Editorial
von Christoph Cornelißen
Über einen langen Zeitraum ist die international vergleichende Geschichte des Wohlfahrtsstaates als die Erfolgsgeschichte eines europäischen Sonderwegs geschrieben worden. Das war zum einen aber nur deswegen möglich, weil dabei grundlegende innereuropäische Unterschiede in den Hintergrund gedrängt wurden. Zum anderen hat die einschlägige historische und sozialwissenschaftliche Forschung dem Transfer europäischer sozialpolitischer Institutionen und Praktiken innerhalb Europas sowie von Europa nach "Übersee" meist eine nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt. Erst seitdem dieses Forschungsfeld über neue Ansätze der transnationalen und der Globalisierungsforschung stärker in den Mittelpunkt gerückt ist, erfahren die außer-europäischen Wohlfahrtsstaaten sowie ihre jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Bedingungsgefüge ebenfalls eine höhere Aufmerksamkeit.
Neuere Studien zeigen, dass es heute einer stärker kulturhistorischen Durchdringung dieses Forschungsfeldes bedarf. Erst dann lässt sich Genaueres darüber sagen, wie der Wohlfahrtsstaat soziale Einstellungen und Normen beeinflusst hat beziehungsweise in welchem Maße er selbst jeweils das Objekt sozialmoralischer Vorstellungswelten darstellte. Des Weiteren bestehen bis heute erhebliche Wissensdefizite über die Frage, welche sozialpolitischen Ordnungen angesichts eines wachsenden Sektors nur informeller Beschäftigungen, aber auch unter dem Druck instabiler wirtschaftlicher Konjunkturen langfristig dem Anspruch genügen, gesellschaftliche Stabilität zu befördern.
Um zunächst eine intellektuelle Ordnung in die inzwischen breit ausgefächerte Debatte zum "europäischen Wohlfahrtsstaat" zu bringen, bieten Christoph Cornelißen und Nicole Kramer einleitend einen Überblick über die Debatten zu "wohlfahrtstaatlichen Regimen", die sie danach mit der Realität konkreter Ordnungen innerhalb unterschiedlicher Räume Europas kontrastieren. Auf diese Weise können sie einerseits deutliche Entwicklungsunterschiede oder sogar Gegensätze herausarbeiten, andererseits beleuchten sie neuere Tendenzen zu einer Europäisierung von Wohlfahrtsregimen. Andreas Eckert widmet sich sodann in seinem Beitrag einem weithin unbekannten Kapitel der Geschichte des Wohlfahrstaates, wurden doch südlich der Sahara seit den 1950er Jahren grundlegende sozialpolitische Institutionen aufgebaut, die jedoch bereits im nachfolgenden Jahrzehnt wieder zusammenbrachen. An ihre Stelle rückte ein internationaler Diskurs über Prekarität und Flexibilität, in denen die Rechte von Einzelnen auf soziale Sicherheit und Arbeitsschutz kaum mehr eine Rolle spielten. Im Anschluss daran behandelt Nikolaus Werz mit der Geschichte des Sozialstaates in Lateinamerika ein in Europa ebenfalls kaum bekanntes Thema. Tatsächlich wurde jedoch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in vielen Ländern Südamerikas ein neuer Verfassungskompromiss geschmiedet, der wesentliche sozialpolitische Neuerungen nach sich zog. Rasch aber entwickelten diese sich zu einem Spielball gegensätzlicher politischer Interessen, und auch die stark von Rohstoffeinnahmen abhängigen Ökonomien setzten der inneren Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaates enge Grenzen. Obwohl die sozialpolitischen Debatten aus den USA im Vergleich dazu insgesamt bekannter sind, werden sie in Europa meist allein unter dem Gesichtspunkt der Differenz wahrgenommen. Genau das reicht aus der Sicht von Marcus Gräser tatsächlich nicht aus, denn die Besonderheiten des nordamerikanischen Weges erklärten sich in erster Linie über eine vergleichsweise frühe Demokratisierung und den allgemeinen Primat der Wohlfahrtsgesellschaft vor dem Wohlfahrtsstaat. Auch in den Jahren des New Deal sei es zu einer nur partiellen Übernahme des bis dahin abgelehnten europäischen Modells gekommen.
Nicht nur an diesem Fall, sondern auch den anderen hier diskutierten Beispielen zeichnen sich insgesamt die großen Potenziale einer transnational ausgerichteten Erforschung des Wohlfahrtstaates ab.
INHALT DER GWU 7–8/2016
ABSTRACTS (S. 386)
EDITORIAL (S. 388)
BEITRÄGE
Christoph Cornelißen/Nicole Kramer Der Europäische Wohlfahrtsstaat: Ursprünge, Modelle, Herausforderungen (S. 389)
Andreas Eckert Der kurze Sommer des Wohlfahrtstaates. Wohlfahrt, Arbeit und Informalität in Afrika seit dem Ersten Weltkrieg (S. 408)
Nikolaus Werz Zur Geschichte des "Sozialstaates" in Lateinamerika (S. 422)
Marcus Gräser Wohlfahrtsgesellschaft oder Wohlfahrtsstaat? Zu einem Zielkonflikt in der Herausbildung der Wohlfahrtsstaatlichkeit in den USA seit dem Ende des 19. Jahrhunderts (S. 441)
Annerose Menninger Quentin Tarantinos "Django Unchained" (2012). Ein historischer Experimentalfilm als Geschichtsvermittler (S. 455)
BERICHTE UND KOMMENTARE
Susanne Brandt Das "In Flanders Fields Museum" in Ypern (S. 471)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Alessandra Sorbello Staub Web-Angebote zum Sozialstaat und seiner Geschichte (S. 477)
LITERATURBERICHT
Dietmar von Reeken/Michael Sauer Geschichtsdidaktik, Teil II (S. 480)
NACHRICHTEN (S. 500)
AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 504)
ABSTRACTS DER GWU 7–8/2016
Christoph Cornelißen/Nicole KramerDer Europäische Wohlfahrtsstaat: Ursprünge, Modelle, Herausforderungen GWU 67, 2016, H. 7/8, S. 389 – 407
Die Geschichte des Wohlfahrtsstaates ist über einen langen Zeitraum vorzugsweise als die Erfolgsgeschichte eines europäischen Sonderwegs geschrieben worden. Tatsächlich weisen jedoch sowohl sozialpolitische Programme als auch deren institutionelle Seite in Europa erhebliche Unterschiede auf. Vor diesem Hintergrund werden zunächst sozialwissenschaftliche Ordnungsmodelle vorgestellt, denen sich eine Diskussion zu "Wohlfahrtsregimen" nach regionalen Schwerpunkten anschließt. Den Abschluss bildet ein Überblick zur Europäisierung sowie zu transnationalen Trends in der Erforschung des Wohlfahrtsstaates.
Andreas EckertDer kurze Sommer des Wohlfahrtsstaates. Wohlfahrt, Arbeit und Informalität in Afrika seit dem Ersten Weltkrieg GWU 67, 2016, H. 7/8, S. 408 – 421
Dieser Beitrag konzentriert sich vornehmlich auf den "kurzen Sommer des Wohlfahrtsstaates" südlich der Sahara in den 1950er und 60er Jahren, als viele afrikanische Staaten zumindest ein moderates Wachstum aufwiesen, die Lebenserwartung beträchtlich anstieg und Bildung für weitere Kreise zugänglich wurde. Die auf die Ölkrise folgende weltweite Rezession versetzte dem zarten Pflänzchen "Wohlfahrt" jedoch einen massiven Schlag. Eine neue Verbindung von Prekarität und Flexibilität trat hervor, die bald mit der Kategorie "informell" erfasst wurde. Im internationalen Diskurs verwandelten sich die Rechte der Kolonisierten auf soziale Sicherheit und Arbeitsschutz in Bedürfnisse armer Afrikaner, denen sich Experten der Armutsbekämpfung widmeten.
Nikolaus WerzZur Geschichte des "Sozialstaates" in Lateinamerika GWU 67, 2016, H. 7/8, S. 422 – 440
Lateinamerika liegt bei den sozialstaatlichen Maßnahmen hinter den Industriestaaten, aber vor anderen südlichen Ländern. Somit gehört die Vorstellung demokratischer Gerechtigkeit seit dem 20. Jahrhundert zum Selbstverständnis lateinamerikanischer Regierungen, allerdings besteht gerade in der Sozialpolitik ein Widerspruch zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit. Die bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts umgesetzten sozialpolitischen Maßnahmen wurden partiell während einer neoliberalen Phase in den 1980/90er Jahren revidiert, dann aber von linkspopulistischen Regierungen wieder eingeführt. Sie waren eine Folge der hohen Rohstoffeinnahmen im vergangenen Jahrzehnt, von daher ist ungewiss, ob der "Sozialstaat" im Zeichen von Rezession und Kürzungen Bestand haben wird.
Marcus GräserWohlfahrtsgesellschaft oder Wohlfahrtsstaat? Zu einem Zielkonflikt in der Herausbildung der Wohlfahrtsstaatlichkeit in den USA seit dem Ende des 19. Jahrhunderts GWU 67, 2016, H. 7/8, S. 441 – 454
Für die Schwäche des amerikanischen Wohlfahrtsstaates wurden in den Debatten der letzten Jahrzehnte eine Reihe von Faktoren verantwortlich gemacht: eine prinzipiell antistaatliche Mentalität, das Ausbleiben einer bürokratischen Tradition, das Fehlen einer starken politischen Arbeiterbewegung, ein virulenter Rassismus, der die Konstruktion einer nationalen Solidargemeinschaft nicht zulasse. Der Aufsatz versucht, diese Faktoren in einer neuen Erklärung insoweit 'aufzuheben', als ein Zielkonflikt zwischen "Wohlfahrtsgesellschaft" und "Wohlfahrtsstaat" beschrieben und analysiert wird, der, auch als Ausdruck der frühen Demokratisierung der USA, zu einer Blockierung des welfare state building geführt hat: Der Primat der Wohlfahrtsgesellschaft hat einen dynamischen Institutionenbau als Ergebnis einer Interaktion unterschiedlicher Bürokratien und politischer Gebietskörperschaften nicht zugelassen. Auch die Etablierung eines partiellen Wohlfahrtsstaates (ohne Krankenversicherung) im New Deal Franklin D. Roosevelts (1933 – 1945) hat den Zielkonflikt nicht aufgelöst, wie am erbitterten Kampf um Barack Obamas Krankenversicherung zu erkennen ist.
Annerose MenningerQuentin Tarantinos "Django Unchained" (2012). Ein historischer Experimentalfilm als Geschichtsvermittler GWU 67, 2016, H. 7/8, S. 455 – 470
"Django Unchained" zählt zu den 100 populärsten Filmen weltweit. Kinokritiker, wie Julia Bähr und Andreas Busche, bezeichneten den Film als "Spaghetti-Western par excellence", in dem der Protagonist als "Gag" des Regisseurs "in einem blauen Rüschenanzug" agiere und sein Gegenspieler "am Beispiel eines Totenschädels einen sinistren Monolog über das Wesen der Unterwürfigkeit" halten dürfe (FOCUS-Online, 16.1.2013/www.filmgazette.de, 17.1.2013). Der Beitrag dekonstruiert "Django Unchained" als Vertreter des historischen Experimentalfilms durch transdisziplinäres Methodendesign, demonstriert dabei, dass seine Konzeption, Geschichtsinszenierung, Symbolik und politische Botschaft nur mittels detaillierter Kenntnisse in den Bereichen Film- und Geschichtswissenschaft sowie Filmgeschichte und NS-Propaganda decodierbar sind, und demontiert durch diese Befunde Filmkritiken wie die zitierten.