EDITORIAL von Winfried Schulze
"Die Geschichte ist nicht das alleinige Besitztum der Historiker." Diesen apodiktischen Satz formulierte der französische Anwalt Arno Klarsfeld im Januar 2006 in seinem Gutachten für Staatspräsident Chirac über die Frage der Zulässigkeit so genannter "lois mémorielles", Gesetzen also, in denen bestimmte Erinnerungstatbestände von staatlicher Seite festgeschrieben werden. Der erste Beitrag dieses Heftes, das dem Problem der "Erinnerungsgeschichte" gewidmet ist, beleuchtet den Diskurs über die Angemessenheit solcher Gesetze, die sich in unserem Nachbarland seit Beginn der 90er Jahre gehäuft haben. Das Zitat macht aber auch deutlich, dass eine wesentliche Konfliktlinie der letzten Jahre dort verläuft, wo die Erinnerungen von Individuen oder gesellschaftlichen Gruppen mit den Ergebnissen der historischen Forschung nicht in Einklang zu bringen sind. Dieser Widerspruch ist zunächst einmal ganz normal, denn notwendigerweise besteht zwischen der begrenzten Erinnerung des Einzelnen oder einer Gruppe und der komplexen historischen Aufarbeitung eines Sachverhaltes eine Differenz, die erst im Laufe von Generationen überwunden werden kann. Dieser Konflikt kann ausgehalten werden, wenn sich private Erinnerungen und wissenschaftliche Aufarbeitung in einem offenen diskursiven Kontext begegnen. Problematisch wird diese Situation freilich dann, wenn Staaten den Versuch unternehmen, bestimmte Deutungen der Vergangenheit gesetzlich festzuschreiben oder gar mit Strafandrohungen durchzusetzen.
Wenn Geschichte denn nicht das alleinige Besitztum der Historiker ist - und wer wollte die Richtigkeit dieses Satzes bezweifeln -, dann ist die Frage aufgeworfen, in welchen Formen sich interessierte gesellschaftliche Gruppen und Historiker über die Bewertung historischer Sachverhalte auseinandersetzen können. Ein vorzügliches Exempel dafür ist der Disput über die Bewegung, die - nicht ganz zutreffend - alleine mit der Jahreszahl "1968" bezeichnet wird. Hier kollidieren Erinnerungspartikel und Deutungsversuche einzelner Beteiligter mit anderen Interpretationen, die dieser Bewegung ihre Legitimität absprechen wollen, aber auch mit jenen, die inzwischen von fachwissenschaftlicher Seite vorgetragen worden sind. Der Beitrag von Silja Behre unternimmt den Versuch, die Deutungen, die zwischen 1977 und 2008 erschienen sind, im Kontext ihrer Rahmenbedingungen genauer zu analysieren. Ergänzend dazu ermöglicht der Baustein-Beitrag von Joachim Rohlfes die unterrichtliche Auseinandersetzung mit den politischen Vorstellungen von Rudi Dutschke, einer Symbolfigur der Studentenbewegung. Dass Erinnerungen auch heute immer noch bestimmten Stereotypen folgen, ist hinlänglich bekannt und bekümmert jene Zeitgenossen, die sich auf die Wirkung aufklärender Informationen verlassen möchten. Gerade die Wahrnehmung der jüngeren deutschen Vergangenheit in den westeuropäischen Ländern zeigt, welche beachtliche Konstanz der Vorurteile hier festzustellen ist. Insofern ist das Schulprojekt, über das Jobst-H. Homeier berichtet, besonders lohnend: Die Begegnung deutscher und englischer Schüler auf einer gemeinsamen Exkursion zu den flandrischen Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges scheint ein erfolgreicher Versuch zu sein, um tradierten Vorurteilen erfolgreich zu Leibe zu rücken.
Alle Beiträge dieses Heftes unterstreichen die offensichtlich noch wachsende Bedeutung von Erinnerungsleistungen für das Selbstverständnis moderner Gesellschaften. Insofern erstaunt es nicht, wenn die neuere theoretische Diskussion unseres Faches sich immer stärker dem Feld von Erinnerung und Geschichte zuwendet.
----------
INHALT
ABSTRACTS (S. 362)
EDITORIAL (S. 363)
BEITRÄGEWinfried Schulze Erinnerung per Gesetz oder "Freiheit für die Geschichte"? (S. 364) Abstract
BAUSTEINE FÜR DIE UNTERRICHTSPRAXIS
Joachim Rohlfes Rudi Dutschke (S. 411)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Gregor Horstkemper/Alessandra Sorbello Staub Erinnerungen an 1968 Ein Epochenjahr aus vierzig Jahren Abstand (S. 425)
BERICHTE UND KOMMENTARE
Christine Pflüger/Christian Segger Historische Kompetenzen und Museen Tagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik (S. 427)
LITERATURBERICHTChristoph Willms Ur- und frühgeschichtliche Archäologie (S. 435)
NACHRICHTEN (S. 446)
AUS DEM VERBAND DER GESCHICHTSLEHRER Peter Lautzas Gespräch mit dem Islam (S. 454)
ABSTRACTS
Winfried SchulzeErinnerung per Gesetz oder "Freiheit für die Geschichte"?GWU 59, 2008, H. 7/8, S. 364-381 Der Beitrag unternimmt den Versuch einer vergleichenden Bewertung europäischer Erinnerungsgesetze, in denen bestimmte historische Tatbestände als erinnerungswürdig festgeschrieben werden bzw. ihre Leugnung unter Strafe gestellt wird. Das Spektrum reicht vom deutschen Gesetz über die sog. "Auschwitzlüge" über eine Serie französischer "lois mémorielles" bis zum Versuch der europäischen Justizminister, eine einheitliche europäische Regelung zu erreichen. Der Beitrag wirft schließlich mit dem Blick auf fehlende Regelungen in den Vereinigten Staten die Frage nach der angemessenen Reaktion demokratischer Gesellschaften auf solche Erinnerungstatbestände auf.
Silja BehreVom Erinnern und VergessenRückblicke auf 1968 von 1977 bis 2008 GWU 59, 2008, H. 7/8, S. 382-396 Auf dem Höhepunkt einer neuerlichen Debatte um die Deutung von "68" stellt der Beitrag die Frage nach der historischen Genese der Erinnerung an "68", ihren Rahmenbedingungen, Trägern und Mechanismen. Ausgehend von einem stetig wachsenden Quellenkorpus untersucht er die Darstellungen und Interpretationen der 68er-Bewegung in autobiografischen Dokumenten und Rückblicken, die anlässlich der Jubiläumsjahre zwischen 1977 und 2008 erschienen sind. Geleitet von der Prämisse, dass die Rekonstruktion der Erinnerung an gegenwärtige Interessen gebunden ist, betrachtet er in einer diachronen Perspektive die sich in den Quellen widerspiegelnden, wandelnden Deutungen der Bewegung in ihrem zeitgeschichtlichen Entstehungskontext. Dabei liegt ein besonderer Schwerpunkt auf der Analyse der auf dem Feld der Erinnerung an "68" herrschenden Deutungskonkurrenz, ausgetragen zwischen ehemaligen Akteuren, aber auch deren Kritikern und der Medienöffentlichkeit. Die seit dem Ende der Proteste anhaltende Konkurrenz um die Deutung der 68er-Bewegung gibt nicht nur Aufschluss über die Funktionsweise kollektiver Erinnerungsstrukturen, sie ist - wie der Beitrag zeigt - auch Teil einer Debatte über das Selbstverständnis der Bundesrepublik.
Jobst H. HomeierUnterricht überschreitet GrenzenProjekt zur Friedenserziehung am Thema Erster Weltkrieg GWU 59, 2008, H. 7/8, S. 397-410 Deutsche und englische Schülerinnen und Schüler erarbeiten sich projektartig und produktorientiert in englischer Sprache gemeinsam das Thema Krieg und Gewalt im Verlauf einer Exkursion auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs und beim Besuch von Museen, Gedenkstätten und Soldatenfriedhöfen. Der Beitrag bietet Erfahrungen aus der mehrfachen Durchführung einer Klassenfahrt nach Belgien mit konkreten Tipps zu Vorbereitung, Planung, Programm und Durchführung dieser Fahrt einschließlich nützlicher Anschriften und Telefonnummern. Die Hinweise für die Gegend um Ypern/Westflandern lassen sich auch auf mögliche Exkursionen an die Somme oder nach Verdun übertragen. Schließlich werden Möglichkeiten zur Beteiligung deutscher Schüler an der Gestaltung der Schulfeier einer englischen Schule zum "Remembrance Day" geschildert.