Eine fast vergessene Sozialfigur ist auf die politische Bühne zurückgekehrt: der Renegat. Während sich in vielen Debatten die Fronten verhärten, erfreut sich die Selbsterzählung vom heroischen Wechsel der Seiten großer Beliebtheit. Die aktuelle Ausgabe des „Mittelweg 36“ widmet sich dieser Figur, ihren Auftritten und Inszenierungen und damit einem aktuellen Modus politischer Ab- und Ausgrenzungen.
Carolin Amlinger, Nicola Gess und Lea Liese verstehen den Renegaten als politische Kippfigur, die einer antagonistischen wie liminalen Logik gehorcht. Nach einem kurzen historischen Abriss widmen sich die Heftherausgeberinnen in ihrem Editorial den Charakteristika gegenwärtiger Renegatenerzählungen. Dass politische Konversionserzählungen eine Möglichkeit der Selbstpositionierung darstellen – wenn auch nicht die dominante oder gar einzige –, ist die These des Beitrags von Julian Müller. Er versteht den politischen Konvertiten „als Fürsprecher seiner selbst“. Philipp Felsch ordnet derzeitige und frühere Konversionsphänomene in die Geschichte der Intellektuellen ein: „Seit ihren historischen Anfängen scheint die mehr oder weniger lautstark vollzogene Kehrtwende ein integraler Bestandteil der Sozialfigur des Intellektuellen zu sein.“ Im Interview mit dem Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich sprechen Carolin Amlinger und Nicola Gess unter anderem über die Kunstszene in der DDR, die nostalgischen Tendenzen der Neuen Leipziger Schule und die Instrumentalisierung der Kunstfreiheit: „… eine solche, nahezu unbeschränkte Freiheit ist auch der Wunschtraum aller Rechten“. Mit den „Ursprüngen und dem langen Nachhall der neokonservativen Renegatenpoetik“ befasst sich Adrian Daub. Er untersucht Campusromane, die für eine Literarisierung von akademischen Abnabelungsgesten sorgen. Wie kommt es, dass „gerade in Epochen verstärkter politischer Lagerbildung, in denen die Positionen miteinander unvereinbar geworden zu sein scheinen, gehäuft ein Akteurstypus auftritt, dessen Werdegang diese Unvereinbarkeit gewissermaßen durchkreuzt“? Albrecht Koschorke beantwortet diese Frage in seinem Aufsatz „Lechts und rinks“ durch vier einander ergänzende Zugangsweisen: Narrative, Semantiken, Positionierungen und sozialstrukturelle Determinanten. Auch Astrid Séville begreift Renegatentum als Narrativ, genauer: „als politische Pose im Rechtspopulismus“. Ausgangspunkt ist dabei die parasitäre Position der Populist:innen in der Demokratie, die sich zwar innerhalb des Systems bewegen (müssen), allerdings mit der festen Absicht, selbiges zu unterminieren. Für diesen Balanceakt, so Sévilles These, „ist die Pose des Renegaten besonders geeignet“.
In unserer Rubrik „Ortstermin“ lädt der Soziologe Dirk Baecker zu einem Rundgang durch die „Universität Bielefeld“ ein, die – vermutlich nicht nur für Baecker – unweigerlich mit dem Namen Niklas Luhmann verknüpft ist. Baecker, selbst Promovent bei Luhmann, berichtet von der Atmosphäre in den Kolloquien, auf den Fluren, Gängen und Treppen der Reformuniversität.