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Mythos Europa
Am Anfang war der Mythos. Und der Mythos handelt von Zeus, von Sex, Entführung und Gewalt. Was Roland Topors Vexierbild auf der Titelseite zeigt, ist der Ursprung Europas. In einen Stier verwandelt raubt der Göttervater Zeus die phönizische Königstochter Europa.
Was im Mythos anklingt, hat eine beklemmende Aktualität gewonnen. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs sind viele Schranken gefallen, die den Austausch von Ideen und Gütern verhinderten, die Reisefreiheit und Freizügigkeit der Menschen zwischen Ost und West unmöglich machten. Nun sind Menschen, Ideen und Güter in Bewegung. Die neue Freiheit hat auch Schattenseiten. Zu den augenfälligsten gehört ein transnationaler west-östlicher Prostitutionsmarkt. Und wieder ist von Sex, Entführung und Gewalt die Rede. Die Rollen auf diesem Markt sind klar verteilt: Frauen aus Ostmittel- und Osteuropa bieten -- gemeinsam mit Frauen aus Südostasien, Südamerika und Afrika -- überall in Westeuropa sowie entlang der innereuropäischen Wohlstandsgrenze Sexdienste an; die meisten ihrer männlichen Kunden kommen aus Westeuropa. Weniger klar ist, wie dieses Phänomen zu bewerten ist und welche Ursachen es hat.
Prostitution, Migration und Frauenhandel finden im Graubereich von Verdrängung, Tabuisierung, Schattenwirtschaft und Kriminalität statt. Deshalb sind verläßliche Zahlen über ihr Ausmaß nicht zu haben. Vor der Fußball-Weltmeisterschaft war von 40 000 Frauen die Rede, die extra zu den Spielen zusätzlich aus Osteuropa nach Deutschland hätten gelockt und verschleppt werden sollen, um sie zur Prostitution zu zwingen. Kaum war das erste Spiel angepfiffen, stellte sich heraus, daß davon keine Rede sein konnte. Nun ist nicht einmal mehr zu ermitteln, wie die Zahl in Umlauf kam.
Wo die Fakten labil und die Daten instabil sind, ist es kein Wunder, daß die Debatte über Prostitution, Migration und Frauenhandel stärker von Weltbildern als von nüchterner Analyse geprägt ist. Vornehmste Aufgabe einer Zeitschrift wie Osteuropa, die wissenschaftliche Analyse mit der Verpflichtung zur Aufklärung verbindet, ist es, solche Weltbilder kritisch zu durchleuchten.
Dreh- und Angelpunkt der Debatte über Sexarbeit und Frauenhandel ist die Frage, ob Prostitution freiwillig sein kann. Handelt es sich um eine moderne Form der Sklaverei, bei der skrupellose Menschenhändler ahnungslose Frauen aus Osteuropa mit falschen Versprechungen in ihre Fänge locken, um sie über die Grenzen nach Westeuropa zu schleusen und mit physischer Gewalt sowie ökonomischem Zwang in der Prostitution auszubeuten? Dies ist die Sicht der Abolitionisten, denen Prostitution per se als Ausbeutung der Frau gilt und die daher fordern, die Vermittler oder gar die Kunden von Prostituierten zu bestrafen, um so Sexsklaverei und Menschenhandel auszurotten. Oder haben wir es mit einer Form der Arbeitsmigration zu tun, die von dem sozialen Niedergang in einigen osteuropäischen Staaten und dem Wohlstandsgefälle zwischen Osteuropa und Westeuropa angefeuert wird. Anhänger dieser Haltung erhoffen sich von der gesellschaftlichen Anerkennung und staatlichen Regulierung der Prostitution eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Prostituierten.
Beide Positionen sind, wie die Beiträge zu diesem Heft zeigen, verkürzt. Prostitution und Migration können freiwillig und selbstbestimmt, doch gleichzeitig auch mit Gewalt und Ausbeutung verbunden sein. Freiwilligkeit und Zwang hängen in den meisten Fällen zusammen. Hat eine Frau aus der Ukraine oder Rußland die Entscheidung getroffen, in Westeuropa in der Sexindustrie zu arbeiten, bedeutet dies keineswegs, daß sie nicht dennoch ausgebeutet werden kann.
Ebenso weit wie die Beurteilung des ost-westlichen Prostitutionsmarkts klaffen die Konzepte zur Verbesserung der Situation der Frauen auseinander. Ist der Menschenhandel zu beenden, indem die Strafgesetze verschärft, organisierte Kriminalität bekämpft, Schleuserbanden und Zuhälterringe zerschlagen und die Grenzen besser kontrolliert werden? Oder verstärkt die polizeiliche Repression nur Gewalt und Ausbeutung, da sie weder die Nachfrage noch das Angebot austrocknen kann, die Arbeitsmigrantinnen im Prostitutionsgewerbe aber in ein illegales und damit jeglicher Kontrolle entzogenes Milieu abdrängt, um sie nach ihrer "Befreiung" rasch abzuschieben? Sind also vielmehr eine Legalisierung der Prostitutionsmigration und eine aktive Sozialarbeit Mittel zur Verbesserung der Lage der Frauen?
Vieles spricht dafür, daß auch dies keine Alternativen sind. Der kriminologische Ansatz, wie ihn auch viele Frauenrechtlerinnen vertreten, läuft Gefahr, jede Prostitution, ja jede Migration als Menschenhandel zu definieren. Eine Politik, welche die Frauen in Osteuropa und anderen Weltregionen im Auge hat, muß, wie Julia O'Connell Davidson argumentiert, sich weniger um die Bekämpfung des "Menschenhandels" als um die Reduzierung der Armut in den Herkunftsländern der Migrantinnen und Migranten kümmern.
Bei der Prostitutionsmigration von Ost nach West geht es nicht nur um Würde, Menschenrechte oder Wirtschaft. Der Diskurs über Prostitution hat auch spannungsgeladene symbolische und politische Dimensionen. Der Ort, an den die westeuropäischen Gesellschaften die Prostitution verweisen, ähnelt frappierend dem Rang, den "Osteuropa" im westeuropäischen Denken einnimmt. "Osteuropa" und die Prostitution stehen, wie Christiane Howe es nennt, für "das Verbotene, das Verruchte, das Ausgelagerte, das Andere, welches Sehnsüchte, geheime Wünsche, ungewollte Phantasien und Ängste auf sich zieht." "Osteuropa" steht für Drogen-, Waffen-, Frauenhandel; für illegale Milliardengeschäfte, Geldwäsche und Korruption; für extreme Armut und extremen Reichtum; für Geld, Sex und Gewalt. Es ist ein Dorado für schwere Jungs und leichte Mädchen.
Darüber hinaus hat Prostitution, wie der "Fall Friedman" zeigte, immer auch enorme Sprengkraft. Von politischer Bedeutung ist nicht der jähe Absturz des Politikers und Fernsehmoderators, nachdem öffentlich geworden war, daß er Sex bei ukrainischen (Zwangs?)prostituierten gekauft hatte. Entscheidend ist, daß -- wie einige Monate später die sogenannte Visa-Affäre zeigte -- Zuhälter und Prostituierte ein integraler Bestandteil des Ukrainebildes und damit auch des Osteuropabildes in der deutschen Öffentlichkeit sind. Diese damit verbundenen Bedrohungsvorstellungen sind stets mobilisierbar und können das in einer demokratischen Revolution erworbene Image rasch verderben.
Grund genug, diesem Zusammenspiel von Migration, Prostitution, Geschlechterverhältnissen und Machtbeziehungen historisch, gesellschaftlich, sozial, kulturell und politisch auf den Grund zu gehen.
Editorial Mythos Europa 5
Julia O'Connell Davidson Männer, Mittler, Migranten Marktgesetze des "Menschenhandels" 7
Bärbel Heide Uhl, Claudia Vorheyer Täterprofile und Opferbilder Die Logik der internationalen Menschenhandelspolitik 21
Britta Schmitt Regulieren, tabuisieren, kriminalisieren Ethisch-religiöse Wurzeln der Prostitutionspolitik in Europa 33
Veronica Munk Migration und Sexarbeit Dilemmata der Illegalität 55
Christiane Howe Bilderwelten -- Innenwelten Prostitution und das Verhältnis der Geschlechter 67
Judith Siegmund Die unbekannte Spezies Ein Versuch, sich dem Phänomen Freier zu nähern 87
Eliot Borenstein Nation im Ausverkauf Prostitution und Chauvinismus in Rußland 99
Karin Sarsenov Kann denn Reisen Sünde sein? Drei russische Romane über mobile Frauen 123
Rebecca Plassa Dokumentation, Spekulation, Emotion Zwölf Bücher zu Menschenhandel und Zwangsprostitution 139
Länderstudien
Elena Tjurjukanova Verkaufte Körper Arbeitsmigration in Rußland und der GUS 151
Alexandra Orlova, Sasha Baglay Stumpfe Waffen des Gesetzes Der Kampf gegen den Menschenhandel in Rußland und der Ukraine 169
Dokumentation Plazierung der europäischen Staaten im Menschenhandelsbericht des US-amerikanischen Außenministeriums 193
Mary Buckley Menschenhandel als Politikum Gesetzgebung und Problembewußtsein in Rußland 195
Angelika Kartusch, Gabriele Reiter Frauenhandel in Nachkriegsgebieten Bosnien-Hercegovina und der Kosovo 213
Berna Eren Zielland Türkei Migration, Prostitution und Menschenhandel am Bosporus 227
Cathrin Schauer Jeder holt sich, was er will Sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern in einer tschechischen Grenzregion 235
Dokumentation Menschenhandel in der Polizeistatistik Tschechische Republik und Deutschland 246
Stadtporträts
Veronica Munk Hamburg -- mehr als die Reeperbahn 255
Hana Malinová Prag -- Sexmarkt im Herzen Europas 260
Sarah Richardson London -- Sex in the City 263
Frauengeschichte(n)
Jo Doezema Weiße Sklavinnen, arme Slawinnen Das Melodram vom Frauenhandel 269
Beate Fieseler "Stell dich doch auf den Nevskij!" Prostitution im Rußland des 19. Jahrhunderts 285
Barbara Klich-Kluczewska Unzüchtiger Realsozialismus Prostitution in der Volksrepublik Polen 303
Marcin Zaremba Ein Abgrund von Moral- und Machtlosigkeit Prostitution in Polen zwischen NS-Besatzung und Entstalinisierung 318
Dokumentation Zwei Dokumente zur Prostitution in Polen 1956/57 324
Abstracts 332
Julia O'Connell Davidson Männer, Mittler, Migranten Marktgesetze des "Menschenhandels"
Die Debatte über Prostitution und Menschenhandel ist von zwei gegensätzlichen Positionen geprägt. Für Abolitionisten ist Prostitution per se eine Ausbeutung der Frau. Sie fordern, die Vermittler oder sogar die Kunden von Prostituierten zu bestrafen, um so Sexsklaverei und Menschenhandel auszurotten. Ihre liberalen und libertären Gegner betrachten hingegen Sex als eine Ware wie jede andere. Sie erhoffen sich von der gesellschaftlichen Anerkennung und staatlichen Regulierung der Prostitution eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Prostituierten. Beide Positionen sind verkürzt. Prostitution und Migration können freiwillig und selbstbestimmt, aber auch mit Gewalt und Ausbeutung verbunden sein. Eine Politik, die wirklich die Menschen in den Herkunftsländern im Auge hat, muß sich nicht um Bekämpfung des "Menschenhandels", sondern um die Reduzierung der Armut in den Herkunftsländern der Migranten kümmern.
Bärbel Heide Uhl, Claudia Vorheyer Täterprofile und Opferbilder Die Logik der internationalen Menschenhandelspolitik
Zahlreiche internationale Staatenorganisationen haben sich in den letzten Jahren des Themas Menschenhandel angenommen. Sie erheben alle den Anspruch, die Menschenrechte zu schützen. Tatsächlich aber ist der politische Diskurs über Menschenhandel vor allem von kriminologischem Denken geprägt und dreht sich um die Stärkung und Verteidigung nationalstaatlicher bzw. supranationaler Grenzen. Damit wird weder den von Menschenhandel betroffenen Menschen geholfen noch werden die strukturellen Ursachen bekämpft.
Britta Schmitt Regulieren, tabuisieren, kriminalisieren Ethisch-religiöse Wurzeln der Prostitutionspolitik in Europa
Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs setzte der Frauenhandel von Osteuropa nach Westeuropa ein. Damit geriet Prostitution stärker ins Blickfeld von Öffentlichkeit und Politik. Einige EU-Staaten haben seitdem ihre Prostitutionspolitik geändert. Manche haben sich für Liberalität, andere für Repression entschieden. Der Vergleich von Schweden, Litauen, Polen, Italien, den Niederlanden und Griechenland zeigt, daß andere Auslegungen des christlichen Menschenbilds, die verschiedenen Konfessionen und historischen Entwicklungspfade sowie Auswirkungen der So-wjetideologie bis heute den gesellschaftlichen Umgang mit Prostitution prägen und ihren Niederschlag in der Gesetzgebung finden.
Veronica Munk Migration und Sexarbeit Dilemmata der Illegalität
Immer mehr Frauen suchen weltweit fern der Heimat Arbeit. Prostitution ist eine davon. Legale Migration ist kaum möglich. Aufenthaltsrechtlich leben die Frauen illegal in der EU. Sie werden so in den illegalen Arbeitsmarkt gedrängt, was schlechte Lebens- und Arbeitsbedingungen fördert. IIlegale Migrantinnen stellen unter den Prostituierten inzwischen die Mehrheit. Die meisten stammen aus Osteuropa. Das in der Öffentlichkeit vorherrschende Bild, daß sie Opfer von Frauenhandel seien, entspricht nicht der Realität. Bekämpfung des Frauenhandels darf nicht zur Bekämpfung der Prostitution führen. Statt dessen ist eine Verbesserung der Rechte der illegalen Sexarbeiterinnen erforderlich. Nur so lassen sich bessere Bedingungen für Arbeit und Gesundheit erreichen und Ausbeutung und Kriminalität in der Sexindustrie bekämpfen.
Christiane Howe Bilderwelten -- Innenwelten Prostitution und das Verhältnis der Geschlechter
Die Mehrheitsgesellschaft verbindet mit der Prostitution das Unbekannte, Geheimnisvolle, Zügellose, Verbotene. Dieses Andere überhöht sie entweder positiv oder wertet es negativ ab. In diesen Vorstellungen spiegeln sich gesellschaftliche Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit, von einer geschlechtsspezifischen Sexualität wider. Insbesondere die männliche Sexualität ist heute mit Ansprüchen überladen, die unmöglich zu erfüllen sind. Eine Lösung bietet vielen Männern die Flucht zu Prostituierten. Hier können sie die unterdrückte Seite ihrer ambivalenten Sexualität und ihre Phantasien angstfrei ausleben.
Judith Siegmund Die unbekannte Spezies Ein Versuch, sich dem Phänomen Freier zu nähern
In einer künstlerischen Annäherung läßt das Videoprojekt Fremde Freier osteuropäische Frauen, die im deutsch-polnischen Grenzgebiet als Prostituierte arbeiten, zu Wort kommen. Die Interviews geben Aufschluß über die Motive und Interessen der Freier, verweisen auf Rollenmuster, und nationale Stereotypen und verraten etwas über das Selbstbild der slawischen Frauen. Sie sind weder femmes fatales noch Opfer. Beide Klischees sind zwei Spielarten einer Haltung: Sie entlasten die Freier, sich mit der eigenen Verantwortung auseinanderzusetzen. Es ist an der Zeit, die öffentliche Aufmerksamkeit von den Prostituierten auf die Freier zu lenken.
Eliot Borenstein Nation im Ausverkauf Prostitution und Chauvinismus in Rußland
Die Prostituierte ist eine zentrale Figur der russischen Kultur. Sie ist Metapher für das traditionell als weiblich verstandene Rußland und dient den Medien und der Literatur täglich dazu, eine russische Identität zu schaffen. Das Geflecht von Kunst und Ideologie, das die metaphorische postsowjetische Prostituierte hervorgebracht hat, ist wie diese selbst: Es zielt in erster Linie auf Männer. Über das Symbol der Prostituierten wird Kritik geübt am Ausverkauf Rußlands an den Westen, dessen Kapitalismus seit 1989 auch in Rußland alles und jeden in eine Ware verwandelt habe. Vor allem bringt die postsowjetische Prostituierte aber die Angst russischer Männer zum Ausdruck, da sie machtvolle Verführerin ist und doch keinen Phallus hat.
Karin Sarsenov Kann denn Reisen Sünde sein? Drei russische Romane über mobile Frauen
In der russischen Literatur ist eine Reiseerzählung zumeist eine Geschichte über männliche Identität. Weibliches Reisen und das Unterwegs-Sein russischer Migrantinnen ist literarisch kaum präsent. Zudem ist die Liebe zur Heimat, die Thema aller Reisgeschichten ist, ein männliches Thema, da die Heimat oft feminisiert und Patriotismus als heterosexuelle Liebe zu einer Frau präsentiert wird. Drei zeitgenössische, von Frauen geschriebene Prosastücke, die sich mit weiblicher Migration auseinandersetzen, greifen in diesen Diskurs ein. Sie spielen auf subtile und oft höchst raffinierte Weise mit der Stigmatisierung russischer Frauen als Prostituierte und entziehen so dem patriotischen Diskurs die Grundlage.
Rebecca Plassa Dokumentation, Spekulation, Emotion Zwölf Bücher zu Menschenhandel und Zwangsprostitution
Geht es um Menschenhandel, Zwangsprostitution oder gar den sexuellen Mißbrauch von Kindern, so schlagen die Emotionen schnell hohe Wellen, und Spekulationen schießen ins Kraut. Die Dimensionen, Ursachen und Auswirkungen von Menschenhandel sind weniger bekannt. Es mangelt an verläßlichen Daten. Diesen Mißstand versucht eine Reihe wissenschaftlicher und literarischer Publikationen zu beheben. Nicht alle Autoren sind jedoch gegen Pauschalierungen, Oberflächlichkeit und einseitige Verurteilungen gefeit.
Elena Tjurjukanova Verkaufte Körper Arbeitsmigration in Rußland und der GUS
Internationale Arbeitsmigration ist ein integraler Bestandteil der Weltwirtschaft. Rußland ist das wichtigste Aufnahmeland von Migranten aus der GUS. Gleichzeitig wandern jährlich Zehntausende aus Rußland in die EU-Staaten und die USA. Mit der Rekrutierung billiger Arbeitskräfte erzielen Arbeitgeber und Mittler riesige Gewinne. Die größte und zugleich die am meisten gefährdete Gruppe der Arbeitsmigranten stellen die Frauen. Sie haben weniger Möglichkeiten zu legaler Migration als Männer, werden in schlecht bezahlte, kaum abgesicherte Risiko- und Randsegmente des Arbeitsmarkts bis hin zu Arbeitssklaverei und Prostitution abgedrängt und dadurch häufiger Opfer von Menschenhandel.
Alexandra Orlova, Sasha Baglay Stumpfe Waffen des Gesetzes Der Kampf gegen den Menschenhandel in Rußland und der Ukraine
Seit den 1990er Jahren sind Rußland und die Ukraine mit Frauen- und Kinderhandel zur kommerziellen sexuellen Ausbeutung konfrontiert. Während die Ukraine schon 1998 Menschenhandel als Delikt in das Strafgesetzbuch aufnahm, reagierte Rußland erst auf internationalen Druck. Zudem halten sich die Bestimmungen des ukrainischen StGB genauer an die Vorgaben des Palermo-Protokolls der Vereinten Nationen zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, dem beide Staaten beigetreten sind. Beide Staaten messen jedoch noch immer dem Einverständnis eines Opfers von Menschenhandel eine zu große, der Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit der Opfer hingegen eine zu geringe strafrechtliche Rolle zu.
Mary Buckley Menschenhandel als Politikum Gesetzgebung und Problembewußtsein in Rußland
In Rußland war das Thema Menschenhandel lange ein Tabu. Unterdessen stellt das Strafgesetzbuch Menschenhandel unter Strafe. Dies ist das Ergebnis der Aufklärung durch NGOs und Frauengruppen sowie massiven Drucks der USA. Die neuen Gesetze werden unzureichend angewandt. Verantwortlich sind mangelndes Problembewußtsein, Korruption sowie vereinzelte Mittäterschaft in Polizei und Rechtswesen. Die Bekämpfung des Menschenhandels muß an den Wurzeln ansetzen. Erforderlich ist es, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, um die materielle Not zu überwinden, die viele Frauen ins Ausland treibt. Nötig sind mehr Aufklärung unter potentiellen Arbeitsmigrantinnen sowie der Aufbau eines landesweiten Netzwerks von Notunterkünften und Rehabilitationsprogrammen.
Angelika Kartusch, Gabriele Reiter Frauenhandel in Nachkriegsgebieten Bosnien-Hercegovina und der Kosovo
Menschenhandel steht im Zusammenhang mit Krieg und Wiederaufbau im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Die internationale Gemeinschaft spielt in den Konfliktgebieten eine wichtige Rolle. Einerseits schafft sie durch ihre Präsenz bei der Konsolidierung des Friedens einen Markt für informelle Geschäfte wie Prostitution und Frauenhandel. Andererseits ist sie Schützerin von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Daraus resultiert ein Dilemma, wie die Fallstudien Bosnien-Hercegovina und Kosovo ergeben. Unterdessen sind Instrumente entstanden, um Frauenhandel zu bekämpfen.
Berna Eren Zielland Türkei Migration, Prostitution und Menschenhandel am Bosporus
Die Türkei ist seit dem Ende des Ost-West-Konflikts zu einem der wichtigsten Zielländer von Touristen und Arbeitsmigranten aus der ehemaligen Sowjetunion geworden. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre kamen vor allem fliegende Händler an den Bosporus. Seitdem gab es einen rapiden Zuwachs von Prostitutionsmigration und Menschenhandel aus der Ukraine, Moldova, Rußland und dem Südkaukasus. Formal erlaubt die Türkei zwar in sehr engen Grenzen Bordellprostitution. Den Großteil der Prostitution drängt sie aber in die Illegalität. Daher sind die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Prostituierten aus der ehemaligen Sowjetunion häufig von Gewalt geprägt, so daß man von Menschenhandel sprechen muß. Die Türkei mit einer strengeren Strafgesetzgebung reagiert. Soziale Hilfsangebote sind bisher jedoch rar.
Cathrin Schauer Jeder holt sich, was er will Sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern in einer tschechischen Grenzregion
Das "Paradies" für deutsche sexhungrige Männer liegt gleich hinter der deutsch-tschechischen Grenze. Für die Frauen und Kinder, bei denen sie sich dort billig Sex kaufen können, ist es dagegen oftmals die Hölle. Viele von ihnen suchen in der Prostitution einen Ausweg aus einer perspektivlosen Lebenssituation. Die schwierige wirtschaftliche Lage in einigen ostmittel- und osteuropäischen Regionen treibt Frauen in die Hände von skrupellosen Zuhältern, Menschenhändlern und Sextouristen, bringt Familien dazu, ihre Kinder fremden Männern als Sexgespielinnen zu überlassen. Die Folgen für die Betroffenen selbst wie für die Gesellschaft sind erschütternd.
Veronica Munk Hamburg -- mehr als die Reeperbahn Im Hamburg arbeiten über 2300 Frauen in der Prostitution. Die Hälfte sind Migrantinnen. Mitarbeiterinnen des Netzwerks TAMPEP, das Straßensozialarbeit macht und sich für AIDS-Prävention, Gesundheit und die Rechte migrierter Sexarbeiterinnen einsetzt, unterhalten Kontakt zu diesen Migrantinnen. Die meisten arbeiten zu zweit oder zu dritt in Appartements und kommen aus Polen, Litauen und Bulgarien. Frauen aus den neuen EU-Ländern arbeiten auch als Selbständige.
Hana Malinová Prag -- Sexmarkt im Herzen Europas
Die Debatte über Prostitution in der Tschechischern Republik dreht sich nahezu ausschließlich um die Grenzgebiete. Doch auch in Prag ist in den letzten Jahren rund um den großen Touristenstrom ein boomender Sexmarkt entstanden. In den Prager Clubs sind die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Frauen, die überwiegend aus der Tschechischen Republik stammen, besser als in Nord- und Ostböhmen. Dazu tragen nicht zuletzt Streetworker verschiedener NGOs bei.
Sarah Richardson London -- Sex in the City
Im Gegensatz zur verbreiteten öffentlichen Meinung konzentriert sich das Sexgewerbe in London nicht um Soho, Shepher's Market und Kings Cross. Eine systematische Erhebung zeigt, daß ein Netz von fast 750 geschlossenen Örtlichkeiten existiert, in denen Frauen sexuelle Dienstleistungen verkaufen. Dazu kommen über 150 Escort-Agenturen. Frauen aus Osteuropa stellen den größten Anteil der Sexarbeiterinnen.
Jo Doezema Weiße Sklavinnen, arme Slawinnen Das Melodram vom Frauenhandel
Die Darstellungen von Menschenhandel im 21. Jahrhundert gleichen frappierend den hundert Jahre älteren Beschreibungen der "weißen Sklaverei". Das typische Opfer ist jung, naiv und schön. Es habe ein besseres Leben gewollt, sei angelockt, getäuscht und dann zur Prostitution gezwungen worden. Dieses melodramatische Bild sagt oft mehr über die Gesellschaft, die es produziert, als über die Frauen, die es beschreiben soll. Exemplarisch läßt sich dies an einem Bericht von W.T. Steads aus dem Jahre 1885 über seine Recherchen zur weißen Sklaverei in London und einem Bericht über Menschenhandel in Rumänien im Jahr 2003 zeigen.
Beate Fieseler "Stell dich doch auf den Nevskij!" Prostitution im Rußland des 19. Jahrhunderts
Prostitution war im Russischen Reich offiziell verboten. Mit der Bauernbefreiung und der Urbanisierung des Landes wuchs in den Städten die Nachfrage nach sexuellen Dienstleistungen. Die Zahl der Prostituierten stieg entsprechend an. Während lange Zeit von Ausländerinnen geführte Luxusbordelle für die Oberschicht geduldet wurden, verfolgte der Staat Prostitution für die Unterschicht rigoros. Die Begründung lautete, die Gesundheit der Bevölkerung schützen zu müssen. Empirische Erhebungen um 1900 geben Auskunft über die Altersstruktur, die soziale Herkunft und die Arbeitsbedingungen der Frauen. Die meisten Prostituierten boten ihre Dienste freiwillig an, um ihren widrigen sozialen Bedingungen und prekären Arbeitsverhältnissen zu entkommen.
Barbara Klich-Kluczewska Unzüchtiger Realsozialismus Prostitution in der Volksrepublik Polen
Prostitution im sozialistischen Polen? Nach kommunistischer Auffassung war dieser Auswuchs des Kapitalismus zum Absterben verdammt. Tatsächlich nahm jedoch die "Unzucht" in der Volksrepublik stetig zu. Daran konnten weder strenge Kontrollen von Prostituierten und umfangreiche, aber ineffektive Hilfsprogramme noch die stalinistische Tabuisierung und Kriminalisierung etwas ändern. Auch nach dem politischen Tauwetter wurden Prostituierte als unmoralische Verbrecherinnen dargestellt und mit Sanktionen belegt. Die öffentliche Debatte des Themas blieb in den Ansätzen stecken, kirchliche und gesellschaftliche Initiativen wurden vom Staat blockiert.
Marcin Zaremba Ein Abgrund von Moral- und Machtlosigkeit Prostitution in Polen zwischen NS-Besatzung und Entstalinisierung
Die Entstalinisierung machte es möglich: Im kommunistischen Polen durfte man Prostitution und die damit verbundenen sozialen Probleme wieder thematisieren. Dies geschah auch auf höchster Staats- und Parteiebene. Innenministerium und Miliz zogen Anfang 1957 eine erschreckende Bilanz. Zwei Dokumente spiegeln die Ratlosigkeit der kommunistischen Führung angesichts steigender Prostituiertenzahlen und damit verbundener Probleme wie Frauenarbeitslosigkeit, Zerrüttung von Familien, wachsender Kriminalität und grassierender Geschlechtskrankheiten. Die Wurzeln dieser Entwicklung reichen in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurück.