Editorial von Michael Sauer
Erinnerungsgeschichte, Geschichtskultur, Geschichtspolitik, Public History, Angewandte Geschichte – die Begriffe, mit denen eine in der Öffentlichkeit stattfindende oder auf die Öffentlichkeit zielende Verhandlung und Verwendung von Geschichte bezeichnet wird, haben sich in den letzten Jahren vermehrt. Spürbar zugenommen hat auch die Zahl einschlägiger Sammelbande, die den einen oder anderen Begriff im Titel führen. Seit dem Mainzer Historikertag 2012 gibt es eine Arbeitsgruppe "Angewandte Geschichte/Public History" des Historikerverbandes. An diversen Universitäten existieren mittlerweile Public-History-Studiengange, und 2012 hat die Universität Heidelberg eine Professur für "Angewandte Geschichtswissenschaft – Public History" eingerichtet.
Das Feld insgesamt hat also Konjunktur. Mit einer genaueren Abgrenzung der Begriffe und der damit bezeichneten Arbeits- und Forschungsfelder ist es freilich nicht einfach. Das galt schon für Erinnerungsgeschichte und Geschichtskultur: Als Unterscheidung ließe sich wohl am ehesten festhalten, dass Erinnerungsgeschichte starker auf Prozesse individuellen und kollektiven Erinnerns abhebt und dabei ihr Interesse vornehmlich auf die (weitere) Gegenwart richtet. Geschichtskultur ist zwar seit langem ein konzeptioneller Leitbegriff der Geschichtsdidaktik, Erinnerungsgeschichte hat sich jedoch mittlerweile im Sprachgebrauch nicht nur von Historikern stärker etabliert. Daneben gibt es die Variante der Erinnerungskultur, mit der durchaus die Gefahr einer Setzung von bestimmten erwünschten und zu pflegenden Erinnerungen verbunden sein kann, wie dies in den jüngst von der Kultusministerkonferenz verabschiedeten "Empfehlungen zur Erinnerungskultur als Gegenstand historisch-politischer Bildung in der Schule" zumindest anklingt.
Public History und Angewandte Geschichte werden – wie in den oben angeführten Beispielen – gerne gemeinsam und ohne den Versuch einer Abgrenzung verwendet. Einen plausiblen Vorschlag dafür machen die Autorinnen und Autoren des Docupedia-Zeitgeschichte-Eintrags "Diskussion Angewandte Geschichte": "Im Unterschied zur Public History, die sich im Wesentlichen mit der Vermittlung von historischen Themen in der Öffentlichkeit beschäftigt, sollen unter Angewandter Geschichte insbesondere die Akteure und deren Mitwirkungsmöglichkeiten in den Blick genommen werden." Eben solche Akteure und ihre Aktivitäten thematisiert das vorliegende Heft der GWU. Es geht dabei um eine Unternehmensgeschichte, die zwar von Historikerinnen und Historikern, aber (zumeist) außerhalb universitärer Kontexte durch historische Dienstleister als von Firmen bezahlte Auftragsarbeit geschrieben wird. Was sind die Intentionen, Konzeptionen, Spielräume und Zwange, die dabei zum Tragen kommen?
Einführend gibt Thomas Prüfer einen Überblick über den Markt angewandter Unternehmensgeschichte; dabei führt er auch Zahlen zu den beteiligten Akteuren und ihren Produkten an. Das vielfach kritisch diskutierte Verhältnis von akademischer und angewandter Unternehmensgeschichte erörtert Roman Köster. Er konzediert zwar bei der angewandten Forschung erkennbare strukturelle Zwange, sieht aber weniger Unterschiede in der äußeren Einflussnahme und der wissenschaftlichen Qualität, als dies zumeist aus akademischer Perspektive geschieht. Die generelle Frage von Ethik- und Verhaltenskodizes in der historischen Forschung diskutieren im internationalen Kontext Cord Arendes und Angela Siebold. Mit der Volkswagen AG und ihren historischen Aktivitäten stellt Manfred Grieger einen Pionier selbstkritischer Unternehmensgeschichtsschreibung vor. Ingo Stader schließlich liefert anhand eines Fallbeispiels einen Einblick in die konkrete Arbeit einer, nämlich der-eigenen, Geschichtsagentur. Insgesamt ergeben die Beiträge ein Bild der praktischen Aktivitäten, vor allem aber auch der Selbstverständigungsprozesse einer noch jungen Angewandten Geschichte.
INHALT DER GWU 3–4/2015
ABSTRACTS (S. 130)
EDITORIAL (S. 132)
BEITRÄGE
Thomas Prüfer Markt und Möglichkeiten angewandter Unternehmensgeschichte (S. 133)
Roman Köster Zum Verhältnis von akademischer und angewandter Unternehmensgeschichte (S. 141)
Cord Arendes/Angela Siebold Zwischen akademischer Berufung und privatwirtschaftlichem Beruf. Für eine Debatte um Ethik- und Verhaltenskodizes in der historischen Profession (S. 152)
Manfred Grieger Unternehmensgeschichte aus dem Unternehmen. Die Historische Kommunikation der Volkswagen Aktiengesellschaft zwischen Wissenschaft, Marketing und Event (S. 167)
Ingo Stader Das Jubiläum als Kommunikationskampagne (S. 174)
Pierre Monnet Die französische Geschichtswissenschaft auf dem Weg zur Globalgeschichte (S. 181)
Joachim Rohlfes Antidemokratische Einstellungen im Weimarer Staat und in der Bundesrepublik (S. 198)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Gregor Horstkemper Zwischen Geschichtsmarketing und kritischer Gesellschaftsgeschichte (S. 216)
LITERATURBERICHT
Daniel Schönpflug Geschichte Frankreichs in transnationaler Perspektive Teil I (S. 219)
NARICHTEN (S. 236)
AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 240)
ABSTRACTS DER GWU 3–4/2015
Thomas Prüfer Markt und Möglichkeiten angewandter Unternehmensgeschichte GWU 66, 2015, H. 3/4, S. 133 – 140
Die Unternehmensgeschichte ist seit gut 20 Jahren ein expandierendes Feld, sowohl im wissenschaftlichen als auch im öffentlichen Raum. Seit Ende der 1990er Jahre bietet eine wachsende Zahl von Geschichtsagenturen und freiberufichen Historikern Unternehmen Geschichtsberatung und -vermittlung als historische Dienstleistung an. Heute sind es etwa 40. Der Markt ist groß: Mehr als 400 mittlere und große Firmen können in Deutschland jedes Jahr ein rundes Jubiläum feiern. Immer häufger greifen sie auf die Unterstützung von historischen Dienstleistern zurück, verbunden mit hohen Ansprüchen an die fachliche, kommunikative und organisatorische Professionalität.
Roman Köster Zum Verhältnis von akademischer und angewandter Unternehmensgeschichte GWU 66, 2015, H. 3/4, S. 141 – 151
Der vorliegende Text setzt sich mit dem Verhältnis von angewandter und akademischer Unternehmensgeschichte auseinander. Dabei wird zunächst dargelegt, dass sich die wissenschaftliche Unternehmensgeschichte gerade in Auseinandersetzung mit der bezahlten Auftragsforschung entwickelt hat, wobei nicht zuletzt die Frage der NS-Vergangenheit deutscher Unternehmen gleichfalls zu einer "Verwissenschaftlichung" von letzterer führte. Gleichwohl bringt Auftragsforschung gewisse strukturelle Zwänge mit sich, die sie von der Forschung im akademischen Kontext notwendigerweise unterscheidet. Das führt jedoch nicht zwingend dazu, dass angewandte und akademische Unternehmensgeschichte im Gegensatz zueinander stehen müssen; vielmehr können sie sich produktiv ergänzen.
Cord Arendes/Angela Siebold Zwischen akademischer Berufung und privatwirtschaftlichem Beruf. Für eine Debatte um Ethik und Verhaltenskodizes in der historischen Profession GWU 66, 2015, H. 3/4, S. 152 – 166
Durch die Verzahnung der Geschichtswissenschaft mit außeruniversitären historischen Akteuren treten zunehmend ethische Herausforderungen auf. Sie reichen von Qualitätsstandards über Transparenzkriterien bis hin zu verwaltungs- und arbeitsrechtlichen Fragen und betreffen akademisch und privatwirtschaftlich arbeitende Historiker sowie Studierende, Auftraggeber und Rezipienten. Wo liegen die Kriterien für eine gute wissenschaftliche Praxis und in welchem Verhältnis stehen diese zu außeruniversitären Tätigkeitsfeldern? Können die internationalen und interdisziplinären Vorarbeiten zu Verhaltens- und Ethikkodizes hierfür nutzbar gemacht werden? Für Lösungswege ist ein breiter Austausch über die Grenzen der akademischen Geschichtswissenschaft hinaus notwendig.
Manfred Grieger Unternehmensgeschichte aus dem Unternehmen. Die Historische Kommunikation der Volkswagen Aktiengesellschaft zwischen Wissenschaft, Marketing und Event GWU 66, 2015, H. 3/4, S. 167 – 173
Als Ergebnis der öffentliche Auseinandersetzungen um die Rolle von Unternehmen im Nationalsozialismus erfolgte seit den 1990er Jahren eine Verwissenschaftlichung der Unternehmenskommunikation zu historischen Themen. Am Beispiel von Volkswagen werden ergänzend die jüngeren Trends zur Nutzung von Geschichte für verkaufs- und imagesteigernde Zwecke ("History Marketing") oder zur Eventisierung aufgezeigt. Hybride Geschichtsdarstellungen nehmen zu, wissenschaftsfundierte Unternehmensgeschichten entstehen inzwischen auch innerhalb von Unternehmen.
Ingo Stader Das Jubiläum als Kommunikationskampagne GWU 66, 2015, H. 3/4, S. 174 – 180
Der Bedarf an historischen Dienstleistungen außerhalb öffentlicher Kultureinrichtungen ist in den letzten Jahren stark gewachsen. Dieses Marktbedürfnis spiegelt sich auch in der zunehmenden Professionalisierung der Geschichtsagenturen wider. Andererseits stellen gerade diese marktgetriebenen Anforderungen und die kommerziellen Interessen die Historiker vor die schwierige Aufgabe, sich nicht als "Schmuckwerk" für Werbebotschaften des Marketing instrumentalisieren zu lassen. Die Geschichtsagentur H&C Stader erläutert an Beispielen aus der Praxis, welche Aufgaben und welche Rolle einer modernen und professionell arbeitenden Geschichtsagentur zukommen, die ihren Schwerpunkt auf Firmenjubiläen gelegt hat.
Pierre Monnet Die französische Geschichtswissenschaft auf dem Weg zur Globalgeschichte GWU 66, 2015, H. 3/4, S. 181 – 197
Im Aufsatz wird versucht, die unterschiedlichen Etappen der für Frankreich spezifischen Entwicklung der Globalgeschichte zu rekonstruieren. Ausgangspunkt ist dabei das gesteigerte Interesse für Globalgeschichte. Es werden Schwierigkeiten bei der Rezeption und dem Schreiben einer weltumspannenden Geschichte dargelegt, die dort trotz der günstigen Ausgangssituation und dem Erbe Braudels existieren. Anschließend wird gezeigt, dass in den gegenwärtigen Tendenzen in Frankreich eine Geschichte der Verbindungen und Kontakte bevorzugt wird und man sich dabei mit einer relativ ungenauen Begrifflichkeit bezüglich der "histoire-monde" (Weltgeschichte) begnügt. Der Artikel unterstreicht den Gewinn einer Variation der Untersuchungsebenen und -maßstäbe. Abschließend wird das kollektive Unternehmen einer Globalgeschichte des 15. Jahrhunderts vorgestellt.
Joachim Rohlfes Antidemokratische Einstellungen im Weimarer Staat und in der Bundesrepublik GWU 66, 2015, H. 3/4, S. 198 – 215
Der Artikel geht der in der Fachliteratur wiederholt erörterten Frage nach, inwieweit es Parallelen oder sogar Gemeinsamkeiten zwischen antidemokratischen bzw. rechts-konservativen Einstellungen in der Weimarer und in der Bundesrepublik gegeben hat. Er bezieht sich dabei auf ausgewählte Beispiele, die sowohl Einzelpersonen als auch Berufsgruppen der Juristen, Theologen und Pädagogen betreffen. Es geht ihm insoweit um die intellektuellen Eliten, deren Einfluss auf die politische Meinungsbildung über die Epochenschwellen von 1918 und 1945 hinweg deutliche Kontinuitäten erkennen lässt.