Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 72 (2021), 3/4

Titel der Ausgabe 
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 72 (2021), 3/4
Weiterer Titel 
Gedenkstätten an NS-Täterorten

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alle zwei Monate

 

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Institution
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Land
Deutschland
c/o
Prof. Dr. Michael Sauer Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel. 0551/39-13388 Fax 0551/39-13385
Von
Michael Sauer

Nach 1945 war das öffentliche Interesse am materiellen Erbe des „Dritten Reiches“ in Deutschland nur schwach ausgebildet. Dies hatte zur Folge, dass viele Gebäude und andere Überreste der NS-Diktatur auch an bekannten Täterorten entweder umgewidmet oder abgerissen wurden. Das öffentliche Gedenken an die Verbrechen blieb hingegen meist abstrakter Natur, ohne Verweis auf das konkrete Geschehen vor Ort. Seit Mitte der 1960er Jahre änderte sich die Lage, zunächst nur zögerlich, dann aber immer umfassender, als im Zeichen einer zunehmenden Opferorientierung eine fundamentale Transformation der Erinnerungskulturen in Gang kam. Inzwischen nehmen Gedenkstätten zur Erinnerung an den Nationalsozialismus in der politisch-kulturellen Landschaft der Bundesrepublik einen festen Platz ein.

Aus der Vielzahl der NS-Gedenkstätten stellt das vorliegende Themenheft eine beschränkte Auswahl vor. Jedes Fallbeispiel demonstriert jedoch zum einen die Schwierigkeiten bei der Institutionalisierung des Gedenkens. Zum anderen machen die Beiträge die wechselhafte Aneignung dieser Orte und die funktionale Erweiterung ihres Aufgabenspektrums anschaulich. Den Auftakt macht Gabriele Hammermann mit einem Aufsatz zum Konzentrationslager Dachau, das nur dank der beharrlichen Initiative ehemaliger Häftlinge im Jahr 1965 in eine Gedenkstätte umgestaltet wurde. Heute steht der Erinnerungsort am Beginn einer langfristig angelegten Neukonzeption, die unter Einbezug der historischen Gebäude die Frühphase des Lagers bis zur juristischen Aufarbeitung des Geschehens nach 1945 problematisieren möchte. Mit der Gedenk- und Bildungsstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“ behandelt Hans-Christian Jasch einen weiteren national und international bekannten Erinnerungsort. Der Beitrag skizziert die Transformation des Täterortes zu einer der ersten Holocaust-Gedenkstätten in Deutschland und zeigt zugleich, wie sehr die zuletzt überarbeitete Ausstellungskonzeption sowohl neuen museumsdidaktischen Ansprüchen (Inklusion und Diversität) als auch inhaltlichen Erwägungen (Abkehr von einer Gesamtgeschichte des Holocaust) gerecht werden will.

Die nachfolgenden Fallbeispiele – die Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf sowie die „Landesheilanstalt Hadamar“ – thematisieren Orte eines unterschiedlichen Typs. So erinnert der Beitrag von Sebastian Fleermann zur Düsseldorfer Gedenkstätte zunächst daran, wie sehr an diesem Täterort das Räderwerk der NS-Unterdrückungspolitik ineinandergriffen hatte. In den 1980er Jahren wurde hier eine Mahn- und Gedenkstätte eröffnet, die 2015 eine grundlegende Modernisierung erfuhr. Mit der Dauerausstellung „Düsseldorfer Kinder und Jugendliche im Nationalsozialismus“ zielt sie bewusst auch auf ein junges Publikum. In der Gedenkstätte Hadamar stehen die NS-Euthanasie-Verbrechen im Mittelpunkt. Im Blick darauf zeigt der Aufsatz von Jan Erik Schulte eindringlich, dass sich die Frage nach dem angemessenen Umgang mit dieser hoch belastenden Vergangenheit in andauernden Konflikten um die öffentliche Erinnerung niedergeschlagen hat. Dass ein solches Ringen zuweilen mit dem Verlangen um touristische Bedürfnisse in Konflikt geraten kann, thematisiert der abschließende Beitrag von Sven Keller zum Obersalzberg. Die neu konzipierte Dauerausstellung „Idyll und Verbrechen“ stellt das Spannungsverhältnis zwischen der propagandistischen Inszenierung der Landschaft einerseits und der Planung der NS-Verbrechen vor Ort andererseits in das Zentrum ihrer Bildungs- und Vermittlungsarbeit.

Die hier vorgestellten Gedenkstätten verstehen sich zusammen mit vielen weiteren Dokumentationszentren als Orte, an denen Geschichtsbilder hinterfragt und ein kritisches Bewusstsein der Vergangenheit ausgebildet werden können. In der Summe öffnet sich darüber ein weites Feld für die Beschäftigung der Öffentlichkeit mit Geschichte, dem im Zeichen des laufenden Generationenwandels wachsende Bedeutung zukommen dürfte.

Christoph Cornelißen

Inhaltsverzeichnis

INHALT

ABSTRACTS (S.122)

EDITORIAL (S.124)

BEITRÄGE

Gabriele Hammermann
Die KZ-Gedenkstätte Dachau – Zukunft der Erinnerung (S. 125)

Hans-Christian Jasch
Die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz (S. 145)

Bastian Fleermann
„Im Hof des alten Polizeipräsidiums war Hochbetrieb“
Die Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf im alten Stadthaus zwischen nationalsozialistischer Repressionsbürokratie und moderner Erinnerungskultur (S. 162)

Jan Erik Schulte
Hadamar – Geschichte eines deutschen und internationalen Erinnerungsortes der nationalsozialistischen „Euthanasie“ (S. 175)

Sven Keller
Landschaft, Inszenierung und Verbrechen
Der Täterort Obersalzberg (S. 196)

BERICHTE UND KOMMENTARE

Christopher Dowe
Widerstand ausstellen
Umrisse einer deutschen Erinnerungsstätten-Topographie (S. 212)

INFORMATIONEN NEUE MEDIEN

Gregor Horstkemper
Erinnerungsorte und Gedenkstätten zur NS-Zeit im digitalen Raum (S. 228)

LITERATURBERICHT

Miriam Rürup
Jüdische Geschichte
Mehr als Preußen und Verbürgerlichung – neue Forschungsperspektiveen auf die
deutsch-jüdische Geschichte Teil I (S. 231)

NACHRICHTEN (S. 245)

AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 248)

ABSTRACTS

Gabriele Hammermann
Die KZ-Gedenkstätte Dachau – Zukunft der Erinnerung

Das Konzentrationslager Dachau gehörte zu den ersten Konzentrationslagern und bestand als einziges Lager während der gesamten zwölf Jahre der NS-Herrschaft. Es wurde im März 1933 errichtet und diente als Modell für die später errichteten Konzentrationslager. In den zwölf Jahren seines Bestehens waren hier und in den zahlreichen Außenlagern über 200.000 Menschen aus ganz Europa inhaftiert. Mehr als 41.500 kamen ums Leben. Die 1965 errichtete KZ-Gedenkstätte Dachau befindet sich am Beginn einer langfristig angelegten und umfassenden Neukonzeption. Der Umgestaltungsprozess wird mit der Neukonzeption der auf dem Gedenkstättengelände befindlichen Dauerausstellungen beginnen. Langfristig projektierte Vorhaben, vor allem die Einbeziehung historischer baulicher Relikte, begleiten das Projekt.

Hans-Christian Jasch
Die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz
Der Artikel skizziert die Entstehung der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der
Wannsee-Konferenz und ihren Vermittlungsauftrag als eine der ersten Holocaustgedenkstätten und „Täterorte“ im Kontext der Erinnerungskultur in Deutschland. Am Ende dieses Prozesses steht heute eine neue barrierefreie Dauerausstellung in einem „Design für alle“. Die hierbei zu treffenden kuratorischen Entscheidungen wurden auch von den vorherigen Ausstellungen beeinflusst. Anhand der Ziele, die mit der neuen Dauerausstellung verfolgt wurden, bemüht sich der Autor um eine erste vorläufige Bilanz des Prozesses der Ausstellungserarbeitung. Der Text beruht stellenweise auf Texten, Förderanträgen und Berichten zur Finanzierung der neuen Dauerausstellung, die der Autor gemeinsam mit seiner damaligen Stellvertreterin und Leiterin der pädagogischen Abteilung, der nunmehrigen Direktorin der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Dr. Elke Gryglewski, erarbeitet hat.

Bastian Fleemann
„Im Hof des alten Polizeipräsidiums war Hochbetrieb“
Die Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf im alten Stadthaus zwischen nationalsozialistischer Repressionsbürokratie und moderner Erinnerungskultur

Der Beitrag stellt die städtische Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf vor, die 1987 auf Wunsch lokaler Jugendverbände entstanden und seither im „alten Stadthaus“ inmitten der Düsseldorfer Altstadt untergebracht ist. Der aus dem 17. Jahrhundert stammende Gebäudekomplex, einst Jesuitenkolleg und Regierungspräsidium, war während der NS-Zeit sowohl ein Täterort der üblichen Verfolgungsinstanzen (Gestapo, Polizei, SS) als auch der „ordentlichen“ Bürokratie. Hier wurden also nach 1933 nicht nur politische Gegner inhaftiert und misshandelt, sondern die Stadtverwaltung beteiligte sich von hier aus auch an der behördlichen Ausgrenzungs- und Repressionspolitik des NS-Regimes. Heute wird in diesem Gebäude eine moderne Erinnerungskultur praktiziert, die sich in der Forschung, der Vermittlungsarbeit, aber auch in zahlreichen Bildungs- und Gedenkveranstaltungen des wachsenden Instituts manifestiert. Die Mahn- und Gedenkstätte wurde erst 2015 modernisiert und erheblich vergrößert; im Mittelpunkt steht seitdem die Dauerausstellung „Düsseldorfer Kinder und Jugendliche im Nationalsozialismus“.

Jan Erik Schulte
Hadamar – Geschichte eines deutschen und internationalen Erinnerungsortes der nationalsozialistischen „Euthanasie“

In der hessischen Kleinstadt Hadamar stand eine der zentralen Tötungsanstalten der NS-„Euthanasie“. Von 1941 bis 1945 wurden in der dortigen „Landesheilanstalt“ fast 15.000 Menschen ermordet. Lange Zeit gehörten diese Menschen zu den „vergessenen Opfern“ der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur. Wie in einem Prisma findet sich der gesellschaftliche Umgang mit der NS-„Euthanasie“ in Hadamar wieder: frühe Kenntnis über die Morde, Verfolgung zunächst durch die US-Militärjustiz, Leugnung, Mahnmalsetzung, Schweigen, ein gesellschaftlicher Aufbruch, der zur Gründung der Gedenkstätte Hadamar führte, und bis heute ein andauerndes Ringen um die Erinnerung.

Sven Keller
Landschaft, Inszenierung und Verbrechen
Der Täterort Obersalzberg

Am Obersalzberg bei Berchtesgaden unterhielt Hitler eine Bergresidenz, die ihm als zweiter Regierungssitz diente. Die Dokumentation Obersalzberg erschließt den Besucher:innen einen Täterort, an dem Landschaft, propagandistische Inszenierung und die enge Verbindung mit den NS-Verbrechen bis hin zum Völkermord in einem besonderen Spannungs- und Diskrepanzverhältnis zueinander stehen. Die neue, im Entstehen begriffene Dauerausstellung stellt es unter dem Titel „Idyll und Verbrechen“ ins Zentrum der Bildungs- und Vermittlungsarbeit.

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