Im Mai 2021 hat das Hamburger Institut für Sozialforschung zum dritten Mal den Siegfried-Landshut-Preis verliehen und mit ihm die US-amerikanische Historikerin Isabel V. Hull geehrt. Ihr ist das aktuelle Heft des »Mittelweg 36« gewidmet. Es versammelt Beiträge über »Gewalt, Krieg, Recht« zur Zeit des Wilhelminischen Kaiserreichs, über dessen Geschichte deutsche Historiker: innen seit Monaten heftig streiten. Isabel Hull nähert sich ihren Themen jenseits der ausgetretenen Pfade. Sie sei, so die Laudatorin Rebekka Habermas, im doppelten Sinn „wagemutig“: weil sie sich immer wieder ungewöhnliche, vernachlässigte Fragen stellt und weil sie sich überraschender Methoden bedient. Von Hulls intellektueller Neugier und von ihrer Genauigkeit können gegenwärtige Debatten profitieren. Der »Mittelweg 36« stellt die vielfach ausgezeichnete und häufig zitierte Historikerin erstmals einem größeren Publikum vor.
In ihrer ersten Landshut-Lecture zeigt Isabel Hull, warum ausgerechnet das »Völkergewohnheitsrecht für Historiker« ein aufschlussreicher Forschungsgegenstand sein kann – ja, sein sollte. „Es ist von entscheidender Bedeutung, um die internationalen Beziehungen im Allgemeinen und wichtige Fragen wie die von Krieg und Frieden im Besonderen zu verstehen.“ Was war in einem Europa „am Siedepunkt“ im zwischenstaatlichen Verkehr völkerrechtlich erlaubt, fragwürdig oder verboten? Diese Frage stellt Hull ins Zentrum ihrer zweiten Landshut-Vorlesung – »Krieg und Frieden im Jahr 1913. Das Völkerrecht während der Balkankriege«. Ihre vorläufige Antwort macht vor allem eines deutlich: Ein legitimer Krieg in Europa unterlag bereits damals zahlreichen Beschränkungen. Das erstmals ins Deutsche übersetzte Kapitel über »Standardpraktiken« – ein Auszug aus ihrem Buch »Absolute Destruction« – untersucht die militärische Kultur zwischen 1870 und 1914. Hull analysiert die spezifisch deutsche Kriegsführung in den Kolonien des Kaiserreichs und zeigt, welchen Anteil militärische Schwäche und Routinen an der Eskalation des Krieges bis hin zum Genozid an den Herero und Nama hatten. Für die Sonderwegsthese habe sie sich nie interessiert, sagt »Isabel Hull im Gespräch« über ihre Arbeit als Historikerin. Sie versuche, ihre Irritationen durch Forschung zu bearbeiten. Dabei erfahre man „Entmutigendes über Menschen und ihren Charakter, aber auch Erhebendes und Erstaunliches. Und man behält dabei im Auge, was bestimmte Entwicklungen und Ereignisse ermöglicht oder verhindert hat.“