Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 71 (2020), 3–4

Titel der Ausgabe 
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 71 (2020), 3–4
Weiterer Titel 
Griechische Antike: Zentrum und Peripherie

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monatlich

 

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Institution
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Land
Deutschland
c/o
Prof. Dr. Michael Sauer Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel. 0551/39-13388 Fax 0551/39-13385
Von
Sauer, Michael

Das vorliegende Themenheft geht von der Beobachtung aus, dass Griechische Geschichte häufig immer noch als einseitiger Prozess verstanden wird, der vom „Zentrum“ in die „Peripherie“ verläuft. Ausgehend von den Poleis des Ägäisraums, seien in diesem Prozess „Randgebiete“ mit je eigenen unabhängigen Entwicklungsdynamiken entstanden, so die verbreitete Auffassung. Das Heft plädiert vor diesem Hintergrund für eine stärkere Integration sogenannter „peripherer Räume“ in die gesamtgriechische Geschichte, die als verflochtene Geschichte verstanden wird. Griechische Geschichte wird auf diese Weise zu einem Beobachtungsfeld komplexer wechselseitiger Migrations-, Transfer- und Übersetzungsprozesse.
Den Anfang macht ein Beitrag von Raimund Schulz, der von intensiven Interaktionen zwischen den ägäischen Siedlungsgebieten und ihren „kolonialen Randzonen“ ausgeht. Im Mittelpunkt stehen dabei die Rückwirkungen der Peripherien auf das „Mutterland“, Rückwirkungen, die sich den je spezifischen Entwicklungen jenseits des Ägäisraums verdankten: ob in Wirtschaft oder Handel, Religion oder Philosophie, ob in der Herrschaftspolitik oder im Militärwesen. Schulz betont dabei nicht zuletzt die vergleichsweise große Innovationsoffenheit der Peripherien – und ihre Fähigkeit zur Integration neuer Bevölkerungsgruppen. Im Anschluss fragt Monika Schuol nach der griechischen Rezeption östlichen Wissens und östlichen Know-hows in archaischer Zeit, wobei sie in zwei Schritten vorgeht: In einem ersten Schritt nimmt Schuol die griechischen Akteure dieses Prozesses in den Blick: allen voran die Aristokraten, aber auch Händler, Ärzte, Handwerker, Priester und Söldner; und in einem zweiten die Aneignungen – und wechselseitigen Dynamiken – der Transfers im Sinne eines west-östlichen kulturellen Dialogs, der eine „Ägäische Koine“ sui generis schuf. Eine Koine, die ohne Migration, die ohne Mobilität, Transfer und Übersetzung nicht zu denken ist. Der dritte Beitrag des Hefts stammt von Frank Bernstein und knüpft an die Überlegungen des ersten Beitrags an, indem er das Verhältnis von Apoikie und Metropolis – von „Kolonie“ und „Mutterstadt“ – als analytische Denkfigur dekonstruiert. Bernstein führt die heuristischen, methodischen und konzeptionellen Probleme vor Augen, die eine typologische Bestimmung der Beziehungen zwischen Apoikie und Metropolis aufwirft, nicht zuletzt der Rechtsbeziehungen. Schon die jeweiligen historischen Voraussetzungen einer Verhältnisbestimmung seien kaum systematisch zu erfassen. Ganz zu schweigen von einer Einbeziehung sogenannter Sekundärgründungen. Modellbildung, so Bernstein abschließend, führe in diesem Fall zu einer Nivellierung und nicht zu jener Differenzierung, die unterschiedlichen Vernetzungsdichten und Entwicklungsgeschwindigkeiten gerecht wird.
Am Ende schließlich fragt Uwe Walter nach den „griechischen“ Migrationen zwischen ausgehender Bronzezeit und dem Abschluss der sogenannten „Großen Kolonisation“ Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. Vor dem Hintergrund der neueren (und nicht nur althistorischen) Migrationsforschung lässt Walter keinen Zweifel daran, dass es viel zu kurz greifen würde, Mobilität und Migration ausschließlich als Krisenphänomene zu verstehen. Auch für die Migrationen im frühen Griechenland gelte, dass ihnen „rational choice“-Modelle gerechter werden als „push-and-pull“-Vorstellungen. Ja, Mobilität und Migration dürfen nach Walter durchaus als mehr oder weniger selbstverständliche Handlungsoptionen im frühen Griechenland angesprochen werden. So fehle es seit „Ilias“ und „Odyssee“ nicht an Belegen für Ortswechsel auch größerer Gruppen von Menschen über weite Distanzen hinweg. Ortswechsel, die auf überregionale Kommunikations- und Handlungsräume ganz eigener Dynamik verweisen.

Peter Burschel

Inhaltsverzeichnis

INHALT

Abstracts (S. 594)
Editorial (S. 596)

BEITRÄGE

Raimund Schulz
Innovationsraum, Impulsgeber und
imperiale Vorreiter
Der Einfluss der „kolonialen“ Randgebiete
auf die gesamtgriechische Entwicklung (S.117)

Monika Schuol
Die Griechen von außen
Die ägäische Welt im kulturellen Kontext
des Vorderen Orients (S.134 )

Frank Bernstein
Apoikie und Metropolis
Voraussetzungen und Bedingungen
ihrer Beziehungen (S.153)

Uwe Walter
Ares-Söhne oder brave Siedler?
Migrationen im frühen Griechenland (S.174)

Carlo Ginzburg
Der Käse und die Würmer im Jahr 2019
Was lehrt uns die Mikrogeschichte
heute? (S.190)

Informationen Neue Medien

Alessandra Sorbello Staub
Alte Geschichte ganz neu lernen
Aktuelle Angebote im Netz (S.199)

Literaturbericht

Raimund Schulz / Uwe Walter
Altertum, Teil II (S.202)

Nachrichten (S.226)

Autorinnen und Autoren (S.232)

ABSTRACTS

Raimund Schulz
Innovationsraum, Impulsgeber und
imperiale Vorreiter
Der Einfluss der „kolonialen“ Randgebiete auf die gesamtgriechische Entwicklung
GWU 71, 2020, H. 3/4, S. 117 – 133
Die griechischen Siedlungsgebiete jenseits des Ägäisraumes standen von Beginn an vor besonderen Herausforderungen: Sie waren zumindest in der ersten Phase einerseits auf einen intensiven Kontakt mit der indigenen Bevölkerung sowie auf Nachsiedler angewiesen und mussten später häufig auf Söldner zurückgreifen. Auf der anderen Seite verfügten sie über größere agrarische Ressourcen als die Poleis des „Mutterlandes“, sie waren flexibler bei der Integration neuer Bevölkerungsteile und aufgeschlossen für Spezialisten und militärische Innovationen. Dieser Beitrag fragt nach den Auswirkungen, die diese Konstellation auf die gesamtgriechische Entwicklung hatte, ferner nach den Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen zwischen den Randgebieten und dem ägäischen Siedlungszentrum im Bereich der Polisbildung sowie auf machtpolitisch-militärischem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet.

Monika Schuol
Die Griechen von außen – die ägäische Welt im kulturellen Kontext des Vorderen Orients
GWU 71, 2020, H. 3/4, S. 134 – 152
Die Strahlkraft orientalischer Kulturen auf die antike Mittelmeerwelt höher zu bewerten, als dies in der altertumswissenschaftlichen Forschung bislang vielfach der Fall war, sollte nicht in neuen Einseitigkeiten und monokausalen Erklärungsmustern münden. Vielmehr vermag die Aspektumkehr den Blick auf die durch ausgeprägten Import vorderasiatischer Kulturtechniken gekennzeichneten Perioden der griechischen Geschichte, besonders die Archaik, zu schärfen. In diesem Sinne beleuchtet der Aufsatz die Akteure (u. a. Aristokraten, Händler, Spezialisten, Söldner, Priester) dieses Prozesses sowie die in der Forschung diskutierten Auswirkungen dieses Imports von altorientalischem know how auf die politische und kulturelle Entwicklung des griechischen Raumes (Polis, Schrift, Literatur, Lebensstil).

Frank Bernstein
Apoike und Metropolis
Voraussetzungen und Bedingungen
ihrer Beziehungen
GWU 71, 2020, H. 3/4, S. 153 – 173
Im Zuge der „Großen Kolonisation der Griechen“ entstanden zahlreiche Städte an den Küsten des Mittelmeer- und Schwarzmeerraums. Der Beitrag fragt nach dem Verhältnis von „Kolonie und Mutterstadt“ und relativiert diese analytische Denkfigur, da mit ihr erhebliche heuristische, methodische und konzeptionelle Probleme verbunden sind. In einer typologischen Umschau, welche systematisierend die Voraussetzungen und Bedingungen in den Blick nimmt, wird gezeigt, dass Beziehungen zwischen Apoikie und Metropolis, so sie denn bestanden, von Dynamik und Varianz gekennzeichnet waren.

Uwe Walter
Ares-Söhne oder brave Siedler?
Migrationen im frühen Griechenland
GWU 71, 2020, H. 3/4, S. 174 – 189
Der Aufsatz erörtert vor dem Hintergrund der Forschungsgeschichte und aktueller Debatten die ‚griechischen‘ Bevölkerungsbewegungen von der ausgehenden Bronzezeit bis zum Ende der sog. ‚Großen Kolonisation‘. Vor allem Letztere stellte einen komplexen Ereigniszusammenhang dar: Ihre Ursachen waren nicht überwiegend wirtschaftliche Not und Mangel an Land; die neuere Migrationsforschung macht vielmehr auf die sich selbst in Gang haltenden Dynamiken dauerhafter Ortswechsel auch im frühen Griechenland aufmerksam. Dabei gewinnen „rational choice“-Modelle gegenüber der älteren Vorstellung von „push-and-pull“- Faktoren Plausibilität. Wie sehr räumliche Mobilität seit früher Zeit eine Handlungsoption darstellte, zeigen markante Beispiele, vom fiktiven Kreter in der homerischen Odyssee bis zum spartanischen Glücksritter Dorieus.

Carlo Ginzburg
Der Käse und die Würmer im Jahr 2019 Was lehrt uns die Mikrogeschichte
heute?
GWU 71, 2020, H. 3/4, S. 190 – 198
Der Vortrag kehrt zu einem Buch zurück, das erstmals vor über 40 Jahren erschienen ist. Zusammen mit anderen Werken wurde darüber eine Forschungsrichtung in der internationalen Geschichtswissenschaft begründet, die als Mikrogeschichte bekannt werden sollte. Der Vortrag behandelt zum einen die Entstehungsgeschichte des Konzepts und seine internationale wissenschaftliche Ausstrahlung, zum anderen wirft er die Frage danach auf, was uns die Mikrogeschichte heute noch zu lehren vermag. Im Hinblick darauf betont der Vortrag das große Potential der Mikrogeschichte für eine methodisch selbst-reflexive Globalgeschichte.

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