Editorial von Peter Burschel
Wer heute fragt, was nach dem „Cultural Turn“ komme, erhält zumeist die Antwort, dass es wohl der „Economic Turn“ sein werde. Was aber heißt das genau? Wie kann ein Comeback der Wirtschafts- und Sozialgeschichte aussehen? Und was bedeutet das für die Kultur und deren durchaus nachhaltige Konzeptionalisierungen? Die Beiträge des vorliegenden Heftes gehen diesen Fragen nach, indem sie die ökonomische, soziale und politische Praxis des „Nehmens“ im Mittelalter kulturgeschichtlich perspektivieren und dabei die Umrisse einer Anthropologie von Wirtschaft sichtbar werden lassen: ob als kriegerischer Menschenraub, beglaubigte Güterübertragung oder hochadelige Abgabenerhebung. „Nehmen“ wird dabei nicht nur als Umkehrung von „Geben“ verstanden, als negative Gegenseitigkeit, sondern auch als dessen radikales Gegenteil im Sinne von Alain Caillé. Die Beiträge versuchen zugleich, den Akt des „Nehmens“ – der deutlich schwächer untersucht ist als der Akt des „Gebens“ – genauer zu analysieren, um dessen symbolisches, kommunikatives und nicht zuletzt auch performatives Potential zu bestimmen.
Nach der Einführung von Jan Rüdiger, die neben methodischen auch etymologische Akzente setzt, fragt Lucas Burkart jenseits tradierter Asymmetrievorstellungen am Beispiel der „Decem Libri Historiarum“ Gregors von Tours nach den Interaktionen, nach der labilen Balance zwischen „Geben“ und „Nehmen“ in frühmittelalterlichen Königsherrschaften. Sein Ergebnis: Selbst gewaltsames „Nehmen“ konnte gottgefällig sein, wenn das „Geben“ im Geiste der „caritas“ erfolgte. Michael Jucker legt die komplexen mikroökonomischen Zusammenhänge zwischen Kreditnahme, Beutepraxis und städtischen Kriegsfinanzen im späten Mittelalter frei, indem er vor allem Beutelisten auswertet. Jucker kann zeigen, wie nachhaltig Beuteökonomien die sozialen Schuldbeziehungen und damit auch die städtische Wirtschaft prägten. Ulla Kypta versucht am Beispiel der „Abhörungen“ – mündlicher Verhandlungen zwischen den Beratern des Königs auf der einen Seite und den Sheriffs und Schuldnern auf der anderen – quellennah nachzuweisen, dass königliches „Nehmen“ im England des 12. Jahrhunderts als „bürokratisch“ bezeichnet werden kann, weil es schriftgestützt, regelmäßig und einigermaßen unabhängig vom Herrscher stattfand. Kypta ermöglicht auf diese Weise zudem Einblicke in die historische Genese von Ent- bzw. Depersonalisierungsprozessen „staatlichen Nehmens“. Gregor Rohmann rekonstruiert auf breiter Quellengrundlage Formen „legaler“ Gewalt- und Beuteökonomie im spätmittelalterlichen Hanseraum, Formen, die von der Mobilisierung ganzer Flotten über Handelsblockaden bis hin zu Pirateriebekämpfung reichten. Kaufleute, Städte und Fürsten konnten dabei beides sein: Gewaltakteure und Auftraggeber professioneller Gewaltdienstleister. So kann Rohmann nachweisen, dass sich vor allem die hansischen Fernhandelskaufleute mit der „kommerziellen Revolution“ des 14. Jahrhunderts von reisenden (und kämpfenden) Abenteurern in sesshafte Manager verwandelten, die von ihren Schreibstuben aus reisen (und kämpfen) ließen. Juliane Schiel schließlich nimmt den spätmittelalterlichen Sklavenhandel der Republik Venedig in den Blick, um den Prozess der „Sklavennahme“ minutiös zu verfolgen: vom Akt der „Wegnahme“ über den Akt der „Übernahme“ bis hin zum Akt der „Inbesitznahme“. Schiel betont, dass diese Akte des „Nehmens“ in komplexe Tauschprozesse „eingeschrieben“ waren, die eine aristokratische Kaufmannskultur des wechselseitigen Gebens und Nehmens sichtbar werden lassen. Eine Kaufmannskultur als System „totaler Leistungen“ im Sinne Marcel Mauss.
Schiel verweist damit zugleich auf die Perspektiven einer kulturanthropologischen Deutung ökonomischer Interaktionen. „Nehmen“, das wird hier ganz deutlich, erscheint vor diesem Hintergrund als eine Praxis sui generis, die wie das „Geben“ stets aufs Ganze geht.
INHALT DER GWU 9–10/2014
ABSTRACTS (S. 522)
EDITORIAL (S. 524)
BEITRÄGE
Jan Rüdiger Eine Geschichte mittelalterlichen Nehmens. Zur Einführung (S. 525)
Lucas Burkart „Geben ist seliger denn nehmen“. Zur Asymmetrie politischer Ökonomik in frühmittelalterlichen Königsherrschafte (S. 540)
Michael Jucker Objektraub und Beuteökonomien. Methodische Überlegungen zu Wirtschaftsformen im Krieg des Spätmittelalters (S. 548)
Ulla Kypta Bürokratische Routinen. Wie im 12. Jahrhundert die Einnahmen des englischen Königs erhoben und verbucht wurden (S. 563)
Gregor Rohmann Wegnehmen, Verhandeln, Erstatten. Politischer Alltag im Hanseraum um 1400 (S. 574)
Juliane Schiel Sklavennahme in der Seerepublik Venedig. Praktiken und Semantiken des Nehmens im spätmittelalterlichen Menschenhandel (S. 586)
Felix Konrad Reisen in die Vergangenheit und in die Moderne. Tourismus in Ägypten und die Eröffnung des Suezkanals 1869 (S. 600)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Gregor Horstkemper Die Hanse im Netz. Online Materialien zur Wirtschafts-, Sozial- und Stadtgeschichte (S. 622)
LITERATURBERICHT
Raimund Schulz/Uwe Walter Altertum, Teil IX (S. 625)
NACHRICHTEN (S. 638)
AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 640)
ABSTRACTS DER GWU 9–10/2014
Jan Rüdiger Eine Geschichte mittelalterlichen Nehmens. Zur Einführung GWU 65, 2014, H. 9/10, S. 525 – 539
Der Cultural Turn hat seine 360° vollendet. Nun geht es – wohin? Unter dem Eindruck staatlich-ökonomisher Dauerkrisenhaftigkeit erweist sich eine kulturwissenschaftlich avertierte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zunehmend als Desiderat: „Wer wen?“ (Lenin) – und: wie? Für die Mittelaltergeschichte heißt das, Beuteökonomien neu zu untersuchen und den Akzent außer auf die materiellen Konsequenzen machtorientierter Ressourcenreallokation (Plündern, Horten, Schenken) auf den Vorgang des „Nehmens“ selber zu richten. Einleitend zu diesem Themenheft werden hier Forschungspfade zu einer Geschichte mittelalterlichen Nehmens skizziert.
Lucas Burkart „Geben ist seliger denn nehmen“. Zur Asymmetrie politischer Ökonomik in frühmittelalterlichen Königsherrschaften GWU 65, 2014, H. 9/10, S. 540 – 547
Gregor von Tours schildert das Handeln von Fürsten, die sich zusehends als Könige gerierten und verstanden. Der kluge Bischof schrieb Latein und damit seine Akteure in die Nachfolge Roms ein. Dabei bemerkt er, dass zur Herrschaft und ihrer dynastischen Wahrung nicht nur eine Ars donandi gehört, sondern Nehmen eine nicht minder tragende Rolle spielt. Zugleich orientiert sich Herrschaft bei Gregor aber nicht nur am antiken Rom, sondern auch am christlichen Gott, für den mit dem Bibelwort „geben seliger ist denn nehmen“. In königlichem Nehmen und seiner Wahrnehmung bei Gregor zeigt sich somit nicht nur eine Herrschaftspraxis, sondern auch, wie sich nach dem Untergang des römischen Imperiums Weltordnung und christliche Jenseitsvorstellungen gegenseitig durchdrangen und zusehends zu einem Kosmos verdichteten.
Michael Jucker Objektraub und Beuteökonomien. Methodische Überlegungen zu Wirtschaftsformen im Krieg des Spätmittelalters GWU 65, 2014, H. 9/10, S. 548 – 562
Plündern ist die gewaltsame Wegnahme oder Zerstörung von Objekten. Dieser Beitrag untersucht das Phänomen Kriegsbeute aus wirtschafts- und kulturhistorischer Perspektive im späteren Mittelalter. Die Wegnahme von Gütern war einerseits ein Recht des Siegers, andererseits stellten sich den Beutenehmern Probleme der Verteilung, der Kontrolle und der symbolischen wie ökonomischen Wiederverwendbarkeit von Beute. Die häufige Forschungsbehauptung, dass vor allem tiefergestellte und arme Krieger aus ökonomischen Gründen und aus Gier plünderten, wird in diesem Artikel relativiert. Anhand von bislang wenig ausgewerteten Beutelisten aus der Zeit der Burgunderkriege und der Siege der Eidgenossen gegen den Burgunderherzog Karl den Kühnen um 1476 zeigt der Beitrag methodologisch multiperspektivisch auf, dass Beuteökonomien facettenreich und häufig obrigkeitlich gewollt waren. Beute geraubt wurde nicht nur aus Armutsgründen. Beuteökonomien prägten die städtischen Ökonomien und sozialen Schuldbeziehungen nachhaltig.
Ulla Kypta Bürokratische Routinen. Wie im 12. Jahrhundert die Einnahmen des englischen Königs erhoben und verbucht wurden GWU 65, 2014, H. 9/10, S. 563 – 573
Im 12. Jahrhundert bestand im englischen Königreich eine Finanzverwaltung, die in vielerlei Hinsicht als bürokratisch bezeichnet werden kann: Sie arbeitete schriftgestützt, routiniert, regelmäßig und unabhängig vom König. Der Artikel schildert die Abrechnungsprozesse zwischen den königlichen Bediensteten und den Sheriffs und Schuldnern des Königs und legt dar, warum die Zeitgenossen zwar die Ausgestaltung des Systems kritisierten, nicht aber grundsätzlich die Legitimität des Königs in Frage stellten, Zahlungen von seinen Untertanen zu erhalten.
Gregor Rohmann Wegnehmen, Verhandeln, Erstatten. Politischer Alltag im Hanseraum um 1400 GWU 65, 2014, H. 9/10, S. 574 – 585
Die Schifffahrt im Hanseraum war latent durch Gewalt gekennzeichnet. In der Forschung wird diesbezüglich immer noch vornehmlich auf die sogenannten „Vitalienbrüder“ hingewiesen, die sich angeblich als „Kaperfahrer“ im mecklenburgisch-dänischen Krieg formiert und später als kriminelle „Seeräuber“ ihren Lebensunterhalt bestritten hätten. Bezieht man die Vielzahl anderweitiger zeitgenössischer Quellen mit ein, so erweist sich dieses Bild schnell als falsch: Güterwegnahme erfolgte noch nicht der territorialstaatlichen Logik der Kriegsführung und Kriminalitätsverfolgung folgend, sondern konnte auf verschiedene Arten legitimiert werden. Kaufleute, Städte und Fürsten waren immer auch selbst Gewaltakteure und Auftraggeber von professionellen Gewaltdienstleistern.
Juliane Schiel Sklavennahme in der Seerepublik Venedig. Praktiken und Semantiken des Nehmens im spätmittelalterlichen Menschenhandel GWU 65, 2014, H. 9/10, S. 586 – 599
In diesem Beitrag werden am Beispiel der Seehandelsmacht Venedig drei Momente der „Sklavennahme“ analysiert: der Akt der Versklavung („Wegnahme“), der Sklavenhandel („Übernahme“) und der Sklavenkauf („Inbesitznahme“). Das Nehmen von Sklaven war dabei in komplexe Tauschprozesse eingeschrieben, die sich teils nonverbal, teils verbal ereigneten, sich aber vom Moment der Ergreifung bis zur Inbesitznahme schriftsemantisch immer weiter ausdifferenzierten. Wurde die frühere Identität der versklavten Person zunächst gegen eine Beuteidentität eingetauscht, so wurde diese im Fernhandel um eine Reihe messbarer Kategorien erweitert und die Beute somit in ein Handelsgut verwandelt, bevor der neue Eigentümer im Kaufvertrag alle Besitz- und Verfügungsrechte übertragen bekam.
Felix Konrad Reise in die Vergangenheit und in die Moderne. Tourismus in Ägypten und die Eröffnung des Suezkanals 1869 GWU 65, 2014, H. 9/10, S. 600 – 621
Ägypten übt seit Beginn des 19. Jahrhunderts eine große Anziehungskraft auf Reisende aus europäischen Ländern aus. Dieser Beitrag bietet einen Überblick über die touristische Erschließung des Landes, die mit der Eröffnung des Suezkanals 1869 ihren ersten Höhepunkt fand. Er thematisiert die Suezkanaleröffnung als ein touristisches Ereignis, das die Wahrnehmung des Landes beeinflusste, und argumentiert, dass die Eröffnungsfeiern trotz der „Modernität“ des Suezkanals zur Festigung bestehender Vorstellungen von Ägypten als Hort einer alten Hochkultur und eines als malerisch wahrgenommenen „mittelalterlichen Orients“ beitrugen.