Editorial von Michael Sauer
Schon seit längerer Zeit nehmen die Stundenzahlen für das Schulfach Geschichte ab. Fremdsprachen und Naturwissenschaften, deren unmittelbarer praktischer Nutzen sich auf den ersten Blick leichter erschließt, werden von der Bildungspolitik bevorzugt behandelt. Das Fach Geschichte ist längst nicht mehr durchgehend mit zwei Wochenstunden pro Schuljahr bedacht und muss um seine Substanz fürchten. Droht damit gänzlich die Dimension des Historischen in der Schule zu verkümmern?
Will man diese Frage beantworten, so muss man den Blick auch auf die anderen kulturwissenschaftlichen Fächer richten. Denn für die jeweiligen Wissenschaftsdisziplinen – die Literaturen und Sprachen, Kunst, Musik, Religion – ist die historische Betrachtungsweise konstitutiv, und auch in den Unterrichtsfächern hatte sie lange Zeit einen traditionellen Ort. Freilich scheint sich dies seit einiger Zeit verändert zu haben: Im Kunstunterricht steht seit langem die eigene Gestaltungsarbeit der Schüler im Mittelpunkt; der Musikunterricht versucht die Schüler zu gewinnen, indem er sich verstärkt modernen Musikrichtungen zuwendet; und in den Fremdsprachen erhält die Alltagskommunikation ein immer stärkeres Übergewicht. Eine – verallgemeinernd gesprochen – historische Betrachtung kultureller Hervorbringungen des Menschen findet augenscheinlich immer seltener statt.
Damit haben sich auch die Voraussetzungen für einen weiteren und vergleichenden Blick in die Vergangenheit verschlechtert. Dabei bietet sich dieser in vielen Fällen geradezu an, wenn man das Profil einer Epoche, ihre Mentalität, ihre Denk- und Ausdrucksweisen genauer kennen lernen möchte: Der Begriff „bürgerliches Zeitalter“ wird weitaus sinnfälliger, wenn man auch die Literatur- und Musikgeschichte hinzuzieht. Der Vergleich verschiedener Fächer ermöglicht auch Reflexionen über fachspezifische chronologische Strukturierungsmodelle: Warum wird ein Epochenbegriff wie „Romantik“ in Kunst, Musik und Literatur so unterschiedlich verstanden? Nun waren derartige Querbezüge zwischen den einzelnen Fächern auch früher nicht gerade üblich, aber doch immerhin ansatzweise (auf dem Gymnasium) möglich. Inzwischen sind sie wohl schwieriger geworden.
Der thematische Schwerpunkt dieses Heftes vereint vier Beiträge von Didaktikern, die die aktuelle Situation in ihrem Fach charakterisieren: Ina Karg (Deutsch), Dietrich Grünewald (Kunst), Andreas Lehmann-Wermser (Musik), Bernd Schröder (Religion). Die einander ähnelnden Befunde bestätigen die oben angedeutete Diagnose: Zwar betrachten alle Autoren die historische Dimension für ihr Fach als zentral, kommen aber nicht umhin, eine erkennbare Enthistorisierung in Richtlinienvorgaben, Lehrbuchkonzepten und unterrichtspraktischen Angeboten zu konstatieren. Ethische und ästhetische Bildung lösen sich von historischer Kontextualisierung und Reflexion. Im Zeichen der Kompetenzorientierung scheint sich die Hinwendung zu einem Anwendungs- und Gegenwartsbezug weiter zu verstärken.
Angesichts dieses Trends könnte es umso wichtiger sein, die Potenziale zu nutzen, die in einer stärkeren Kooperation zwischen den Fächern liegen – ohne dass dafür gleich der anspruchsvolle und beileibe nicht unumstrittene Begriff des „fächerübergreifenden Unterrichts“ bemüht werden muss. In vielen Fällen bietet sich eine intensivere themenbezogene Abstimmung zwischen zwei oder mehreren Fächern an: Beim Thema Reformation oder Islam zwischen Geschichte und Religion, beim Barock zwischen Geschichte, Kunst und Musik, beim Thema Aufklärung zwischen Geschichte, Deutsch oder Philosophie, im Hinblick auf historische Lieder oder Nationalmusiken zwischen Geschichte und Musik, für Denkmäler und Architektur zwischen Geschichte und Kunst. Am leichtesten realisieren lassen sich solche Synergien natürlich dann, wenn die beteiligten Fächer von derselben Lehrkraft unterrichtet werden und diese auch über die einschlägigen Fakultates verfügt.
INHALT DER GWU 7-8/2011
ABSTRACTS (S. 386)
EDITORIAL (S. 388)
BEITRÄGE
Ina Karg Geschichte und Geschichtlichkeit von Sprache und Literatur. Ein Blick auf den Vermittlungsauftrag des Deutschunterrichts (S. 389)
Dietrich Grünewald Schnittstelle Bild. Kunstunterricht und Geschichte (S. 402)
Andreas Lehmann-Wermser Die Musikdidaktik und ihr schwieriges Verhältnis zum geschichtlichen Lernen (S. 413)
Bernd Schröder Geschichtliches im Religionsunterricht (S. 422)
Christian Kuchler Die Edition „Zeitungszeugen“ und die Rezeption nationalsozialistischer Tagespresse im Geschichtsunterricht (S. 433)
Christian Heuer Gütekriterien für kompetenzorientierte Lernaufgaben im Fach Geschichte (S. 443)
Rainer Pöppinghege Pedanterie im Cyberspace. Zum Geschichtsbewusstsein von Computerspielern (S. 459)
Marco Wottge Der Einsatz von Computerspielen im Geschichtsunterricht am Beispiel von „Caesar III“ (S. 469)
DISKUSSION
Thomas Martin Buck Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Plädoyer für eine epochenspezifische Differenzierung historischen Lernens (S. 478)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Gregor Horstkemper/Alessandra Sorbello Staub Arpeggio infinito. Musikgeschichte in kulturhistorischer Vernetzung (S. 488)
LITERATURBERICHT
Magnus Brechtken Geschichte der nationalsozialistischen Herrschaft, Teil 3 (S. 491)
NACHRICHTEN (S. 508)
AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 512)
ABSTRACTS DER GWU 7-8/2011
Ina KargGeschichte und Geschichtlichkeit von Sprache und Literatur. Ein Blick auf den Vermittlungsauftrag des Deutschunterrichts GWU 62, 2011, H. 7/8, S. 389–401
Sprache und Literatur sind genuin historische Erscheinungen. Der Beitrag geht der Frage nach, ob und inwiefern dies bei der Vermittlung bedacht wird. In der Vergangenheit ist dies seitens der Germanistik und des Deutschunterrichts unterschiedlich und in unterschiedlichen Modellierungen erfolgt. Für die Gegenwart werden bildungspolitische Vorgaben und unterrichtspraktische Angebote in den Blick genommen.
Dietrich GrünewaldSchnittstelle Bild. Kunstunterricht und Geschichte GWU 62, 2011, H. 7/8, S. 402–412
Gegenstand des Kunstunterrichts sind Bilder. Gemeint sind damit Kunstwerke, aber auch die Bilder (z. B. Plakate, Karikaturen, Fotodokumente), die gemeinhin nicht zur Kunst gerechnet werden. Gemeint sind Bilder unserer Zeit, aber auch historische Bilder. Primäres Ziel des Kunstunterrichts ist die Förderung von Bildkompetenz, das meint den adäquaten (kritisch wertenden) rezeptiven Umgang mit Bildern sowie die Förderung des eigenen bildsprachlichen Vermögens. Bilder sind (auch) historische Dokumente; der historische Kontext ihrer Entstehungszeit ist mithin zum Verständnis von Bildern und ihrer Einschätzung ein notwendig einzubeziehender Faktor bei Analyse und Interpretation. In der Unterrichtspraxis kommt freilich der historische Anteil oft zu kurz.
Andreas Lehmann-WermserDie Musikdidaktik und ihr schwieriges Verhältnis zum geschichtlichen Lernen GWU 62, 2011, H. 7/8, S. 413–421
Musik hat einen Doppelcharakter als sinnliche Erfahrung und als gesellschaftlich situierte Erscheinung. Diese Eigenschaft beeinflusst in der Musikpädagogik das fachdidaktische Denken, die unterrichtliche Umsetzung an den Schulen und die Wahrnehmung der Schüler. Für die Entwicklung „historischen Denkens“ ist das nicht förderlich, obwohl in der Zusammenarbeit der Fächer Musik und Geschichte prinzipiell ein großes Potenzial liegt.
Bernd SchröderGeschichtliches im Religionsunterricht GWU 62, 2011, H. 7/8, S. 422–432
Der Artikel mustert Lehrpläne und Schulbücher unter der Fragestellung, welches Gewicht geschichtliche Themen im Evangelischen und Katholischen Religionsunterricht der Gegenwart haben und welche dieser geschichtlichen Themen v.a. Beachtung finden. Zu den Ergebnissen zählt, dass sich bundesweit ein überschaubarer Kanon von kirchengeschichtlichen und religionsgeschichtlichen (!) Wissensbeständen herausgebildet hat, der im Religionsunterricht nicht fehlen darf. Im Zeichen der Kompetenzorientierung treten geschichtliche Themen in die zweite Reihe – sie werden anderen Themen zugeordnet und dienen v.a. dazu, den Aufbau dieser oder jener Kompetenz zu erreichen.
Christian KuchlerDie Edition „Zeitungszeugen“ und die Rezeption nationalsozialistischer Tagespresse im Geschichtsunterricht GWU 62, 2011, H. 7/8, S. 433–442
Die NS-Propaganda stützte sich vorrangigauf den Einsatz von Medien, so eine populäre Auffassung. Die Verbreitung zahlreicher Medienprodukte der Jahre 1933 bis 1945 ist daher bis heute verboten. Umso mehr Aufsehen erregt die Edition "Zeitungszeugen" mit ihrem Ansatz, die Tagespresse der NS-Zeit unverändert zum Verkauf zu bringen. Unklar blieb bislang, welche Rezeptionsvorgänge die historischen Zeitungen beim Leser hervorrufen. Dies untersucht der Beitrag in einer qualitativen Studie, bei welcher Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II sich im Geschichtsunterricht mit den historischen Zeitungen beschäftigen. Demnach sind Lernende der gymnasialen Oberstufe durchaus in der Lage, sich reflektiert und kritisch mit Printmedien der NS-Zeit auseinanderzusetzen.
Christian HeuerGütekriterien für kompetenzorientierte Lernaufgaben im Fach Geschichte GWU 62, 2011, H. 7/8, S. 443–458
Aufgabenformate nehmen im kompetenzorientierten Geschichtsunterricht eine zentrale Stellung ein. Wegen dieser konstatierten Bedeutung von Aufgaben für institutionalisierte Prozesse historischen Lernens verwundert es, dass es die Disziplin Geschichtsdidaktik bislang, von wenigen Ausnahmen abgesehen, versäumt hat, sich dieser Nahtstelle eines guten Geschichtsunterrichts eigens zu widmen. Diese Lücke versucht der folgende Beitrag zu schließen. Ausgehend von einer fachspezifisch profilierten Aufgabenkultur historischen Lehrens und Lernens werden im Beitrag Gütekriterien für die Praxis der Aufgabenanalyse und -weiterentwicklung benannt und zur Diskussion gestellt.
Rainer PöppinghegePedanterie im Cyberspace. Zum Geschichtsbewusstsein von Computerspielen GWU 62, 2011, H. 7/8, S. 459–468
Computerspiele mit historischem Hintergrund erreichen hohe Verkaufszahlen, doch zum Gegenstand wissenschaftlicher Analyse hat die Geschichtsdidaktik sie bisher nur am Rande gemacht. Für das Nutzerverhalten gilt dies erst recht: Darüber, ob und in welcher Form die in den Computerspielen vermittelten – oft problematischen – Geschichtsbilder von den Spielern angenommen werden, ist nahezu nichts bekannt. Der Artikel analysiert einschlägige Diskussionsforen, in denen die Nutzer sich über den historischen Gehalt der Spiele austauschen. Darin zeigt sich das spezifische Geschichtsverständnis der historischen Laien: den Spielern geht es vorrangig um Genauigkeit im Detail, weniger um strukturelle Aspekte in den geschichtlichen Darstellungen.
Marco WottgeDer Einsatz von Computerspielen im Geschichtsunterricht am Beispiel von „Caesar III“ GWU 62, 2011, H. 7/8, S. 469–477
Computerspiele mit historischer Thematik gehören zum Alltag vieler Schülerinnen und Schüler. Da derartige Computerspiele sehr wahrscheinlich das Geschichtsbewusstsein der Schülerinnen und Schüler beeinflussen, ist ein kritisch-reflektierter Umgang mit ihm unerlässlich. Am Beispiel des Computerspiels „Caesar III“ wird in diesem Beitrag gezeigt, wie man Computerspiele im Unterricht einsetzen kann. Dazu wird im Vorfeld das vermittelte Geschichtsbild analysiert.