Wenn wir seit einigen Jahren beobachten können, dass das geschichtswissenschaftliche Interesse an digitalen Spielen zunimmt, dann vor allem aus zwei Gründen: Zum einen steht außer Zweifel, dass digitale Spiele als Sozialisationsinstanzen an Bedeutung gewonnen haben und gewinnen, was die Frage nach den Geschichtsbildern verschärft, die sie vermitteln. Und zum anderen können digitale Spiele als populäre Produkte kultureller, sozialer und politischer Aushandlungen inzwischen auf eine über vierzigjährige Geschichte zurückblicken – was sie selbst zu Zeitzeugen sui generis werden lässt. Die Beiträge des vorliegenden Hefts führen vor diesem Hintergrund die Chancen, aber auch die Risiken digitaler Spiele vor Augen, wobei nicht zuletzt die Spielerinnen und Spieler selbst zu Wort kommen. Den Anfang machen Eugen Pfister und Martin Tschiggerl, die auf die weit verbreitete These eingehen, dass digitale Spiele Geschichte in erster Linie als linear verlaufende Ereignisgeschichte erzählen, die noch dazu in vielen Fällen agonal als Geschichte „großer Männer“ in Szene gesetzt werde. Obwohl es nicht an Spielen fehlt, die diese These bestätigen, haben die Verfasser durchaus auch gegenläufige Beobachtungen gemacht. So erlaube (und erfordere) etwa „Crusader Kings III“ immer wieder neue oder doch veränderte Perspektiven auf historische „Wirklichkeiten“, was nicht zuletzt die spezifischen Logiken des Mediums erkennbar werden lasse.
Tobias Winnerling geht im Anschluss auf die seit 1998 erscheinenden, ausgesprochen erfolgreichen Spiele der „Anno“-Reihe ein, historisch von „Anno 1404“ bis „Anno 1800“, in denen es vor allem um eines geht: um Landnahme im Sinne einer Etablierung kolonialer europäischer Plantagenökonomien. Der Verfasser weist dabei vor allem auf die Kritik an der Reihe hin, so insbesondere am Konzept der „terra nullius“, und macht zugleich auf die diskursiven Schieflagen zwischen Historikerinnen und Historikern und Gamern aufmerksam: Während die einen dafür plädieren, historische Phänomene wie die europäischen Expansion oder den Kolonialismus in ihren Verflechtungen kritisch in die Spiele zu inte grieren und auf diese Weise Reflexionsangebote zu schaffen, fordern die anderen eine pedantische Faktentreue, die im Zusammenspiel mit der jeweiligen Spielmechanik historische Authentizität herstellen und auf diese Weise Spielspaß garantieren soll. Kathrin Trattner schließlich rekonstruiert die Kontroverse um das 2018 erschienene ShooterSpiel „Battlefield V“, in der es unter dem Hashtag „NotMyBattlefield“ vor allem um die prominente Darstellung von Frauen auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs ging. Auf der Grundlage von über 500 Gamer-Tweets kann die Verfasserin zeigen, dass die vornehmlich männliche „Battlefield“Community die Einführung von Frauen als „ahistorischen“ Verstoß gegen die männlich ausgerichteten Kriegsnarrative verstand. Die „Battlefield“Community habe in ihrer Mehrheit keinen Zweifel daran gelassen, in einer Kontinuität zu den Soldaten des Zweiten Weltkriegs zu stehen, die zumeist als Helden wahrgenommen worden seien. Die vermeinte politische Korrektheit des schwedischen Entwicklerstudios der BattlefieldSpiele habe die gefallenen Soldaten entehrt – und damit auch die Spielenden selbst, sei doch die Geschichte beider „Gruppen“ unteilbar. So eindeutig dieser Befund auch sei, so die Verfasserin weiter, muss die Frage nach dem Zusammenhang von historischer Authentizität, digitalem Spiel und kollektiver Gamer-Identität immer noch als Forschungsdesiderat betrachtet werden. Wie die folgenden Beiträge von Stephan Pongratz sowie Paul Schacher und Friederike Seever vor Augen führen, lassen Plattformen wie Youtube oder Instagram durchaus ähnliche Probleme erkennen. Auch für sie gilt: Das Verhältnis von digitaler Geschichtskultur, historischem Lernen und historischer Sinnbildung ist bislang noch kaum untersucht.
ABSTRACTS(S.122)
EDITORIAL(S.124)
BEITRÄGE
Eugen Pfister/Martin Tschiggerl Ranke ex machina? Geschichtstheorie in digitalen Spielen (S. 125)
Tobias Winnerling Farbenfroher Kolonialismus und historische Dissimulation. Die Diskussionen um die „Anno“-Serie (S. 140)
Kathrin Trattner #NotMyBattlefield Deutungskämpfe um ‚historische Authentizität‘ in Gamerdiskussionen (S. 152)
Stephan Pongratz Das Mittelalter auf Youtube. Populärkultur im Gewirr der Referenzen (S. 165)
Paul Schacher/Friederike Seever @ichbinsophiescholl auf Instagram. Chancen und Grenzen historischen Lernens an digitaler Geschichtskultur (S. 178)
Tim Wäller/Nicola Brauch/Christian Wendt „Cäsarenwahnsinn“ gestern und heute. Eine Lernaufgabe zur kritischen Einübung des historischen Vergleichs (S. 194)
BERICHTE UND KOMMENTARE
Ariane Knüsel/Heidi Pechlaner Gut Twistory – ein kooperatives Projekt für Museen und Sekundarstufe II (S. 211)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Alessandra Sorbello Staub Erzähle mir eine Geschichte? Historische Podcasts (S. 219)
LITERATURBERICHT
Raimund Schulz/Uwe Walter Altertum Teil IV (S. 221)
NACHRICHTEN(S. 230)
AUTORINNEN UND AUTOREN(S. 232)
ABSTRACTS
Eugen Pfister/Martin Tschiggerl Ranke ex machina? Geschichtstheorie in digitalen Spielen GWU 74, 2023, H. 3/4, S. 125 –139 In der Forschung zu Geschichte in digitalen Spielen ist es sowas wie ein Allgemeinplatz, dass diese historische Wirklichkeiten vor allem einem positivistischen Geschichtsverständnis folgend darstellen würden. Viele digitale Spiele haben demnach geschichtstheoretisch mehr mit den Historisten des 19. Jahrhunderts gemein als mit rezenten Vorstellungen von Geschichte in der aktuellen Forschung. Dies ist allerdings nicht immer der Fall und schon gar keine immanente Logik des Medienprodukts an sich. Gerade in den letzten Jahren haben Spiele wie Attentat 1942 oder Crusader Kings III gezeigt, dass Geschichte in digitalen Spielen auch multiperspektivisch und als fortwährende Konstruktion verstanden werden kann. Der vorliegende Artikel argumentiert, dass in digitalen Spielen auch Abweichungen von einem historistisch-positivistischen Dogma möglich sind und diese alternativen Darstellungsformen ungemein von der interaktiven Natur digitaler Spiele profitieren. An Hand ausgewählter Beispiele wird deutlich, dass Geschichte in digitalen Spielen ebenso vielfältig sein kann, wie es Geschichte als die Auseinandersetzung mit der menschlichen Vergangenheit grundsätzlich ist.
Tobias Winnerling Farbenfroher Kolonialismus und historische Dissimulation Die Diskussion um die „Anno“-Serie GWU 74, 2023, H. 3/4, S. 140 –151 Die historisch inszenierten Digitalen Spiele der „Anno“-Reihe stellen seit 1998 sehr gut verkaufte geschichtskulturelle Produkte dar. Die historischen Szenarien, die sie zu simulieren beanspruchen, modellieren vom Spätmittelalter bis zur Industrialisierung europäisches koloniales Ausgreifen. Da sie aber stets vorrangig als Wirtschaftssimulationen beworben wurden, wurde die kolonialistische Dimension erst spät diskutiert, mit deutlichen Differenzen zwischen akademischer Geschichtswissenschaft und Spieler:nnen. Der Aufsatz fragt nach Gründen und Auswirkungen dieser diskursiven Schieflage.
Kathrin Trattner #NotMyBattlefield Deutungskämpfe um ‚historische Authentizität‘ in Gamerdiskussionen GWU 74, 2023, H. 3/4, S. 152 –164 Noch bevor Battlefield V im September 2018 erschien, zog das Entwicklerstudio DICE bereits den Zorn zahlreicher Fans der erfolgreichen Spielereihe auf sich. Fans kritisierten, die prominente Darstellung von Frauen im Kontext des Zweiten Weltkrieges sei ‚historisch unauthentisch‘ – der Hashtag #NotMyBattlefield war geboren. Der Artikel geht durch eine Auswertung von Tweets unter dem #NotMyBattlefield der Frage nach, wie ‚historische Authentizität‘ und ‚Richtigkeit‘ als Begriffe in der Debatte konstruiert und funktionalisiert wurden und welche Diskurse um Erinnerung, Identität und Exklusion letztlich darin sichtbar werden.
Das Mittelalter auf Youtube Populärkultur im Gewirr der Referenzen GWU 74, 2023, H. 3/4, S. 165 –177 Der Beitrag stellt einen Streifzug durch die von interessierten Laien geprägte Mittelalter-Rezeption auf der Videoplattform Youtube dar und soll in Fachkreisen Aufmerksamkeit für diese Szene als prägenden Teil 122 GWU 74, 2023, H. 3/4 der öffentlichen Wahrnehmung der Epoche schaffen. Innerhalb der Vielfalt der Videos werden vier Kategorien identifiziert, die sich in ihrer inhaltlichen Schwerpunktsetzung und ihrem methodischen Vorgehen bei der Präsentation jeweils ähneln: Allgemeinwissen/Fun Facts (1.), Reenactment (2.), Dokumentationen (3.) und Reaktionsvideos (4.). Der Überblick offenbart verschiedene Potentiale und Herausforderungen, die sich bei einer zukünftigen Beschäftigung mit dem Thema für die Fachwelt ergeben.
Paul Schacher/Friederike Seever @ichbinsophiescholl auf Instagram. Chancen und Grenzen historischen Lernens an digitaler Geschichtskultur GWU 74, 2023, H. 3/4, S. 178 –193 Auf der Social Media-Plattform Instagram sollte das Projekt @ichbinsophiescholl Einblicke in den Widerstand und den Alltag Sophie Scholls geben und so die junge Generation erreichen. Aber aus dem Spannungsverhältnis zwischen Social Media-Logiken und historischer Sinnbildung erwachsen profunde Herausforderungen. In diesem Beitrag soll das Projekt vorgestellt und geschichtsdidaktisch reflektiert werden.
Tim Wäller/Nicola Brauch/Christian Wendt „Cäsarenwahnsinn“ gestern und heute GWU 74, 2023, H. 3/4, S. 194 –210 In seiner Schrift „Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn“ (1894) parallelisierte Ludwig Quidde die Antike und seine Gegenwart im Deutschen Kaiserreich der 1890er Jahre, um den geschichtlichen Gegenstand als Paradigma zu nutzen, anhand dessen er seine Kritik am „persönlichen Regiment“ Wilhelms II. und an seiner eigenen Zeit argumentativ untermauerte. Daher ermöglicht seine Studie generelle Reflexionen über den Umgang mit Historie und deren Verhältnis zur Politik. Im Beitrag werden die fachwissenschaftliche Sachanalyse des Forschungskontextes zu Quiddes Schrift und deren geschichtsdidaktische Transformation in eine Lernaufgabe vorgestellt, welche die Tücken des historischen Vergleichs als Anlass zur wissenschaftspropädeutischen Förderung der Kompetenzen historischen Denkens von Oberstufenschüler:innen nimmt.
Ariane Knüsel/Heidi Pechlaner Gut Twistory – ein kooperatives Projekt für Museen und Sekundarstufe II GWU 74, 2023, H. 3/4, S. 211 –218 Dieser Beitrag handelt von einem Twistory-Projekt (Twistory = Twitter + History), das auf der Sekundarstufe II als Kollaboration zwischen Schule, Museum und Archiv entstanden ist. Schüler:innen untersuchen darin Museumsobjekte und Archivquellen über die Stadt Baden und schreiben mit ihren Forschungsergebnissen die Geschichte Badens neu. Ihre Erkenntnisse werden in chronologischer Reihenfolge auf Instagram veröffentlicht, mit Verlinkungen zu den vertiefenden Blogtexten auf der Webseite der Schule. So entsteht eine digitale Timeline der Geschichte Badens, die von Schüler:innen verfasst wurde. Der Beitrag beschreibt das Projekt, die Möglichkeiten, die es Schulen und Museen bietet, und die Anforderungen an das Museum, die sich aus der Kollaboration ergeben.