Das doppelte Tabu, mit dem das öffentliche Reden über sexuelle Gewalt lange Zeit belegt war, zerbröckelt zusehends. Die Debatte über die sexuellen Übergriffe in der Kölner Silvesternacht 2015/16 oder die globale #MeToo-Kampagne sind nur zwei besonders prominente Beispiele für die verstärkte Aufmerksamkeit, die das Thema in den letzten Jahren erfährt. In der gesellschaftlichen wie in der wissenschaftlichen Diskussion dominieren allerdings nicht selten vereinfachende Zuschreibungen und Gegensätze, wie der zwischen einvernehmlichem Sex hier und lustfreier Gewalt dort, zwischen einer vermeintlich gewaltlosen Normalität und ihrer unmoralischen, extralegalen Überschreitung. Demgegenüber eröffnen die soziologisch informierten Beiträge des aktuellen Themenheftes Grauzonen. Über sexuelle Gewalt einen Blick auf komplexe Verhältnisse und ambivalente Interaktionen, die sich eindeutigen normativen Wertungen entziehen und etablierte Sichtweisen in Frage stellen.
Das übergreifende Interesse, das schwierige Beziehungsgeflecht von Gewalt und Sexualität, Geschlecht und Macht begrifflich und theoretisch fassbar zu machen, formuliert Laura Wolters im »Editorial«. Worauf wir uns einlassen, wenn wir uns in dem unwegsamen Gebiet zwischen den Polen explizit konsensueller Sexualität und gewaltsamer Nötigung bewegen, legt Ann J. Cahill mit »Unrechter Sex« dar. Daran anschließend analysiert Laura Wolters in »Und bist du nicht willig…« sexuelle Gewalt als eine spezifische Form von Verletzung, die auf die Übermächtigung von Körpern zielt und sie mit Scham belegt. »Too white, too straight, too rich« lautet die kritisch-sympathisierende Bilanz der #MeToo-Debatte, die Greta Olson im Gespräch zieht. Sodann wirft Sebastian Winter einen psychoanalytisch geschulten Blick auf die bereits früh einsetzende Sozialisation, durch die Männer Weibliches »Verdrängen, um zu herrschen«. Gaby Zipfel zeigt, dass aller Utopien von »Liberté, Egalité, Sexualité« zum Trotz, Gewalt und Sexualität keine Gegensätze sind, sondern zahlreiche Berührungspunkte und Verbindungslinien aufweisen. Extreme Formen der visuellen Inszenierung von Sex und Gewalt untersucht schließlich Pascal Eitler, der in »Die Hölle der Lust« die Brutalisierung der Pornografie in den 1970er- und 1980er-Jahren rekonstruiert.
In der »Protest-Chronik« erinnert Wolfgang Kraushaar an den Studenten Jan Palach, der sich zu Beginn des Jahres 1969 aus Protest gegen den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei und die Niederschlagung des Prager Frühlings selbst verbrannte.