen zu erhöhen, ist umstritten und hängt vom Bewertungsmaßstab ab. Oft ist dies eine rechtsstaatliche liberale Demokratie. Informelle Praktiken in Ostmittel- und Osteuropa weisen Spezifika auf. Sie speisen sich aus dem Erbe des Staatssozialismus und den Begleiterscheinungen der Transformation. Um informelle Strukturen und Praktiken zu analysieren und zu bewerten, bietet sich das bislang vernachlässigte Konzept der Legitimität an.
Astrid Lorenz Präsent und dezentralisiert Informelle Politik in der Bundesrepublik Deutschland Der Beitrag gibt einen Überblick über den Wandel von einer zentralisierten informellen Politik in der Bundesrepublik der Adenauer-Ära hin zur dezentralisierten Informalität von heute. Zwar hebeln informelle Beziehungen teilweise latent die Demokratieprinzipien aus, doch sind sie auch ein Weg, in verflochtenen, pluralistischen, medial ausgeleuchteten Systemen wie der Bundesrepublik überhaupt zu politischen Entscheidungen zu gelangen. Für ihre Auswirkungen auf die Politik scheint besonders wichtig, ob ein gesellschaftlicher, ökonomischer und medialer Pluralismus und starke Parteien als faktisches Korrektiv asymmetrischer Machtausübung entgegenwirken.
Rafael Mrowczynski Gordische Knoten Verwaltungshierarchien und Netzwerke in der UdSSR Phänomene postsozialistischer Informalität wie Schattenwirtschaft, Klientelismus oder Korruption sind das Ergebnis spezifischer Strukturen und Funktionsweisen der sozialistischen Vergesellschaftung. Die Analyse der Sowjetunion zeigt, daß die sozialistische Gesellschaft nach dem Muster dezentralisierender Zentralisierung von ökonomischen und sozialen Aktivitäten funktionierte. Es bildete sich heraus, als inoffizielle Beziehungsnetzwerke innerhalb komplexer Verwaltungshierarchien des parteistaatlichen Apparates entstanden. Die zunehmende Verselbständigung dieser Interaktionsstrukturen gegenüber dem Zentrum war ein ausschlaggebender Faktor für den Zusammenbruch des sozialistischen Gesellschaftssystems.
Gerd Meyer Ambivalenzen personalisierter Politik Das Beispiel Polen Die Personalisierung von Politik ist in vielen modernen Demokratien zu beobachten. Demokratische Qualität und Wirkungen dieses Trends sind ambivalent. Personalisierung von Politik bezieht sich auf das Verhalten der politischen Eliten, die Darstellung politischer Sachverhalte in den Medien, die Wahrnehmung von Politik durch die Bürger und auf klientelistische Politik. Dafür bietet die polnische Politik seit der ausgehandelten Revolution von 1989 aufschlußreiche Beispiele. Führungsstil und Konfliktaustrag waren zunächst unter Lech Wałęsa, aber auch noch unter Aleksander Kwaśniewski hoch polarisiert und personalisiert. Dies gilt auch für Struktur und Wettbewerb der Parteien, für Wahlkämpfe und Wählerverhalten. Auf der anderen Seite konnte Präsident Kwaśniewski die herausgehobene Stellung seines Amtes und seiner Person dazu nutzen, auseinanderstrebende Kräfte zu integrieren und mehr Stabilität in die polnische Politik zu bringen.
Kerstin Zimmer Klientelismus im neopatrimonialen Staat Regionale Machtsicherung in der Ukraine Informelle Regeln und Praktiken sind in der ukrainischen Politik allgegenwärtig. Da die private und die öffentliche Sphäre kaum getrennt sind, werden die Ressourcen des Staatsapparates für machtpolitische Zwecke mißbraucht. Besonders deutlich zeigt sich dies im Verhältnis zwischen Zentrum und Regionen, bei dem durch die Verquickung von Ernennungs- und Haushaltspolitik mit den Wahlen die Kontrolle über die Regionen gesichert wird. Regionalpolitik ist ein Umverteilungssystem, bei dem die unteren Einheiten formal und informell vom Zentrum abhängig sind und gezwungen werden, in klientelistischer Form zusammenzuarbeiten. Gegenleistungen des Zentrums hängen von der erfolgreichen Mobilisierung von Wählerstimmen ab.
Vadim Volkov Jenseits der Gerichte Warum die Gesetze nicht so funktionieren, wie sie sollen Der Zusammenbruch der UdSSR ließ in Rußland ein Rechtsvakuum entstehen. Gewaltunternehmer konkurrierten mit dem Staat um den Schutz des neu entstandenen Eigentums. Hoheitliche Aufgaben wie Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung wurden kommerzialisiert und durch Gewohnheitsrecht und Gewaltpotential ersetzt. Erst Ende der 1990er Jahre gewann das staatliche Gerichtswesen wieder an Bedeutung. Darin kommt jedoch weniger eine Stärkung der Rechtsstaatlichkeit zum Ausdruck als die Tatsache, daß das Gerichtssystem nun als Mittel einer neuerlichen Eigentumsumverteilung dient. Der Fall Jukos illustriert dies. Eine unabhängige und funktionsfähige Gerichtsbarkeit hat sich bis heute nicht entwickelt.
Vladimir Gel’man Wahlen à la russe Formale Normsetzung und informelle Methoden In Rußland finden Wahlen statt. Ein Präsidentenerlaß und das Wahlgesetz von 1994 schufen die Grundlagen. Zahlreiche Normen regeln die Zulassung und Finanzierung der Kandidaten, den Wahlkampf und die Durchführung der Wahlen. Gleichzeitig haben sich informelle Methoden herausgebildet, welche die formalen Wahlregeln unterlaufen und wirkungsvolle Mechanismen darstellen, den Wahlausgang zu beeinflussen. Diese informellen Methoden können die Stabilität der politischen Herrschaft erhöhen, jedoch auch ihren Zusammenbruch fördern. Die Frage, ob Wahlen zu einem Machtwechsel in Rußland führen können, ist weiter offen.
Heiko Pleines Informelle Einflußnahme und Demokratie Wirtschaftsakteure in Rußland und der Ukraine In Rußland und der Ukraine ist die zivilgesellschaftliche Selbstorganisation von Wirtschaftsakteuren sehr schwach. Nur die Agrar- und die Kohlelobby, die bereits in der Sowjetunion relevante Ressourcen erworben hatten, konnten auch nach dem Umbruch Einfluß auf die Politik gewinnen. Illegale oder zumindest rechtlich fragwürdige Praktiken der Einflußnahme auf Politik spielen hingegen eine große Rolle. Dies hat Folgen für wirtschaftliche Reformstrategien, für die Machterlangung und den Machterhalt der politischen Elite sowie für die Legitimität des gesamten politischen Systems.
Barbara Lehmbruch Staat, Markt und Schwarzmarkt Überlebensstrategien rußländischer Behörden „Öffentliche“ und „private“ Sphären sind in Rußland erst ansatzweise getrennt. Dies gilt für den Staat wie für Privatunternehmer. Viele Regierungsbehörden sind über ihre eigentlichen Regulierungsaufgaben hinaus kommerziell tätig. Der Ursprung solcher Praktiken liegt häufig im Überlebensstreben der Institution. Dies zeigt die Untersuchung zweier Fallstudien aus dem Forstsektor. Die Folgen sind ambivalent. Hybride Verwaltungen erleichtern die Zweckentfremdung öffentlicher Ressourcen für private Zwecke. Damit korrumpieren sie Rußlands Marktwirtschaft, tragen jedoch in vielen Bereichen dazu bei, dem Staat die Erfüllung seiner Aufgaben überhaupt erst möglich zu machen.
Tina Olteanu Vertrauensverlust Korruption und Demokratie in Osteuropa In Osteuropa nehmen viele Bürger zentrale staatliche Institutionen und öffentliche Dienstleistungseinrichtungen als korrupt wahr. Den Amtsträgern, Parlamentariern, Beamten und Angestellten wird ein ausgeprägtes Eigeninteresse unterstellt. Dies führt jedoch nicht zwangsläufig dazu, daß das Vertrauen in diese Institutionen gering ist. Ebenso findet sich kein Beleg dafür, daß Korruption ein gesellschaftlich akzeptiertes Phänomen in Osteuropa ist.
Kai-Olaf Lang Auf dem Weg zur IV. Republik? Die Parlamentswahlen in Polen vom 25. September 2005 Aus den Parlamentswahlen in Polen sind die konservativen Kräfte der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und der Bürgerplattform (PO) als klare Sieger hervorgegangen. Die bisherige Regierungspartei SLD verlor hingegen drei Viertel ihrer Stimmen. Das polnische Parteiensystem ist damit weiterhin nur in Ansätzen stabil. Zwar haben PiS und PO angekündigt, gemeinsam eine Regierung zu bilden. Doch schon zeichnen sich Spannungen zwischen der national-konservativen, etatistischen und euroskeptischen PiS und der bürgerlich-liberalen PO ab. Daher wird die PiS ihr Projekt einer Vierten Republik wenn überhaupt nur in abgemilderter Form umsetzen können.
Janusz Rolicki Polen am Wendepunkt Prognosen eines politischen Menschen Die Wahlen zum Sejm vom 25. September 2005 markieren einen Wendepunkt. Polens politische Landschaft steht am Beginn dauerhafter Veränderungen. Der Sieg der Parteien Prawo i Sprawiedliwość und Platforma Obywatelska, die sich auf das Erbe der Solidarność berufen, speist sich aus der Enttäuschung über die Ergebnisse der Transformation und aus dem Versagen der Postkommunisten, die im Strudel ihrer Korruptionsaffären untergingen. Die Wahlsieger um die Gebrüder Kaczynski sehen in ihrem Erfolg den ersten Schritt zur Umgestaltung der Republik: Ihr Ziel ist eine Stärkung der Macht des Präsidenten zulasten des Parlaments. Ob sie es erreichen, hängt vom Ausgang der Präsidentschaftswahlen ab.
Michał Witkowski Kulturscheide Bekenntnisse eines Unpolitischen Die polnische Gesellschaft ist kulturell tief gespalten. Das links-liberale Milieu, das Emanzipation und Freizügigkeit lebt, hat nicht einmal eine politische Vertretung. Auch die bei den Wahlen schwer geschlagene postkommunistische Linke ist alles andere als libertär. Das nationalkatholische rechte Milieu hingegen versucht, seine prüden Sitten der gesamten Gesellschaft aufzuzwingen, und setzt homosexuelle Liebe mit Pädophilie gleich. Dieses Lager hat einen Sieg bei den Parlamentswahlen davongetragen. Den Anhängern liberaler Werte stehen schwere Zeiten bevor.