Was ist die Moderne? Fragt man die Sozialwissenschaften, erhält man nicht eine, sondern viele Antworten, die einander zudem noch widersprechen. Von ihren Bannerträgern als Epoche des Fortschritts begrüßt, erscheint sie ihren Kritikern als Zeitalter des Niedergangs und des Verfalls. Wieder andere sehen in ihr keinen historischen Zeitraum, sondern ein unvollendetes Projekt, das es – je nach dem normativen Standpunkt des Betrachters – wahlweise zu vollenden oder zu verabschieden gilt. Doch während die einst von ihren Propheten vollmundig verkündete Postmoderne bereits wieder zur Erinnerung verblasst ist, ziehen die uneingelösten Versprechen der Moderne die Menschen auch heute noch in ihren Bann. Offenbar werden wir mit der Moderne ebenso wenig fertig wie sie mit den Problemen, zu deren Überwindung sie einmal angetreten war, allen voran das Problem der Gewalt. Ausgehend vom Wechselspiel zwischen »Verheißung und Ernüchterung« loten die Beiträge im aktuellen Heft des Mittelweg 36 die »Ambivalenzen der Moderne« aus und werfen einen Blick auf die Licht- und Schattenseiten eines Phänomens, das mehr als einen Anfang, aber scheinbar kein Ende hat.
Zu Beginn nimmt Jan Philipp Reemtsma in »Der blinde Fleck« das komplexe Zusammenspiel von Selbstverständnis, Legitimationsrhetorik und Gewaltwahrnehmung heutiger Gesellschaften in den Blick und fragt, wie es kommt, dass deren Bewohner sich zuverlässig über das Ausmaß und die Wirklichkeit der Gewalt in der Moderne und das ihr eigene Vernichtungspotenzial täuschen. Anschließend plädiert Svenja Goltermann »Für eine andere Geschichte der Gewalt im 20. Jahrhundert« , die der Ausweitung des Gewaltverständnisses auf psychische, emotionale, sprachliche und symbolische Akte Rechnung trägt und die gesellschaftlichen Folgen einer derart gesteigerten Sensibilität für Phänomene privater Gewalt erörtert. »Die Epoche, die es nicht gab«, ist der paradoxe Gegenstand des Beitrags von Wolfgang Knöbl, dem zufolge wir es bei der Moderne mit einem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfundenen essentially contested concept zu tun haben, das mit wechselnden normativen Vorzeichen in diskursiven Auseinandersetzungen zum Einsatz kommt, um Aufmerksamkeit für Themen und Agenden zu erzeugen. Unter Rekurs auf evolutionstheoretische Ansätze in den Sozialwissenschaften schlägt schließlich Michael Geyer in »Die Welt als Ereignis« vor, Moderne nicht als einen linearen Prozess, sondern als ein zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten mögliches disruptives Ereignis zu denken, das die Chance zu einem anderen Weltverständnis und einer von unseren bisherigen Gewohnheiten und Erwartungen radikal verschiedenen Zukunft eröffnet.