Editorial von Michael Sauer
Literatur und Geschichte – das ist ein weites Feld. Zuallererst mag man dabei an die von Hayden White angestoßene Debatte denken, ob nicht geschichtswissenschaftliches Erzählen, weil es sich in bestimmten narrativen Grundmustern vollzieht, letztlich einem literarischen Erzählen von Geschichte eng verwandt ist. Gewiss war dies ein theoretisch anregender Impuls. Freilich dürfte in der Praxis wohl jeder Historiker darauf beharren, dass sich sein Schreiben von einem literarischen unterscheidet und sich dies an benennbaren Regeln festmachen lässt – an erster Stelle wäre hier das berühmte Diktum Reinhart Kosellecks vom "Vetorecht der Quellen" anzuführen. Und umgekehrt würde sich sicherlich keine Schriftstellerin durch Regeln der Überprüfbarkeit, durch vorsichtige Begrenzung von Aussagereichweiten, durch Enthaltsamkeit in der Schilderung von Nichtüberliefertem einengen lassen wollen. Gleichwohl waren in der Vergangenheit die Grenzen zwischen den beiden Sphären die meiste Zeit über nicht so streng gezogen, wie es insbesondere die vor allem an Strukturen und Großprozessen interessierte historische Sozialwissenschaft sehen wollte. Dennoch steht auch heute die Geschichtswissenschaft dem Erfolg der ungezählten historischen Romane, die in den Buchhandlungen die Regale füllen, mit einem gewissen Unbehagen gegenüber. Wie auch in anderen Formaten der Geschichtskultur wird hier Geschichte auf eine Weise vermittelt, die sich ihrem Einfluss weitgehend entzieht, die anders rezipiert wird – und die nicht zuletzt eminent erfolgreich ist.
Alle diese Aspekte verfolgt facettenreich Dirk van Laak in seinem Einführungsartikel zu diesem Heft. Der Frage, wie sich literarische Darstellungen von Geschichte im Geschichtsunterricht sinnvoll einsetzen lassen können, widmen sich dann die folgenden Beiträge. Selbstverständlich lässt sich Literatur auch als historische Quelle begreifen und nutzen – die Geschichtswissenschaft hat sich damit erstaunlicherweise recht wenig befasst, und auch im Geschichtsunterricht findet ein solcher Einsatz jedenfalls nicht gattungsbewusst statt. Dieser Aspekt wird hier am Beispiel von Felix Dahn aufgegriffen.
Die unterrichtsbezogenen Beiträge spannen einen Bogen vom Historienroman des 19. Jahrhunderts bis in die jüngste Gegenwart. Sie beziehen sich auf obligatorische Unterrichtsthemen: den Nationalismus und die „innere Reichsgründung“ im deutschen Kaiserreich (Axel Goy), den Ersten Weltkrieg (Julian Eilmann), den Nationalsozialismus (Wolfgang Hackenberg und Rut Fröhlings) und speziell den Holocaust (Sascha Feuchert), schließlich auf geschichtstheoretische Fragen (Elisabeth Gentner), die zunehmend auch in der Sekundarstufe II thematisiert werden (sollen). Während die anderen Beiträge einzelne Bücher behandeln, erörtert Feuchert zunächst grundsätzliche Fragen des fiktionalen Erzählens über den Holocaust, bevor er die Potentiale für den Geschichtsunterricht an einem aktuellen Roman exemplifiziert. Ein Grundproblem beim Einsatz solcher Texte liegt stets in ihrem Umfang. Bei einem (bestenfalls) Zweistundenfach ist eine „Ganzschriftenlektüre“ kaum möglich, allenfalls in Kooperation mit dem Deutschunterricht. In der Regel wird man mit Auszügen arbeiten müssen, die knapp genug für die Lektüre, aber dennoch inhaltlich ausreichend gehaltvoll sein müssen. Dafür geben die Beiträge Anregungen.
Was ist der Gewinn des Einsatzes von Literatur im Geschichtsunterricht? Sie bietet konkrete, atmosphärisch dichte Zusammenhänge zur Geschichte. Historische plausible Szenarien, gut komponierte Erzählstränge, ein gezielt ausgewähltes Figurenarsenal lassen Einsichten in zeitspezifische Handlungsweisen, Motive und Denkmuster gewinnen. So kann Geschichte für Schülerinnen und Schüler vorstellbar werden – anders und oft intensiver, als das bei der Arbeit mit wenigen isolierten Quellen und kurzen Darstellungstexten aus dem Schulbuch möglich ist.
INHALT DER GWU 7–8/2015
ABSTRACTS (S. 362)
EDITORIAL (S. 364)
BEITRÄGE
Dirk van Laak Erzählen, Erklären oder Erbsenzählen? Über das Verhältnis von Literatur und Geschichtsschreibung (S. 365)
Axel Goy Felix Dahns Historienroman "Ein Kampf um Rom". Germanenmythos und die Darstellung von "Volksliebe" und Volkseinheit in ihrer Bedeutung für die innere Reichsgründung (S. 384)
Julian Eilmann Weltkrieg in Mittelerde. Die literarische Verarbeitung des Ersten Weltkriegs in J.R.R. Tolkiens "Der Herr der Ringe" (S. 402)
Wolfgang Hackenberg/Rut Fröhlings Der Roman "Die Zwillinge" im Geschichtsunterricht (S. 415)
Elisabeth Gentner Metahistory im Geschichtsunterricht. Die Historisierung von Literatur bei Julian Barnes (S. 424)
Sascha Feuchert Fiktionale Holocaustliteratur als Chance für den Geschichtsunterricht. Grundsätzliche Überlegungen, die mögliche Rolle von Lesetagebüchern und ein aktuelles Beispiel (S. 437)
BERICHTE UND KOMMENTARE
Alfons Kenkmann/Martin Liepach Das Israelbild in aktuellen deutschen Schulgeschichtsbüchern (S. 450)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Gregor Horstkemper Musenschwestern im Gespräch (S. 458)
LITERATURBERICHT
Wolfgang Schmale Europa (S. 461)
NACHRICHTEN (S. 488)
AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 492)
ABSTRACTS DER GWU 7–8/2015
Dirk van Laak Erzählen, Erklären oder Erbsenzählen? Über das Verhältnis von Literatur und Geschichtsschreibung GWU 66, 2015, H. 7/8, S. 365 – 383
Erzählen und Erklären scheinen in der Geschichtskultur der Gegenwart immer stärker ineinander zu fließen. Tatsächlich blicken Literatur und Geschichtsschreibung seit der Antike auf eine miteinander verflochtene, gleichwohl spannungsgeladene Geschichte zurück. Sie war geprägt von methodischen Abgrenzungsversuchen und unterschiedlichen Zugriffsweisen auf die Deutung von Wirklichkeit. Dies schlug sich auch und vor allem in den sprachlichen Darstellungsweisen nieder. In der "neohistoristischen" Gegenwart mit ihrem breiten medialen Angebot an narrativen Genres sind die Grenzen jedoch immer schwerer zu definieren. Es scheint vielmehr in Frage zu stehen, welche Synergien fiktive Literatur und analytische Geschichtsforschung bei dem gemeinsamen Interesse, das Menschenmögliche auszuleuchten, zu entfalten vermögen.
Axel Goy Felix Dahns Historienroman "Ein Kampf um Rom". Germanenmythos und die Darstellung von "Volksliebe" und Volkseinheit in ihrer Bedeutung für die innere Reichgründung GWU 66, 2015, H. 7/8, S. 384 – 401
Der Beitrag fokussiert Felix Dahns Historienroman "Ein Kampf um Rom" und verortet ihn im Kontext der inneren Reichsgründung. Dargestellt wird, wie Dahn sich des Germanenmythos bediente und die junge deutsche Nation durch die Thematisierung von Volksliebe und heldischer Aufopferung für die Gemeinschaft zur inneren Einheit mahnte. Dieser Aspekt sowie seine Affinität zu völkischem Denken prädestinieren ihn dafür, im Geschichtsunterricht der Oberstufe eingesetzt zu werden. Die Schülerinnen und Schüler können hierbei ihre prozessorientierten sowie methodischen Kompetenzen schulen und erleben, dass auch Literatur einen nicht unbedeutenden Wert für den Historiker haben kann.
Julian Eilmann Weltkrieg in Mittelerde. Die literarische Verarbeitung des Ersten Weltkriegs in J.R.R. Tolkiens "Der Herr der Ringe" GWU 66, 2015, H. 7/8, S. 402 – 414
J.R.R. Tolkiens "Der Herr der Ringe" erfreut sich weltweit großer Beliebtheit. Weniger bekannt ist, dass Tolkien als Offizier im Ersten Weltkrieg an der Schlacht an der Somme teilnahm und seine Kriegserfahrungen im "Herrn der Ringe" einfließen ließ, u. a. in der Darstellung der Totensümpfe. Dieser Ort erinnert mit seiner Verwüstung und den verwesenden Leichen an die Schrecken der Weltkriegsschlachtfelder. Dieser Aufsatz skizziert Tolkiens Kriegserfahrungen sowie deren literarische Verarbeitung und gibt Impulse für den Einsatz des Romans im Geschichtsunterricht.
Wolfgang Hackenberg/Rut Fröhlings Der Roman "Die Zwillinge" im Geschichtsunterricht GWU 66, 2015, H. 7/8, S. 415 – 423
In dem Roman "Die Zwillinge" wird die fiktive Lebensgeschichte der Zwillinge Anna und Lotte beschrieben. In Rückblenden setzen sich die beiden Schwestern mit ihrem Verhalten während des Nationalsozialismus auseinander. Die Beschäftigung mit diesem Roman unter Einbeziehung historischer Quellen ermöglicht insbesondere die Behandlung alltagsgeschichtlicher Fragestellungen und ausgehend von den Rückblenden die Thematisierung der Schuldfrage. Der Unterrichtsvorschlag ermöglicht den Aufbau kritischer Imaginationsfähigkeit und den Aufbau eines eigenen narrativen Wissens.
Elisabeth Gentner Metahistory im Geschichtsunterricht. Die Historisierung von Literatur bei Julian Barnes GWU 66, 2015, H. 7/8, S. 424 – 436
Mit den gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen Ende des 20. Jahrhunderts kommt es zur Herausbildung der historiographic metafiction vor allem in Großbritannien. Julian Barnes' Roman "England, England" (1998) eignet sich als Vertreter dieses neuen Genres besonders gut, zentrale Aspekte der Geschichtstheorie zu analysieren sowie kritisch zu reflektieren, um dadurch den Geschichtsunterricht der Oberstufe theoretisch zu unterfüttern und inhaltlich bzw. methodisch zu bereichern. Die Lernenden können sich nicht nur mit dem Konstruktcharakter und der Standortbezogenheit von Geschichte, sondern auch mit Formen ihrer Vermittlung und Instrumentalisierung auseinandersetzen.
Sascha Feuchert Fiktionale Holocaustliteratur als Chance für den Geschichtsunterricht. Grundsätzliche Überlegungen, die mögliche Rolle von Lesetagebüchern und ein aktuelles Beispiel GWU 66, 2015, H. 7/8, S. 437 – 449
Ausgehend von der Beobachtung, dass Erzählen über den Holocaust nicht nur möglich, sondern auch unverzichtbar ist, argumentiert der Beitrag für den Einbezug fiktionaler Holocaustliteratur in den Geschichtsunterricht: Mittels einer Methode des Handlungs- und Produktionsorientierten Literaturunterrichts, des Lesetagebuchs, lassen sich die Texte so einbinden, dass der Geschichtsunterricht zeitlich entlastet, inhaltlich bereichert und insgesamt nachhaltiger wird. Als Beispiel wird David Safiers Ghetto-Roman "28 Tage lang" analysiert und in den Kontext aktueller Neuerscheinungen eingeordnet.