Vor dreißig Jahren, am 7. Februar 1992, unterzeichnete der Europäische Rat im niederländischen Maastricht den Vertrag über die Europäische Union. Der sogenannte Vertrag von Maastricht war der bis dato größte Schritt in Richtung europäische Integration und löste in einigen Staaten starken Protest aus. In der Forschung gilt der Maastrichter Vertrag als Zäsur: Schienen vor 1992 noch die meisten Bürger:innen der europäischen Länder pro Europa zu sein, so regte sich mit und nach Maastricht offensichtlicher Widerstand gegen das Projekt Europa. Die Skepsis wuchs, Konflikte verschärften sich. So stellen sich seit Maastricht neue Fragen zur Gegenwart und Zukunft der europäischen Einigung – und auch zu ihrer Geschichte. Ihnen widmet sich das neue Heft des „Mittelweg 36“: Es hinterfragt die Narrative zur „Havarie Europa“.
Einleitend stellt Philipp Müller Perspektiven und Erklärungsmodelle bisheriger Studien zur „Euroskepsis in kritischer Betrachtung“ vor. Er kritisiert deren dichotome Herangehensweise, denn „es ist keineswegs selbstverständlich, Positionierungen in diesen Konflikten auf prinzipielle Zustimmung oder Ablehnung hochzurechnen“. Der Verfassungsrechtler Christoph Möllers untersucht in seinem Beitrag die „Institutionellen Bedingungen sogenannter EU-Skepsis“, die es Bürger:innen wie Politiker:innen nahelegen, die EU als solche infrage zu stellen. Dass der Widerstand gegen die europäische Integration keineswegs erst mit dem Vertrag von Maastricht aufkam, sondern dass sich die Europäische Union von Beginn an „Auf dünnem Eis“ befand, zeigt Kiran Klaus Patel. Zwar vermittelten die Meinungsumfragen der ersten Jahrzehnte nach dem Krieg eine breite Zustimmung, dies lag Patel zufolge jedoch vor allem an den auffallend deutungsoffenen und abstrakt formulierten Fragen. Zur „Historisierung des ›Euroskeptizismus‹“ schlägt Wolfram Kaiser vor, die Geschichte der europäischen Integration „als konfliktreiche, von kontroversen politischen Debatten begleitete Herausbildung eines transnationalen Gemeinwesens mit wachsender Institutionalisierung“ aufzufassen. Wege und Ziele waren immer umstritten, zum größten Zankapfel der jüngsten Zeit wurde die gemeinsame Währung. „Whatever It Takes?“, fragen Deborah Mabbett und Waltraud Schelkle und referieren damit auf das inzwischen geflügelte Wort des ehemaligen Chefs der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, mit dem er 2012 die unbedingte Rettung des Euro ankündigte. Dabei war der Handlungsspielraum der EZB spätestens seit der Finanzkrise von 2008 durch das wechselseitige Misstrauen der nationalen Regierungen stark eingeschränkt, wie Mabbett und Schelkle in ihrem Beitrag argumentieren. Agnieszka Łada-Konefał skizziert „Polens Verhältnis zur EU“, zwischen proeuropäischer Stimmung und „Vaterlandstreue“.
Mit dem vorliegenden Heft beginnt unsere neue Kolumne „Ortstermin“. Darin schreiben Autor:innen und Wissenschaftler:innen verschiedener Disziplinen über Orte des Alltags. Den Anfang macht die Schriftstellerin Annett Gröschner, die unter anderem davon berichtet, wie sie sich „Kafka im Freibad“ vorstellte.