13. Jahrgang, Oktober / November 2004, Nr. 5
Editorial von Yfaat Weiss, Ulrich Bielefeld
Deadly Neighbors –Tödliche Nachbarn
Etwas aus der Nähe zu betrachten heißt natürlich, sich die Dinge genauer anzuschauen. In der Hoffnung, mehr zu entdecken, rückt der Beobachter näher an das Geschehen heran. Es war diese Erwartung, die uns veranlaßte, erste Überlegungen anzustellen und Planungen für eine in Israel stattfindende gemeinsame Tagung über Nähe und Gewalt zu machen. Das »Bucerius Institut zur Erforschung der deutschen Gesellschaft und Zeitgeschichte« an der Universität Haifa und das »Hamburger Institut für Sozialforschung« waren aus unterschiedlichen Gründen geeignet, sich des Themas anzunehmen: das eine aufgrund seiner Bestimmung und geographischen Lage, das andere aufgrund seiner selbstgestellten Thematik und notwendiger Reflexionen zur eigenen Geschichte. Wie sich Nähe und Gewalt zueinander verhalten, war eine offene Frage. So sollten aus Fallbeispielen des 20. Jahrhunderts, begleitet von theoretischen Überlegungen, Aufschlüsse über eventuelle Kausalitäten und funktionale Zusammenhänge gewonnen werden. Die Fragestellung selbst drängte sich dem europäischen Bewußtsein spätestens nach den jugoslawischen Auflösungskriegen auf. Krieg, der in der Epoche des Kalten Kriegs eher zu einer abstrakten Größe geworden zu sein schien, trat plötzlich in aller Konkretion auf die Tagesordnung. Und mit ihm trafen Täter und Opfer, Sieger und Verlierer an konkreten Orten aufeinander. Auch die Studie »Nachbarn« von Jan Tomasz Grosz,die uns selbstverständlich vor Augen stand, war ja ein Produkt nach Ende des Kalten Krieges. Sachlich bot das Buch nichts Neues, war der Fall Jedwabne doch bereits 1949 juristisch aufgearbeitet worden. Ohne den Schutz staatlicher Ideologie wurde die Frage nach Beteiligung und Schuld jetzt jedoch anders thematisierbar. Die Studie machte den Antisemitismus als ein konkretes Verhältnis der Menschen untereinander sichtbar, so wie die ethnischen Säuberungen in Ex-Jugoslawien Peiniger und Gepeinigte aus unmittelbarer Nähe miteinander konfrontierten. Will man etwas aus der Nähe betrachten, setzt man sich freilich zwei Gefahren aus, die beim Phänomen der Gewalt besonders groß sind. Entweder verfälscht Voyeurismus die Befunde des Beobachters, oder er verliert ob zu großer Nähe die Distanz und wird Teil des Phänomens. Noch bevor wir uns dem gestellten Thema überhaupt annähern konnten, suchte die Gewalt unser Projekt heim. Am Tagungsort sprengte eine Selbstmordattentäterin ein gutbesuchtes Lokal in die Luft. Einundzwanzig Tote waren zu beklagen. Wollte man den Palästina-Israel-Konflikt als einen Streit unter Nachbarn darstellen, würde schon dieses konkrete Ereignis in Haifa die Begrenztheit einer solchen Erklärung aufzeigen. Denn die gemeinsamen Inhaber des Restaurants waren eine jüdische und eine palästinensisch-israelische Familie, deren Angehörige dem Attentat zum Opfer fielen. Gewalt, so war mit Händen zu greifen, hält sich nicht an die vermeintlich klaren Linien ethnischer oder religiöser Zuordnung.
Wie vital das Interesse der Eingeladenen war, zeigte sich daran, daß fast alle die Reise nach Haifa antraten, wofür wir uns an dieser Stelle bedanken möchten. Unser Dank gilt zudem der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, die das Symposion mit ermöglicht hat. Nach zwei Tagen aufmerksamen Zuhörens und intensiver Diskussion, nachdem verschiedene historische wie aktuelle Fallbeispiele vorgestellt worden waren, zeigte sich, daß es keine einfache Synthese geben kann. Dazu ist die Eigendynamik der Fälle zu groß, dazu sind die kulturellen Prägungen zu unterschiedlich, dazu liegen die Zeiten und Räume zu weit auseinander.»Nachbarschaft« ist noch keine systematisch in die Gewaltdebatte integrierte Dimension. Zwei Ebenen lassen sich immerhin unterscheiden: Nachbarschaft kann ihrerseits strukturell zur Gewalt beitragen – bestimmte Konflikte etwa um Grenzziehungen oder Grenzüberschreitungen entstehen in ihrer Mitte und aus ihr heraus. Nachbarschaft kann aber auch als Austragungsort politischer und sozialer Konflikte genutzt werden. Dann bedient man sich der Nachbarschaftssituation, denn hier treffen die Leute schließlich aufeinander. Die grundsätzlich doppelte Dynamik lokaler Gewalt wird auch in den verschiedenen Beiträgen dieses Heftes thematisch. In Situationen der Gewalt werden Zuordnungen vorgenommen und Solidaritäten gestiftet. Entlang neuer Linien werden Nachbarschaften rekonstruiert, Identitäten durch Terror und Zwangssolidarisierungen aufgezwungen. Anläßlich von Ausbrüchen extremer Gewalt, von Revolutionen, Kriegen, Pogromen, Vertreibungen und Terrorakten entstandene Identifizierungen neigen zur Dauerhaftigkeit. Sie mauern sich im Gedächtnis ein und die erinnerte Geschichte wird zum moralischen Postulat für zukünftiges Handeln. Wer unter solchen Bedingungen eine Wiederherstellung des status quo ante, sei es auch unter dem normativen Bezug auf die Menschenrechte, verlangt und die Rückkehr zu den vorherigen, (scheinbar) friedlichen nachbarschaftlichen Verhältnissen erzwingen will, erzeugt eventuell neue Gewalt (und mag naiv handeln). Unter Berufung auf historisches Unrecht wird die Wiederherstellung eines historisch gewordenen Rechts verlangt, das ein aktuelles Unrecht bedeuten würde.
Beiträge zum Thema:
Ulrich Bielefeld: Gewalt, Nachbarschaft und Staat. Eine Soziologie lokaler Gewalt
Yfaat Weiss: Wenn der Nachbar von einst an deine Tür klopft
Stefanie Schüler-Springorum: »Sei still oder hau ab!« Nachbarschaften im Baskenland
Elazar Barkan: Rückführung von Flüchtlingen – Brückenschlag über ethnische Klüfte? Ein Vergleich
Michael Wildt: »Wir wollen in unserer Stadt keine Juden sehen.« Antisemitismus und Volksgemeinschaft in der deutschen Provinz
Jan Philipp Reemtsma: Nachbarschaft als Gewaltressource
Weitere Aufsätze:
Bernd Greiner: John F. Kerrys Schweigen
In der Literaturbeilage:
Werner Konitzer: Die mosaische Unterscheidung. Zwei Erzählungen zur Erklärung antisemitischer Affekte
Wolfgang Kraushaar: Aus der Protest-Chronik