Editorial
von Michael Sauer
Deutsche Auslandsschulen waren immer ein Spiegel staatlichen Selbstverständnisses und kulturpolitischen Sendungsbewusstseins. Freilich wäre es zu einfach, dabei nur von einer einseitigen Wirkungsrichtung auszugehen. Denn vor Ort befanden und befinden sich diese Schulen in lokalen und regionalen Netzwerken, innerhalb derer sie spezifische Funktionen für die örtlichen Milieus übernehmen. Die Bandbreite der Geschichte(n) deutscher Auslandsschulen wird in diesem Heft in drei Fallstudien ausgelotet. Sie werden gerahmt durch einen Überblicksartikel und ergänzt durch einen Beitrag, der sich mit der heutigen Unterrichtspraxis an den Auslandsschulen – mit Fokus auf dem Fach Geschichte – befasst.
Im Jahre 2013 hat die Bundesrepublik Deutschland für das Auslandsschulwesen 260 Millionen Euro aufgewendet, mehr als ein Drittel des Etats für auswärtige Kulturpolitik. Schon angesichts dieser Gegenwartsbedeutsamkeit, so Christian Kuchler in seinem Einführungsartikel, verwundere es, dass über die Geschichte der Auslandsschulen nur wenig bekannt sei. In einem knappen Forschungsüberblick resümiert er, dass fundierte Studien zum Thema weitgehend fehlen, und liefert dann einen knappen historischen Abriss. Nach Vorläufern nahm das Auslandsschulwesen seinen großen Aufschwung mit der Gründung des Kaiserreichs 1871. Die Schulen sollten bei den Deutschen oder Deutschstämmigen im Ausland das "Deutschtum" erhalten oder stärken und zugleich auf die einheimische Bevölkerung kulturpolitisch einwirken. Diese Stoßrichtung verstärkte sich in der Zeit des Nationalsozialismus: Man wollte Auslandsdeutsche und einheimische Führungsschichten propagandistisch beeinflussen. Der Wiederaufbau des deutschen Auslandsschulwesens seit den späten 1950er-Jahren vollzog sich zunächst ohne einen ausdrücklichen konzeptionellen Neubeginn. Erst in den 1970er-Jahren entstand eine neue kulturpolitische Leitidee als Ausfluss eines gewandelten staatlich-gesellschaftlichen Selbstverständnisses: die Schulen als Orte der Begegnung zwischen unterschiedlichen Kulturen.
In seiner Studie über deutschsprachige Schulen in der Lombardei zeigt Gerd Vesper, wie im Kontext der habsburgischen Reform- und insbesondere Schulreformpolitik die Schulgründungen der Verbreitung der deutschen Sprache auch als Instrument der Herrschaftssicherung dienen sollten. H. Glenn Penny setzt den Akzent auf der Funktion der Schulen innerhalb lokaler Netzwerke; durch die Konzentration auf die (national)staatliche Ebene werde diese eher verdeckt. Am Beispiel Chiles macht er deutlich, dass die zunächst in Eigeninitiative gegründeten Schulen gewissermaßen Knotenpunkte für kulturell und sozial unterschiedliche deutsche Gemeinschaften bildeten. Die zunehmende institutionelle Unterstützung aus Deutschland war insofern ambivalent: Sie verbesserte die materielle und personelle Basis, führte aber auch zu vermehrter Einflussnahme von außen.
In seinem Beitrag zur deutschen Schule in Yokohama geht es Sven Günther ebenfalls darum, wie sich die Wandlungen der deutsch-japanischen Beziehungen und der Verhältnisse in Deutschland selbst auf die Schulgeschichte ausgewirkt haben. Als Forschungsdesiderat nicht nur für diese Einrichtung benennt er – ähnlich wie Penny – neuere Ansätze wie die Netzwerkanalyse, für deren Realisierung freilich einschlägige Archivbestände und andere Materialien erschlossen und verknüpft werden müssten. Hans-Joachim Cornelißen schließlich befasst sich mit den Unterrichtskonzepten und -bedingungen in den heutigen Auslandsschulen. Aus der Perspektive Einheimischer wird das Fach Geschichte vornehmlich fremdsprachlich erteilt. Das führt zu generellen, aber auch fachspezifischen Verständnisschwierigkeiten. Nicht unerheblich sind zudem die Verwerfungen, die sich aus einem anderen Konzept des Faches und anderen Unterrichtsformen ergeben – "Begegnungsschule" bedeutet also immer auch Begegnung unterschiedlicher Unterrichtskulturen.
INHALT DER GWU 5–6/2016
ABSTRACTS (S. 258)
EDITORIAL (S. 260)
BEITRÄGE
Christian Kuchler Deutsche Visitenkarten in der Welt. Geschichte des Auslandschulwesens als Instrument auswärtiger Kulturpolitik (S. 261)
Gerd Vesper "Deutsche Schulen" in der Frühen Neuzeit? Deutschsprachige Bildungsangebote zur Zeit des Spätabsolutismus in der Lombardei (S. 272)
H. Glenn Penny Knotenpunkte und Netzwerke. Auslandsschulen in Chile, 1880–1960 (S. 281)
Sven Günther Viele Lebenswelten, eine Schule? Die Deutsche Schule Tokyo Yokohama 1904–1991 (S. 295)
Hans-Joachim Cornelißen Geschichte an deutschen Auslandsschulen unterrichten - was ist anders? (S. 304)
Karsten Behrndt Nur "eine weitläufige und seichte, keineswegs aber eine gründliche Erkenntniß"? Gedanken zum Einsatz von historischen Enzyklopädien und Lexika im Geschichtsunterricht (S. 311)
Christian Mehr "Dingsda, Schornsteine, das sagt alles, was es ist". Über die Bedeutung baulicher Überreste in Gedenkstätten als außerschulischen Erfahrungsorten (S. 323)
Johannes Meyer-Hamme/Merle Naumann Non-formale historische Bildungsarbeit in der Migrationsgesellschaft. Eine Analyse historischer Sinnbildungen in ausgewählten Projekten (S. 337)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Gregor Horstkemper Grenzüberschreitung als Gründungsauftrag. Digitale Angebote der Deutschen Historischen Institute im Ausland (S. 326)
LITERATURBERICHT
Dietmar von Reeken/Michael Sauer Geschichtsdidaktik, Teil II (S. 359)
NACHRICHTEN (S. 378)
AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 384)
ABSTRACTS DER GWU 5–6/2016
Christian KuchlerDeutsche Visitenkarten in der Welt. Geschichte des Auslandsschulwesens als Instrument auswärtiger Kulturpolitik GWU 67, 2016, H. 5/6, S. 261–271
Die Geschichte des deutschen Auslandschulwesens ist in ihrer Komplexität bisher weitestgehend unerforscht. Ausgehend von einem Bericht über die vorliegenden spärlichen Untersuchungen entwirft der Beitrag grundlegende Untersuchungsfelder und Fragestellungen für zukünftige Forschungen, um schließlich die Entwicklung des Auslandschulwesens in den letzten 200 Jahren zu skizzieren. Während in der Zeit des Kaiserreichs die imperialistische Verbreitung der deutschen Kultur als Intention der Auslandsschulen ausgerufen wurde, gilt seit etwa den 1970er Jahren das Konzept des multinationalen Lernens als deren politisch und gesellschaftlich breit akzeptierte Leitlinie.
Gerd Vesper"Deutsche Schulen" in der Frühen Neuzeit? Deutschsprachige Bildungsangebote zur Zeit des Spätabsolutismus in der Lombardei GWU 67, 2016, H. 5/6, S. 272–280
Am Beispiel der 1787 erfolgten Einrichtung einer deutschen Schule in Mailand durch den österreichischen Kaiser Joseph II. zeigt der Aufsatz grundlegende Spannungsfelder der spätabsolutistischen Bildungspolitik einerseits und des deutschen Auslandsschulwesens andererseits auf. Die Schulgründung in Mailand lässt die Bestrebungen des Wiener Hofes bezüglich eines vereinheitlichen Herrschaftsterritoriums und einer einheitlichen Amtssprache erkennen. Darüber hinaus verweisen die Konflikte um die Mailänder Schule in den Jahren nach ihrer Gründung auf wesentliche Kontroversen über die Relevanz des Deutschunterrichts in Auslandsschulen und die Modernisierung des Bildungswesens insgesamt.
H. Glenn PennyKnotenpunkte und Netzwerke. Auslandsschulen in Chile, 1880–1960 GWU 67, 2016, H. 5/6, S. 281–294
Der Beitrag plädiert dafür, deutsche Schulen im Ausland als Zentren eines dynamischen Wandels der äußerst disparaten deutschen Gemeinschaften im Ausland zu betrachten. Die Auslandsschulen fungierten als Ausgangspunkte global operierender Netzwerke, in denen politische, wirtschaftliche und pädagogische Akteure historischen Wandel aktiv mitgestalten konnten. Am Beispiel der deutschen Auslandsschulen in Chile zeigt der Aufsatz, wie sich die Verhältnisse in Chile und Deutschland gegenseitig bedingten und die deutschen Communities vor Ort fluide Hybrididentitäten ausbilden konnten, die keiner nationalen Gruppe eindeutig zuzuordnen sind.
Sven GüntherViele Lebenswelten, eine Schule? Die Deutsche Schule Tokyo Yokohama 1904–1991 GWU 67, 2016, H. 5/6, S. 295–303
Die Geschichte der Deutschen Schule Tokyo Yokohama ist aufs Engste mit der Entwicklung der deutsch-japanischen Beziehungen verwoben. Mithilfe eines für das Schularchiv gestarteten Digitalisierungsprojekts werden schrittweise die aufgrund der mangelhaften Aktenlage im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wertvollen Bestände aufgearbeitet. Erste Auswertungen sowie weitere Forschungsperspektiven, die gerade in der Analyse der in den Archivmaterialien enthaltenen Sachinformationen durch moderne Theoriemodelle (z.B. Netzwerktheorie) liegen, stellen die beiden Schwerpunkte des Beitrags dar.
Hans-Joachim CornelißenGeschichte an deutschen Auslandsschulen unterrichten - was ist anders? GWU 67, 2016, H. 5/6, S. 304–310
Der Beitrag befasst sich mit der Frage, vor welchen Herausforderungen aus Deutschland entsandte Lehrkräfte im Geschichtsunterricht an deutschen Auslandsschulen stehen und welche Rolle der Didaktik des Deutschsprachigen Fachunterrichts (DFU) bei der Vorbereitung dieser Lehrkräfte zukommt. An den Auslandsschulen mit bikulturellem Schulziel ist der Geschichtsunterricht aus Lernersicht bilingualer Sachfachunterricht in deutscher Sprache. Er konkurriert zudem mit dem "nationalen" Geschichtsunterricht. Das kann aus Lehrersicht zu produktiver Spannung, aber auch zu Differenzen in Fragen der Methodik und Didaktik sowie der Auswahl der relevanten Inhalte führen.
Karsten BehrndtNur "eine weitläufige und seichte, keineswegs aber eine gründliche Erkenntniß"? Gedanken zum Einsatz von historischen Enzyklopädien und Lexika im Geschichtsunterricht GWU 67, 2016, H. 5/6, S. 311–322
Historische Enzyklopädien und Lexika stellen eine bislang im Geschichtsunterricht wenig genutzte Quellengattung dar, obgleich sie ein vielschichtiges Lernpotenzial besitzen. Als Wissenskompilationen auf der Höhe ihrer Zeit enthalten sie Quellenmaterial für zahlreiche Themenbereiche. Wird ihre Rolle als Medien der Meinungsbildung zum Gegenstand des Unterrichts gemacht, dann erlangen die Schülerinnen und Schüler einen Erkenntnisgewinn, der auch einen Beitrag zum reflektierten Umgang mit aktuellen Nachschlagewerken und anderen Informationsquellen leisten kann.
Christian Mehr"Dingsda, Schornsteine, das sagt alles, was es ist". Über die Bedeutung baulicher Überreste in Gedenkstätten als außerschulischen Erfahrungsorten GWU 67, 2016, H. 5/6, S. 323–336
In einer Fallanalyse wird rekonstruiert, wie sich zwei Schüler in der Gedenkstätte Buchenwald während ihres Besuchs verhalten, worüber sie sich austauschen und welche Bedeutung die baulichen Überreste für sie haben. Das empirische Material ist mit einer Helmkamera samt Mikrofon erhoben worden. Die Mikrostudie zeigt, dass die eigene Suche nach Authentischem vor Ort den Schülern als oberflächliche Beschäftigung dient, die eine Auseinandersetzung im Sinne eines Autonomie- und Bildungserlebnisses zunächst verhindert. Dies gelingt ihnen dagegen in dem Maße, in dem sie die Gedenkstätte als Erfahrungsort, und nicht als Lernort, wahrnehmen.
Johannes Meyer-Hammel/ Merle NaumannNon-formale historische Bildungsarbeit in der Migrationsgesellschaft. Eine Analyse historischer Sinnbildungen in ausgewählten Projekten GWU 67, 2016, H. 5/6, S. 337–355
Non-formale historische Bildungsprojekte sind Ausdruck des Geschichtsbewusstseins in der Gesellschaft, haben aber bisher kaum Beachtung in der Erforschung desselben gefunden. In dem vorliegenden Aufsatz werden solche non-formalen Projekte untersucht, die ausgehend von heterogenen Formen historischen Denkens Bildungsarbeit anstreben und in denen vielfach Minderheitenperspektiven zum Ausdruck kommen. Diese Projekte werden daraufhin analysiert, in welchen Formen historischer Sinn gebildet wird. Zugleich wird danach gefragt, welche Ziele und Strategien mit ihnen innerhalb der Geschichtskultur verfolgt werden.