Die Juni/Juli-Ausgabe des »Mittelweg 36« hat zwei thematische Schwerpunkte:
Der erste Schwerpunkt fragt nach dem Verhältnis zwischen Literatur und Erinnerungspolitik.
Thomas Medicus
Im Archiv der Gefühle. Tätertöchter, der aktuelle »Familienroman« und die deutsche Vergangenheit
(Summary: The author examines the »family novel« as a uniquely German phenomenon and a term that, in recent years, has come to refer to representations of the history of the Nazi period from the perspective of a collective family biography. The essay notes that the majority of such memory books published in the past two years focus on father-daughter constellations authored by second-generation women writers. Using the term family romance in its psychoanalytical sense, the author argues that, rather than narrating family history, these books represent emotional archives. The indissoluble intimate relationship to a perpetrator father rescues genealogical origins and satisfies the current need for family narratives.)
Jan Philipp Reemtsma
Erinnerung vergemeinschaften. Ein kurzes Gespräch über Nachteile der Geschichtsschreibung
(Summary: This third text focusing on rituals of memory and commemoration in contemporary Europe and shifts in the roles assigned to or assumed by historiography takes the form of a fictitious dispute between two individuals.)
Bedenke die Form!
Der amerikanische Politikwissenschaftler Tom Lampert im Gespräch mit Heinz Bude und Thomas Medicus
(Summary: American political scientist Tom Lampert is the author of One Life, a reconstruction of the lives of eight people in Nazi Germany, which was first published in German and defies the usual distinctions between scholarly analysis and literary narrative. Archives and adjectives, memory and commemoration are key elements in this discussion of Lampert’s transdisciplinary approach.)
Der zweite Schwerpunkt stellt Pierre Bourdieus erste Schritte in die Sozialwissenschaften in einer umfangreichen Literaturbeilage vor.
Es geht um die Metamorphose eines Pariser Elitestudenten vom Philosophen zum Soziologen, darum, wie ihn die Konfrontation mit dem Algerienkrieg zu einer ethnologischen Feldarbeit animiert, die Weichen für seinen weiteren intellektuellen Weg stellen sollte. Dabei heben die Beiträge von Christine Frisinghelli, Franz Schultheis, Ulf Wuggenig und Berthold Vogel auf bisher gerne übersehene Facetten von Pierrre Bourdieu in Algerien ab, die prägend sowohl für sein Verständnis der Rolle des Intellektuellen gewesen sind, als auch bahnbrechend für Bourdieus Aufgabenbestimmung einer der Aufklärung verschriebenen Soziologie. Nicht zuletzt Bourdieus Entdeckung der Fotografie als einem Instrument der Feldforschung, die hier durch selten veröffentlichte Aufnahmen dokumentiert werden, spielt für diese Auseinandersetzung mit einem der wichtigsten Gesellschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts eine herausragende Rolle.