Editorial von Joachim Rohlfes
Geschichte gilt gemeinhin als ein "mündliches" Fach. Verglichen mit dem Deutsch- oder Fremdsprachenunterricht spielen schriftliche Ausarbeitungen in der Regel nur eine untergeordnete Rolle. Das trifft insbesondere auf längere Darstellungen zu, in denen es um größere - zeitliche oder thematische - Zusammenhänge geht, und hier vor allem um Aufgabenstellungen, die eigene Stellungnahmen verlangen (die etwa in Deutschaufsätzen gang und gäbe sind). Während in den sprachlichen Fächern das Einüben schriftlicher Ausdrucksformen zum täglichen Pensum gehört, nötigt der landläufige Geschichtsunterricht seine Adepten nur selten und ohne die nötige Konsequenz, sich über geschichtliche Sachverhalte mit einer gewissen Ausführlichkeit schriftlich zu äußern. Er verschenkt damit wertvolle Lernpotenziale. Dieses Defizit sucht man seit einiger Zeit abzustellen. Die Anstöße dazu kamen aus der angelsächsischen Lehr-Lern-Forschung und nicht zuletzt auch aus der Deutsch-Didaktik. Gefördert wurde diese Rezeption durch das in der deutschen Geschichtsdidaktik in hohem Ansehen stehende Narrativitätsparadigma, das das Erzählen zur Kernkompetenz des Geschichtslernens erhebt. Mit den Monografien von Michele Barricelli ("Schüler erzählen Geschichte") und Josef Memminger ("Schüler schreiben Geschichte") fand das Konzept jetzt seinen Eingang in die geschichtsdidaktische Literatur.
Der von den drei Autoren dieses Heftes verwendete Begriff des "kreativen Schreibens" bedarf vorab der Erläuterung, weil er hier und dort falsche Vorstellungen erwecken mag. Die sich vielleicht einstellende Assoziation einer absolut originellen und ungewöhnlich einfallsreichen Disposition führt in die Irre. "Kreativität" wird hier weitaus bescheidener gefasst und meint, in den Worten Memmingers, nicht mehr und nicht weniger als eine "aktive und produktive Reorganisation historisch relevanter Sachverhalte zu einem individuell und relativ frei gestalteten Text" (S. 209). Sie ist bereits dann gegeben, wenn die Textverfasser in der Lage sind, eine eigenständige Sicht auf den Gegenstand zu artikulieren und nicht bloß zu repetieren, was der Vorlage an Fakteninformation entnommen wurde.
Wie die drei Unterrichtsberichte verdeutlichen, haben die Jugendlichen, denen kreatives Schreiben attestiert wird, keineswegs überdurchschnittliche intellektuelle oder literarische Leistungen aufzuweisen. Vielfach sind es nur Annäherungen an die Standards eines "frei gestalteten Textes", bei denen man zuweilen die richtige Absicht statt des tatsächlichen erreichten Niveaus zu akzeptieren hat. Bei jüngeren Schülern muss man viele Abstriche hinsichtlich ihrer Fähigkeit zur emotionalen Empathie machen, und bei den älteren bekommt man gelegentlich einen Schreck ob der unbekümmerten Forschheit, mit der sie vernichtende Urteile fällen. Hier bewegt sich das "kreative Schreiben" auf einem schmalen Grat. Es darf, ja soll eine persönliche Note tragen und der Subjektivität Raum geben. Gleichwohl darf es sich nicht beliebig über die Maßstäbe historischer Erkenntnisbemühungen hinwegsetzen und die historische Triftigkeit ignorieren. Gewiss soll man jugendlichen Autoren zubilligen, an geeigneten Stellen sich ihrer Fantasie und ihren unkonventionellen Einfällen zu überlassen. Aber derartige Ausflüge müssen sich immer wieder an dem sachlich Vertretbaren messen lassen. Die Schreibenden sollen den Unterschied zwischen Fiktionalität und Faktualität kennen und sich Rechenschaft darüber geben können, wann sie deren Grenzen überschreiten und was das für die Aussagekraft ihrer Texte bedeutet. Dann, aber nur dann darf man sich auf das Abenteuer fiktiver Darstellungsformen einlassen. Die Lehrkräfte tragen dabei eine große Verantwortung.
Inhalt der Ausgabe
ABSTRACTS (S. 202)
EDITORIAL (S. 203)
BEITRÄGE
Josef MemmingerSchulung von historischem Denken oder bloß fiktionale Spielerei? Über kreative Schreibformen im Geschichtsunterricht (S. 204)
Christine Eckl"Sein Tod ist eine Erlösung" oder "Wir sind stolz auf dich!" Qualitative Einblicke in perspektivisches Schreiben von Nachrufen auf der gymnasialen Mittelstufe (S. 222)
Christoph Schröder"Wir danken Ihnen für dieses Interview!" Hauptschüler gestalten ein Gespräch mit Deng Xiaoping (S. 230)
INFORMATIONEN NEUE MEDIENGregor Horstkemper/Alessandra Sorbello Staub Schreibpädagogik und Neue Medien (S. 238)
LITERATURBERICHTHeinz Schilling Konfessionalisierung, Teil II (S. 240)
NACHRICHTEN (S. 259)
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Abstracts
Josef MemmingerSchulung von historischem Denken oder bloß fiktionale Spielerei? Über kreative Schreibformen im Geschichtsunterricht GWU 60, 2009, H. 4, S. 204-221 Kreative Schreibformen sollten nicht nur als spielerische Abwechslung im Geschichtsunterricht eingesetzt werden. Sie können durchaus zur Förderung historischen Denkens beitragen. Der Beitrag skizziert den Ist-Zustand der Handlung Schreiben im Fach Geschichte und weist auf (noch nicht ausgeschöpfte) Potenziale hin. In den "Umrissen einer Theorie für kreatives Schreiben im Geschichtsunterricht" werden grundlegende Prinzipien und Zieldimensionen geklärt sowie eine Kategorisierung der unterschiedlichen Möglichkeiten (mit Beispielliste) vorgenommen. Abschließend erfolgt die Darstellung und Interpretation eines Unterrichtsbeispiels.
Christine Eckl"Sein Tod ist eine Erlösung" oder "Wir sind stolz auf dich!" Qualitative Einblicke in perspektivisches Schreiben von Nachrufen auf der gymnasialen Mittelstufe GWU 60, 2009, H. 4, S. 222-229
In diesem Beitrag werden die Schülerlösungen einer kreativen Schreibaufgabe in zwei gymnasialen Mittelstufenklassen zum Abschluss der Sequenz "Reichsgründung und Bismarckzeit" qualitativ überprüft. Die Ergebnisse sprechen für den moderaten Einsatz des kreativen Schreibens als zeitintensiver Methode im Geschichtsunterricht: Im Untersuchungsfall waren es vor allem die Erfahrungen mit Perspektivität und die hohen Imaginationsanreize, die dazu beitrugen, das Verständnis der Schüler für historische Situationen und Zusammenhänge zu erweitern.
Christoph Schröder"Wir danken Ihnen für dieses Interview!" Hauptschüler gestalten ein Gespräch mit Deng Xiaoping GWU 60, 2009, H. 4, S. 230-237
Kreatives Schreiben ist eine im GSE-Unterricht an bayerischen Hauptschulen bislang eher selten angewandte Methode, um Schülerinnen und Schüler zur aktiven Reorganisation von geschichtlichem Wissen zu animieren. Der Beitrag beschreibt den Versuch, anhand eines fiktiv geführten Interviews mit Deng Xiaoping historisches Lernen zu initiieren. Eine Fernsehsendung über den chinesischen Staatsmann liefert die personen- und inhaltsspezifischen Sachinformationen, um mittels eines erstellten Fragenkatalogs das Interview in eine sprachliche Form zu bringen und die Schülerinnen und Schüler zu gemeinsamen Schreibprodukten zu führen.