Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 66 (2015), 11–12

Titel der Ausgabe 
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 66 (2015), 11–12
Weiterer Titel 
Sound History

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monatlich

 

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Institution
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Land
Deutschland
c/o
Prof. Dr. Michael Sauer Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel. 0551/39-13388 Fax 0551/39-13385
Von
Sauer, Michael

EDITORIAL VON PETER BURSCHEL

Klänge verklingen. Das ist trivial und bezeichnet doch zugleich das methodische Grundproblem jeder "Sound History". Denn: Was bedeutet das Verklingen von Klängen für deren Geschichte? Und nicht zuletzt: Was bedeutet es für die Geschichte des Hörens? Fragen wie diese werden in den historischen Kulturwissenschaften seit geraumer Zeit so intensiv (und kontrovers) diskutiert, dass bereits von einem "Acoustic Turn" die Rede ist. Gleichzeitig aber steht außer Frage, dass die Klanggeschichte ihren Ort in der Geschichtswissenschaft noch sucht – und dass sie zudem noch weit davon entfernt ist, im Unterricht, vor allem im Schulunterricht angekommen zu sein. Grund genug für ein einschlägiges Themenheft, das sich vor allem zwei Ziele setzt: Es will zu einem begrifflich, methodisch und konzeptionell in die historische Klangwissenschaft einführen; und zum anderen ganz konkret zeigen, wie Historikerinnen und Historiker mit Tondokumenten umgehen.

Am Anfang kartiert Jan-Friedrich Missfelder das weite Terrain der "Sound History", indem er nach den Begriffen "Sound" und "Soundscape" fragt, die klangwissenschaftlichen Traditionen in Geschichts- und Musikwissenschaft sowie in den "Sound Studies" freilegt und schließlich die methodischen Probleme (und Potenziale) einer Klangwissenschaft benennt. Sein Plädoyer: Aufgabe der "Sound History" sei nicht die "Beschwörung von Verklungenem", sondern die Rekonstruktion vergangener und damit fremder auditiver Kulturen. Im Anschluss daran untersucht Daniela Hacke Praktiken aufständischer Klanganeignungen im Bauernkrieg von 1525. Hacke macht dabei vor allem auf die Bedeutungsvielfalt akustischer Zeichen im Aufstandsgeschehen aufmerksam. "Sound History", das heißt in diesem Beitrag: Geschichte politischer Kommunikation in der Vormoderne. Auch Muriel Favre versteht Klanggeschichte als politische Kulturgeschichte. Indem sie das komplexe Zusammenspiel von "Live-Übertragung" und "Gemeinschaftsempfang" im Dritten Reich in den Blick nimmt, macht sie vor dem Hintergrund einschlägiger aktueller Forschungskontroversen darauf aufmerksam, dass virtuelle "Volksgemeinschaft" immer auch erfahrbare "Hörgemeinschaft" war. Gleichzeitig lässt sie – wie schon Hacke – erkennen, wie "Sound History" als "Sinnesgeschichte" von Herrschaft geschrieben werden kann. Auch Carolyn Birdsall macht diese Perspektive stark. Am Beispiel der Stadt Düsseldorf versucht sie, die akustischen Erfahrungen des Luftkriegs im urbanen Raum zu rekonstruieren, wobei sie auf Ansätze der Historischen Anthropologie, der Medienwissenschaft und der "Sound Studies" zurückgreift. Das besondere Interesse Birdsalls gilt dabei der Vielfalt vergangenen Hörens. Denn auch das Hören hat ein Geschlecht, einen Körper, ein Alter – und einen sozialen Ort. "Hörgemeinschaften" sind durchaus heterogene "Deutungsgemeinschaften". Das aber heißt auch: Jenseits aller Versuche einer klanglichen Formation von "Volksgemeinschaft" wurde die Kontrolle urbaner "Soundscapes" im Laufe des Krieges immer aussichtsloser.

Einen anderen Schwerpunkt setzen schließlich Daniel Morat und Thomas Blanck. Ausgehend von der Beobachtung, dass historische Tondokumente als Quelle sui generis in Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik bislang kaum methodischen Interesse gefunden haben, plädieren sie für einen quellenkritischen Umgang mit dieser "Gattung" in Forschung und Lehre, der es in erster Linie erlauben soll, dem "Präsenzeffekt" historischer Klänge analytisch gerecht zu werden. Um dieses Ziel zu erreichen, skizzieren sie zunächst in aller Kürze die Mediengeschichte der Tonaufzeichnung und die Archivgeschiche der Tonüberlieferung, entwerfen dann eine Typologie historischer Tondokumente, die Sprache, Musik und Geräusche umfasst, und präsentieren am Ende ein fünfstufiges Analysemodell, das keinen Zweifel lässt: Historische Tondokumente erlauben es uns, Geschichte zu hören – auch wenn wir nicht hören können, wie es "eigentlich" geklungen hat.

Inhaltsverzeichnis

INHALT DER GWU 11–12/2015

Abstracts (S. 630)

Editorial (S. 632)

Beiträge

Jan-Friedrich Missfelder
Der Klang der Geschichte. Begriffe, Traditionen und Methoden der Sound history (S. 633)

Daniela Hacke
Hearing Cultures. Plädoyer für eine Klanggeschichte des Bauernkriegs (S. 650)

Muriel Favre
Rundfunkereignisse im Dritten Reich (1933–1939). Fallstudie und Erfahrungsbericht (S. 663)

Carolyn Birdsall
Die urbanen Soundscapes des Luftkriegs. Forschungsperspektiven aus Sound Studies, Geschichts- und Medienwissenschaft (S. 681)

Daniel Morat/Thomas Blanck
Geschichte hören. Zum quellenkritischen Umgang mit historischen Tondokumenten (S. 703)

Berichte und Kommentare

Michael Rohrschneider
Friedrich von Gentz – in digitalem Gewand. Eine neue Quellenpublikation zum "Sekretär Europas" im Jubiläumsjahr des Wiener Kongresses (S. 727)

Informationen Neue Medien

Alessandra Sorbello Staub
Soundtrack der Geschichte. Von historischen Hintergrundgeräuschen und epochalen Ohrwürmern (S. 738)

Literaturbericht

Frank Uekötter
Technik- und Umweltgeschichte (S. 741)

Nachrichten (S. 754)

Autorinnen und Autoren (S. 756)

Register des Jahrgangs 66, 2015

ABSTRACTS DER GWU 11–12/2015

Jan-Friedrich Missfelder
Der Klang der Geschichte. Begriffe, Traditionen und Methoden der Sound history
GWU 66, 2015, H. 11/12, S. 633–649
Der Artikel gibt einen Überblick über Begriffe, disziplinäre Traditionen und Methoden der Sound history. Nach einer Diskussion der zentralen Termini sound und soundscape werden die interdisziplinären Anschlussstellen in Geschichtswissenschaft, Musikwissenschaft und Sound Studies identifiziert und schließlich die methodischen Herausforderungen und Potentiale einer historischen Klangwissenschaft vorgestellt.

Daniela Hacke
Hearing Cultures. Plädoyer für eine Klanggeschichte des Bauernkriegs
GWU 66, 2015, H. 11/12, S. 650–662
Klang war in der Vormoderne mehr als nur die Erzeugung eines Tons. Die klangliche Umwelt der Vormoderne bot den Untertanen grundlegende akustische Orientierung; sie war Teil eines umfangreichen Kommunikationssystems, das uns heute fremd geworden ist. Zudem hatte Klangerzeugung viel mit Herrschaftsrechten zu tun, denn das Läuten der Glocke oder das Schlagen der Trommel war ein Recht, das der Herrschaft vorbehalten war. Ausgehend von dieser Beobachtung untersucht der Beitrag die unterschiedlichen Verfahren der Klanganeignung im Bauernkrieg (1524–1526) durch aufständische Untertanen; ferner beleuchtet er die Funktions- und Bedeutungsvielfalt der akustischen Zeichen für die politischen Erhebungen in Stadt und Land. Die klanghistorische Perspektive betont den Zusammenhang von Widerstand und Akustik und entwickelt ein Verständnis von politischer Geschichte als einer Geschichte der akustischen kommunikativen Zeichengebung.

Muriel Favre
Rundfunkereignisse im Dritten Reich (1933–1939). Fallstudie und Erfahrungsbericht
GWU 66, 2015, H. 11/12, S. 663–680
Der Beitrag untersucht die nationalsozialistischen Festveranstaltungen im Hinblick auf ihr Verhältnis zum Rundfunk und zeigt, dass man es mit einem wohlüberlegten System zu tun hatte. Viele Festveranstaltungen wurden so konzipiert, dass sie im Rundfunk von einer größtmöglichen Zahl an Personen mitverfolgt werden konnten. Ziel war es, die Bindung an den "Führer" zu fördern und das ideologische Konstrukt der "Volksgemeinschaft" erfahrbar zu machen. Da für die Analyse auch Mitschnitte der NS-Feiern herangezogen werden, wird zugleich über den Umgang mit Audioquellen in der Geschichtswissenschaft reflektiert. Thematisiert werden dabei sowohl die quellenkritische als auch die methodologische Ebene.

Carolyn Birdsall
Die urbanen Soundscapes des Luftkriegs. Forschungsaspekte aus Sound Studies, Geschichts- und Medienwissenschaft
GWU 66, 2015, H. 11/12, S. 681–702
Der Artikel thematisiert am Beispiel der Stadt Düsseldorf die Klänge und akustischen Erfahrungen des Luftkriegs im urbanen Raum während des Nationalsozialismus. Zunächst zeige ich, durch welche akustischen Strategien versucht wurde, eine einheitliche Heimatfront aufzubauen, um dann multidisziplinär Perspektiven (Kulturgeschichte, Medienwissenschaft, Sound Studies) auf die urbane Klanglandschaft Düsseldorfs während des Zweiten Weltkriegs zu entwickeln. Auf diese Weise hoffe ich zeigen zu können, wie Sound history einerseits etwas von der allgemeinen Luftkriegserfahrung in Städten wie Düsseldorf zu vermitteln vermag, wie sie andererseits aber auch gerade der Vielseitigkeit vergangenen Hörens Rechnung trägt, indem sie die unterschiedlichen, von individuellen Gegebenheiten wie Alter, Geschlecht, Klasse, Ethnizität, Wohnort usw. abhängigen Interpretationsweisen von Klängen sichtbar macht.

Daniel Morat/Thomas Blanck
Geschichte hören. Zum quellenkritischen Umgang mit historischen Tondokumenten
GWU 66, 2015, H. 11/12, S. 703–726
Historische Tondokumente wurden als eigenen Quellengattung in der geschichtswissenschaftlichen und -didaktischen Methodenlehre bisher weitgehend vernachlässigt. Ein quellenkritischer Umgang mit historischen Tondokumenten ist jedoch erforderlich, um dem "Präsenzeffekt" historischer Stimmen und Klänge nicht einfach zu erliegen, sondern diesen für die analytische Auseinandersetzung mit der Geschichte fruchtbar zu machen. Um diesen quellenkritischen Umgang zu ermöglichen, skizziert der vorliegende Beitrag zunächst knapp die Mediengeschichte der Tonaufzeichnung und die Archivgeschichte der Tonüberlieferung. Anschließend behandelt er unterschiedliche Typen von Tondokumenten, die nach Sprach-, Musik- und Geräuschquellen eingeteilt werden. Im letzten Abschnitt wird ein fünfstufiges Analysemodell vorgestellt, das sowohl in der wissenschaftlichen wie in der didaktischen Geschichtspraxis Anwendung finden kann.

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