Geschichtsunterricht ist Fachunterricht. Fachliche Aspekte spielen auch im Lehramtsstudium (wenigstens für das Gymnasium) eine zentrale Rolle. Angehende Lehrkräfte sollen Forschungsansätze, Fragestellungen, Methoden, Begriffe, Gegenstände und inhaltliche Strukturierungen der Disziplin kennen und mit ihnen operieren können. Und das Studium soll sie dazu befähigen, auch später im Beruf fachlich auf dem Laufenden bleiben zu können. Darunter ist selbstverständlich nicht zu verstehen, dass man als Lehrkraft über den jüngsten Forschungsstand diverser historischer Subdisziplinen informiert sein sollte oder könnte. Vielmehr geht es darum, grundsätzliche Paradigmenwechsel, innovative Ansätze und neue oder modifizierte Deutungen relevanter historischer Themen wahrzunehmen. Nun ließe sich einwenden, dass das, worum es im Unterricht geht, von den Fragen und Erträgen der Forschung ohnehin meilenweit entfernt ist. Dennoch: Frei nach Reinhart Koselleck muss es eine Art Vetorecht der Forschung geben; im Unterricht sollte nichts vermittelt werden, was dem Stand der Forschung offenkundig widerspricht. Dazu bedarf es zuweilen einer Überprüfung und ggf. Revision: Gibt es Themen, bei denen sich der Forschungstand so verändert hat, dass Lehrkräfte in der Gestaltung ihres Unterrichts darauf reagieren sollten? Oder haben sich im Unterricht Routinen eingeschlichen, die sich von dem, was fachlich angemessen wäre, allzu weit entfernt haben? Über das, was „angemessen“ bedeutet – und wo dann das Vetorecht der Forschung zu greifen hätte –, wird man gewiss in jedem Einzelfall trefflich streiten können. Schließlich kann und soll Unterricht in der Tat nicht jeder Verästelung der Forschung, jeder Forschungsmode folgen. Und immer ist ein Transformationsprozess erforderlich, der aus Gegenständen und Ergebnissen der Forschung Themen und Inhalte des Unterrichts generiert. Dieser Prozess wird in der Regel als „didaktische Reduktion“ bezeichnet. Der Begriff ist insofern unglücklich, als er nahelegt, hier finde gewissermaßen nur eine maßstäbliche Verkleinerung statt. Es geht jedoch darum, den Gegenstand im Hinblick auf den gesamten Unterrichtskontext mit allen seinen Rahmenbedingungen zu denken, zu begründen und zu gestalten; deshalb sind „didaktische Modellierung“ oder „didaktische Konstruktion“ passendere Begriffe. Diese eigene Logik von Unterricht berücksichtigend befasst sich das vorliegende Heft mit einigen Standardthemen des Geschichtsunterrichts, bei denen inhaltliche Modifizierungen angeraten zu sein scheinen. Da die Praxis von Unterricht oder die Konzepte von Lehrkräften schwer rekonstruierbar sind, beziehen sich die Beiträge vielfach auf Schulbuchdarstellungen. Wolfgang Geiger kritisiert schiefe und stereotype Darstellungsweisen beim Thema Islam, von den religiösen Lehren bis hin zur politischen Organisation islamischer Herrschaft. Mit Verve plädiert Arnold Bühler für eine Verabschiedung von dem liebgewordenen, aber einseitigen und unterkomplexen Modell der Lehnspyramide und der Fixierung auf das Lehnswesen insgesamt. Ähnlich argumentieren Roland Bernhard und Jutta Wimmler beim Thema „Dreieckshandel“ – dieser sei ein Mythos, auf den der Geschichtsunterricht nicht länger zurückgreifen solle. Abermals Wolfgang Geiger beklagt eine deterministische Behandlung der Weimarer Republik: Sie sei, dieser schlichte Eindruck werde erweckt, von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Maria Rhode schließlich befasst sich mit der Nations- und Nationalgeschichte unseres Nachbarstaats Polen – einem Thema, das in zahlreichen deutschen Curricula präsent ist, zu dem aber Lehrkräfte in aller Regel nur wenig Hintergrundwissen besitzen dürften. Alle Beiträge realisieren mithin genau das, was der Untertitel dieser Zeitschrift signalisiert: Sie verknüpfen konstruktiv Geschichte in Wissenschaft und Unterricht.
Von Michael Sauer
INHALT
Abstracts (S. 114)
Editorial (S. 116)
Beiträge
Wolfgang Geiger„Ob Gott es wirklich wollte?“ Der Islam im Geschichtslehrbuch (S. 117)
Arnold BühlerKeine Lehnspyramide! Kein Lehnswesen! Plädoyer für eine Entrümpelung des Mittelalter-Unterrichts (S. 136)
Roland Bernhard/Jutta Wimmler„Dreieckshandel“, Glasperlen und Gender Mythische Narrative zum transatlantischen Sklavenhandel in aktuellen deutschen und österreichischen Schulbüchern (S. 149)
Wolfgang GeigerZum Scheitern verurteilt? Das Bild von der Weimarer Republik (nicht nur) in Schulbüchern und die Konsequenzen für den Geschichtsunterricht (S. 165)
Maria Rhode„Noch ist Polen nicht verloren!“ Der polnische Weg zur Nation und zum Nationalstaat (S. 178)
M. Michael ZechGeschichtsunterricht an den Waldorfschulen. Geschichtsbewusstsein und Identitätsbildung in hybriden Lebenswelten (S. 199)
Informationen Neue Medien
Gregor HorstkemperAufbrüche, Hoffnungen, Enttäuschungen Die Anfangsphase der Weimarer Republik (S. 216)
Literaturbericht
Dirk SchumannDie Weimarer Republik, Teil II (S. 219)
Nachrichten (S. 229)
Autorinnen und Autoren (S. 232)
ABSTRACTS
Wolfgang Geiger„Ob Gott es wirklich wollte?“ Der Islam im Geschichtslehrbuch GWU 70, 2019, H. 3/4, S. 117 – 135 Der Beitrag untersucht die Darstellung der Geschichte des Islam und der christlich-islamischen Begegnung in den Autorentexten der jüngsten Lehrbücher (Ausg. Hessen) für die Sekundarstufe I (Gymnasium) und die Sekundarstufe II. Die Analyse zeigt zum Teil erhebliche Probleme in Darstellung und Bewertung auf, von der kaum gelungenen Einordnung des Islam in die drei Monotheismen über das idealisierte Zusammenleben in Andalusien bis zur vermeintlich einheitlichen islamischen Welt während des 1. Kreuzzuges. Dabei kann die komplexe Geschichte auch didaktisch reduziert durchaus adäquat dargestellt werden, wie Beispiele im Detail zeigen. Allerdings stellen sich auch Fragen zur didaktischen Perspektive im Ganzen.
Arnold BühlerKeine Lehnspyramide! Kein Lehnswesen! Plädoyer für eine Entrümpelung des Mittelalter-Unterrichts GWU 70, 2019, H. 3/4, S. 136 – 148 Das Lehnswesen ist aus Lehrplänen und Schulbüchern der 6./7. Jahrgangsstufe nicht wegzudenken. In der Regel wird es veranschaulicht im Modell der „Lehnspyramide“, die Lehnsherren und Vasallen in drei oder vier Hierarchieebenen übersichtlich ordnet. Die Mediävistik hat längst darauf hingewiesen, dass dieses Modell die komplexen Lehnsbeziehungen nicht adäquat abbildet. Mehr noch: Das Lehnwesen insgesamt ist ein Konstrukt, das die viel wirksameren Faktoren mittelalterlicher Herrschaft ignoriert: die sakrale Legitimation des Königtums, die autonomen Rechte der Fürsten, die Elastizität des auf Konsens gestützten Reiches. Die fachwissenschaftlich und didaktisch gebotene Konsequenz: „Lehnswesen“ ist aus den Inhalten des Geschichtsunterrichts zu streichen.
Roland Bernhard/Jutta Wimmler„Dreieckshandel“, Glasperlen und Gender Mythische Narrative zum transatlantischen Sklavenhandel in aktuellen deutschen und österreichischen Schulbüchern GWU 70, 2019, H. 3/4, S. 149 – 164 In diesem Beitrag werden Schulbuchnarrative zum transatlantischen Sklavenhandel analysiert. Es wird argumentiert, dass die Darstellung des Sklavenhandels in deutschen und österreichischen Schulbüchern stark auf dem in der Fachwissenschaft seit Jahrzehnten kritisierten „Mythos Dreieckshandel“ basiert. Dabei werden aufbauend auf nicht triftige Darstellungen typische Afrikastereotype sowie Mythen über Ursachen und Protagonisten des Sklavenhandels reproduziert. Außerdem wird der Sklavenhandel oft als männliches Phänomen beschrieben und damit jene Millionen von Sklavinnen ausgeblendet, die in die Amerikas verschifft wurden.
Wolfgang GeigerZum Scheitern verurteilt? Das Bild von der Weimarer Republik (nicht nur) in Schulbüchern und die Konzequenzen für den Geschichtsunterricht GWU 70, 2019, H. 3/4, S. 165 – 177 Die meisten Geschichtslehrbücher, wie auch andere Medien, zeichnen das Bild einer „von Anfang an zum Scheitern verurteilten“ Weimarer Republik, die „nicht die Zustimmung ihrer Bürger erhielt“. Konträr zu den Fakten (Reichstagswahlen) und zu den Mahnungen Detlev Peukerts bereits von 1987 wird suggestiv ein deterministischer Bogen von der Krise am Anfang zur Krise am Ende mit unausweichlichem Ausgang geschlagen. Dieser Fatalismus lässt die „erste deutsche Demokratie“ langsam aus dem Bewusstsein verschwinden, erst als Demokratie und dann als Epoche, wie bereits in einigen Lehrplänen.
Maria Rhode„Noch ist Polen nicht verloren!“ Der polnische Weg zur Nation und zum Nationalstaat GWU 70, 2019, H. 3/4, S. 178 – 198 Der Aufsatz untersucht den Nationsbildungsprozess in Polen und zeichnet die Interdependenz zwischen der deutschen und der polnischen Nationalbewegung nach. Er betont die Bedeutung von Symbolen und Mythen und analysiert die Prozesse, die zu ihrer Konstruktion führten. Thematisiert wird die radikalisierende Zäsur von 1848. Ebenso wird die Dynamik zwischen den Folgen des Kulturkampfes im Kaiserreich und der Instrumentalisierung des Kreuzrittermythos in Polen herausgearbeitet. Als Fallbeispiel wird das als nationales Fest multimedial inszenierte Jubiläum der Schlacht bei Grunwald analysiert.
M. Michael ZechGeschichtsunterricht an den Waldorfschulen Geschichtsbewusstsein und Identitätsbildung in hybriden Lebenswelten GWU 70, 2019, H. 3/4, S. 199 – 215 Mit dem Geschichtsunterricht an den Waldorfschulen existiert eine der wenigen Alternativen zu den Konzepten und zur Unterrichtspraxis der staatlichen Regelschulen. Trotz einer fast 100-jährigen Praxis wurde er bislang in den fachdidaktischen Auseinandersetzungen kaum beachtet. Die Ursachen liegen in spezifischen Diskurshindernissen, die durch die Begründung dieser Pädagogik aus den anthroposophischen Ideen Steiners sowie durch den waldorfinternen Binnendiskurs mit seiner spezifischen Terminologie aufgeworfen werden. Der Einblick in Theorie und Praxis soll das Sujet für den geschichtsdidaktischen Diskurs aufschließen.