EDITORIAL von Joachim Rohlfes
Lange Zeit beschränkte sich der Einsatz von Filmen im Geschichtsunterricht vornehmlich auf Filmdokumente (z.B. Wochenschauen) und Dokumentarfilme (in Gestalt sog. Lehr- und Unterrichtsfilme). Es gehört zu den bestens gesicherten pädagogischen Erfahrungen, dass Filme bei jungen Menschen nicht nur recht beliebt sind, sondern auch mit besonderer Intensität und entsprechend kräftigen, dauerhaften Eindrücken wahrgenommen werden. Aber es gibt seit je auch Bedenken bezüglich der Suggestivkraft von Filmerlebnissen, zumal bei zeitgeschichtlichen Themen, die zentralen Lernziele einer kritisch-distanzierten Rezeption und Auseinandersetzung konterkarieren können. Insofern mag der Umgang mit Filmen im Geschichtsunterricht oft mit gleichsam "angezogener Handbremse" abgelaufen sein. Heutige junge Menschen sind für das Medium Film besonders aufgeschlossen - häufig sogar mehr als für das Medium Buch. Insofern muss man die visuelle Kompetenz - und das damit einhergehende Engagement - unserer Kinder und Jugendlichen als ausgesprochen hoch veranschlagen, und die Geschichtsdidaktik würde sich geradezu versündigen, wollte sie dieses Potenzial nicht bestmöglich nutzen. Die heute heranwachsende Generation kennt sich in der Regel in der Bildersprache und den Codierungen des modernen Films vorzüglich aus. Hinzu kommt die heutzutage leichte Zugänglichkeit des Filmmaterials (CD, DVD) samt seinen bequemen Vorführtechniken. Vor dem Hintergrund dieser günstigen Voraussetzungen kann man sich besonders darüber freuen, dass nunmehr auch - als drittes Genre der unterrichtsrelevanten Fimgattungen - der Spielfilm endgültig zum Gegenstand des Geschichtsunterrichts geworden ist. Das wird durch die drei Beiträge des vorliegenden Heftes unterstrichen, die alle Spielfilmen gewidmet sind. Aus dem breiten Spektrum der sich hier eröffnenden thematischen Möglichkeiten werden deren drei exemplifiziert. Dem landläufigen Verständnis eines "historischen Spielfilms" entspricht nur der Sophie-Scholl-Film. Er bezieht sich auf tatsächliche Vorgänge und bemüht sich um weitgehende Faktentreue, bietet aber gleichwohl seine eigene Deutung und Botschaft und bedient sich filmkünstlerischer Ausdrucksformen, die seine Aussage wesentlich mitbestimmen. Der auf einem erfolgreichen Roman basierende "Hitlerjunge Quex"-Film ist der Prototyp eines politischen Propagandafilms, wie er für diktatorische Regime kennzeichnend ist. Er bringt deren Menschenbild und Ideologie in penetranter Weise zum Ausdruck. Dennoch kommt auch in dem NS-Streifen so etwas wie ein cineastisches Eigengewicht zur Geltung, das nicht zuletzt zum seinerzeitigen Publikumserfolg des Films beitrug. Der Film "Die Sünderin" von 1950 fungiert in diesem Heft als Beispiel für einen Filmskandal, der die Öffentlichkeit lange bewegte. In diesem Skandal spiegelt sich für den heutigen Betrachter die Gemütslage und Mentalität der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Insofern konzentriert sich das Interesse an diesem Film vor allem auf seine zeitgenössische Rezeption: Filmgeschichte wird zur Mentalitätsgeschichte. Der unterrichtliche Ertrag von Spielfilmen liegt also so gut wie gar nicht im Informationswissen, das sie ggf. vermitteln können. Spielfilme bieten Deutungen an und fordern ihre Zuschauer zu eigenen Deutungen heraus. Sie beschränken sich nicht auf die Dimension des faktischen Geschehens, sondern erwecken - wenn sie gelungen sind - innere Teilnahme und Empathie des Betrachters für die Motive, Probleme, Schicksale der Protagonisten. Und dies mit jener Eindrucksmächtigkeit, die das Filmerleben auszeichnet und auf die der Geschichtsunterricht, ungeachtet möglicher Suggestivwirkungen, nicht verzichten sollte.
Inhalt der Ausgabe
ABSTRACTS (S. 538)
EDITORIAL (S. 539)
BEITRÄGEKurt Schilde "Hitlerjunge Quex" - Welturaufführung am 11. September 1933 in München Blick hinter die Kulissen des NS-Propagandafilms (S. 540)
Benedikt Tondera Die Konstruktion historischer Biographien im Film "Sophie Scholl - Die letzten Tage" (S. 551)
Christian Kuchler Filmskandale im Geschichtsunterricht (S. 565)
INFORMATIONEN NEUE MEDIENGregor Horstkemper/Alessandra Sorbello Staub Geschichtsbilder auf Leinwand und Bildschirm Internet-Angebote zum Thema "Geschichte und Film" (S. 575)
LITERATURBERICHTRudolf Schieffer Frühes und hohes Mittelalter (S. 577)
NACHRICHTEN (S. 603)
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ABSTRACTS
Kurt Schilde"Hitlerjunge Quex" - Welturaufführung am 11. September 1933 in München Blick hinter die Kulissen des NS-Propagandafilms GWU 59, 2008, H. 10, S. 540-550 In dem NS-Propaganda-Spielfilm ,Hitlerjunge Quex‘ wird der Tod des 15jährigen Hitlerjungen Herbert Norkus im Januar 1932 durch kommunistische Täter in Berlin bearbeitet. Das Drehbuch basiert auf der fiktionalen Darstellung in dem Roman von Karl Aloys Schenzinger ,Hitlerjunge Quex‘ (Berlin 1932). Der Erfolg der massenhaften und andauernden Popularisierung und Martyriologisierung des Hitlerjungen Herbert Norkus bzw. ,Hitlerjungen Quex‘ wird mit der Propagierung der Idee der ,Volksgemeinschaft‘ und der Funktion als Gründungsmythos der Hitler-Jugend zu erklären versucht.
Benedikt TonderaDie Konstruktion historischer Biographien im Film "Sophie Scholl - Die letzten Tage" GWU 59, 2008, H. 10, S. 551-564 Der Film "Sophie Scholl - Die letzten Tage" von Marc Rothemund und Fred Breinersdorfer erzählt die Biographie Sophie Scholls anhand der fünf letzten Tage ihres Lebens. Die Analyse zeigt, wie die Produktion trotz kleiner Schwächen ein differenziertes und tiefgründiges Bild der jungen Studentin und ihres Widersachers, des Gestapo-Beamten Robert Mohr, zeichnet. So stellt "Die letzten Tage" ein positives Beispiel für einen Geschichtsfilm dar, weil sorgfältige Quellenrecherche und ausgewogene Charaktere einer wirkungsvollen Dramaturgie nicht im Wege stehen.
Christian KuchlerFilmskandale im Geschichtsunterricht GWU 59, 2008, H. 10, S. 565-574 Spielfilme haben in den letzten Jahren zunehmend Eingang in den Geschichtsunterricht gefunden, ihre zeitgenössische Rezeption geriet dabei jedoch nicht in den Blick. Hier sollen neue Perspektiven aufgezeigt und öffentliche Diskussionen um einzelne Produktionen für das historische Lernen nutzbar gemacht werden. Exemplarisch wird an "Die Sünderin", dem größten deutschen Kinoskandal, aufgezeigt, dass öffentliche Empörung über Spielfilme stets Rückschlüsse auf die Disposition von Gesellschaften zulassen. Daneben vermittelt die Analyse von historischen Skandalen Schülerinnen und Schülern Medienkompetenzen und eröffnet Möglichkeiten zur fächerübergreifenden Kooperation.