Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 66 (2015), 1–2

Titel der Ausgabe 
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 66 (2015), 1–2
Weiterer Titel 
Menschenrechte und Humanitarismus

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monatlich

 

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Institution
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Land
Deutschland
c/o
Prof. Dr. Michael Sauer Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel. 0551/39-13388 Fax 0551/39-13385
Von
Sauer, Michael

Editorial von Christoph Cornelißen

Obwohl die internationalen Beziehungen bereits seit langem zum Kanon der modernen Geschichts- und Politikwissenschaften zählen, hat die Geschichtsschreibung humanitären Bewegungen und Organisationen sowie der Bedeutung des Menschenrechtsdiskurses in der Außenpolitik meist nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Erst in jüngster Zeit sind neuere Studien entstanden, die sich der Rolle des Humanitarismus als eines handlungsleitenden Ideals der internationalen Politik widmen. Zu dieser Wende haben ohne jeden Zweifel aktuelle Erfahrungen einen wichtigen Anstoß gegeben, vergeht doch schon seit vielen Jahren kaum mehr ein Tag, an dem nicht Naturkatastrophen, Kriege oder auch Epidemien den Ruf nach humanitären Interventionen heraufbeschwören. Schon die 1970er Jahre aber markieren eine deutliche Zäsur, denn mit dem Aufschwung von internationalen Hilfsorganisationen (z.B. Amnesty International), der osteuropäischen Dissidenz sowie dem politischen Kampf gegen lateinamerikanische Militärdiktaturen und dem Ringen um eine "Neue Weltwirtschaftsordnung" traten mehrere Initiativen zugleich auf die Bühne der internationalen Politik, welche dem Menschenrechtsgedanken ein neues Gewicht verliehen und darüber humanitäres Handeln beförderten.

Im Blick auf diese Veränderungen fragt die neuere historische Forschung inzwischen zum einen danach, wie Regierungen oder auch Nichtregierungsorganisationen transnationale und globale Krisen wahrnahmen und darauf reagierten. Zum anderen untersucht sie, wie sich darüber neue internationale Ideen und Normen entwickelten. Weiterhin geht es darum, die praktischen und moralischen Dilemmata näher zu ergründen, denen sich humanitäres Engagement und internationale Menschenrechtsdiskurse auch schon in früheren Epochen der Geschichte ausgesetzt sahen.

In seinem Einleitungsbeitrag zum vorliegenden Themenheft zeigt Jan Eckel am Beispiel der Außenpolitik der US-Administration unter der Führung Jimmy Carters sowie der parallelen Optionen der Außenpolitiker ausgewählter westeuropäischer Länder auf, wie der Menschenrechtsgedanke seit den siebziger Jahren in den Mittelpunkt der internationalen Politik rückte und darüber Vorstellungen einer neuen Weltordnung im Zeichen von Demokratie, Menschenrechten und humanitärer Hilfe beflügelte. Dass aber auch noch nach der Wende zu einem humanitären Massenaktivismus kulturelle und professionssoziologische Einflüsse eine bedeutsame Rolle spielten, verdeutlicht Annette Weinke in ihrer Abhandlung über die Menschenrechtsanwälte.

Den beiden Grundlagenbeiträgen folgen stärker fallorientierte Aufsätze. Darin arbeitet Daniel Maul am Beispiel der USA als Pioniermacht internationaler Hilfe in der Zwischenkriegszeit heraus, dass diese Zeitspanne insgesamt als eine besondere Gründungsphase des Internationalismus und internationaler Organisationen im Zeichen transnationaler Solidarität identifiziert werden kann, während Esther Möller am Beispiel der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung im Israel-Palästina-Konflikt 1948/49 kritisch das Problem beleuchtet, dass die beiden Hilfsorganisationen eher parallel nebeneinander arbeiteten und dabei unterschiedliche politische Interessen verfolgten. Matthias Peer wiederum widmet sich dem moralischen Spannungsverhältnis in der bundesrepublikanischen Außenpolitik nach dem Abschluss der KSZE-Akte im Jahr 1975. Damals sah sich die Bonner Politik einerseits auf die aktive Förderung der Menschenrechte verwiesen, optierte aber andererseits nur zurückhaltend, um ihre Politik praktischer Erleichterungen nicht zu gefährden.

Die Beiträge erschließen insgesamt Dimensionen einer internationalen Konfliktgeschichte, die durch den Fokus auf den Humanitarismus und die Menschenrechte die Geschichtsschreibung zu den internationalen Beziehungen wesentlich bereichern.

Inhaltsverzeichnis

INHALT DER GWU 1–2/2015

ABSTRACTS (S. 2)

EDITORIAL (S. 4)

BEITRÄGE

Jan Eckel
Schwierige Erneuerung. Die Menschenrechtspolitik Jimmy Carters und der Wandel der Außenpolitik in den 1970ern (S. 5)

Annette Weinke
Von "Gentlemen lawyers" und "barfüßigen Richtern". Zum Einfluss juridischer Felder auf Menschenrechtsdiskurse und -praktiken seit 1945 (S. 25)

Daniel Maul
Humanitärer Aufbruch – Internationale Hilfe in der Zwischenkriegszeit (S. 46)

Esther Möller
Humanitarismus ohne Grenzen? Die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung im Israel-Palästina-Konflikt 1948/1949 (S. 61)

Matthias Peter
Mehr als Menschenrechte. Die Bundesrepublik Deutschland und die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) (S. 78)

Jens Wietschorke
Norden – Süden – Westen – Osten. Hemisphärisches Denken in der modernen europäischen Geschichte (S. 96)

INFORMATIONEN NEUE MEDIEN

Alessandra Sorbello Staub
Humanitäre Hilfe und Flüchtlingspolitik. Geschichte und Aktualität des Humanitarismus im Netz (S. 109)

LITERATURBERICHT

Frank-Michael Kuhlemann
Bildungsgeschichte, Teil II (S. 112)

NARICHTEN (S. 124)

AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 128)

ABSTRACTS DER GWU 1–2/2015

Jan Eckel
Schwierige Erneuerung. Die Menschenrechtspolitik Jimmy Carters und der Wandel der Außenpolitik in den 1970ern
GWU 66, 2015, H. 1/2, S. 5 – 24

In den 1970er Jahren begannen westliche Regierungen, den Menschenrechtsschutz zu einem integralen Ziel ihrer auswärtigen
Beziehungen zu erheben. Darin, so möchte dieser Aufsatz zeigen, spiegelt sich ein tief reichender Wandel der Außenpolitik. Am Beispiel der amerikanischen Regierung Jimmy Carters legt er dar, dass menschenrechtspolitische Konzeptionen aus einer veränderten Wahrnehmung der internationalen Politik flossen. Die Umsetzung dieser
Konzeptionen brachte neue Herausforderungen mit sich, die das außenpolitische Handeln erheblich verkomplizierten. Ein vergleichender Blick macht deutlich, dass die Ankunft von Menschenrechten in der
britischen und der niederländischen Außenpolitik in vielfach ähnlichen Bahnen verlief wie in den USA, während sich die Bundesrepublik und die Schweiz bemühten, dem Menschenrechtsgedanken keinen zu großen Raum zu geben.

Annette Weinke
Von "Gentlemen lawyers" und "barfüßigen Richtern". Zum Einfluss juridischer Felder auf Menschenrechtsdiskurse und -praktiken seit 1945
GWU 66, 2015, H. 1/2, S. 25 – 45

Seit der kulturalistischen Wende ist Pierre Bourdieu auch in der Geschichtswissenschaft angekommen. Im expandierenden Forschungsfeld der Menschenrechtshistoriographie wurde seine Theorie des Sozialen noch kaum aufgegriffen. Der Beitrag bedient sich zentraler Kategorien der Bourdieuschen Rechtssoziologie, um die Konstituierung und Ausdifferenzierung neuer menschenrechtlicher "Felder" nach 1945 zu erkunden. Die Verfasserin endet mit der These,
dass kulturelle und professionssoziologische Faktoren der Menschenrechtsarbeit auch nach dem Übergang von der "Cold War Justice" zum Massenaktivismus bedeutsam geblieben sind.

Daniel Maul
Humanitärer Aufbruch – Internationale Hilfe in der Zwischenkriegszeit
GWU 66, 2015, H. 1/2, S. 46 – 60

Im folgenden Beitrag geht es mir darum, die Zwischenkriegszeit als eine Phase des humanitären Aufbruchs zu kennzeichnen. Nach dem Epochenbruch des Ersten Weltkriegs und der "Entdeckung" humanitärer Hilfe im Zeichen totaler Kriegsführung richtet sich der Fokus zunächst auf die neu gewonnene Rolle der USA als Pioniermacht internationaler
Hilfe. In den beiden folgenden Abschnitten rücken dann die vielfältigen Initiativen privater humanitärer Hilfsorganisationen sowie des Völkerbunds ins Blickfeld. In diesem Sinn versteht sich der Artikel als ein Beitrag zur Globalgeschichte der Zwischenkriegszeit, die als eine distinkte Phase in der Geschichte von Internationalismus und internationaler Organisation beschrieben wird.

Esther Möller
Humanitarismus ohne Grenzen? Die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung im Israel-Palästina-Konflikt 1948/1949
GWU 66, 2015, H. 1/2, S. 61 – 77

Der Beitrag behandelt die wenig erforschte, aber zentrale Rolle der Rotkreuz-und Rothalbmondbewegung innerhalb der humanitären
Hilfsleistungen im Israel-Palästinakonflikt 1948/1949. Durch die gleichzeitige Untersuchung der Aktivitäten der westlichen und arabischen Organe dieser Bewegung, insbesondere des Internationalen
Komitee des Roten Kreuzes und des Ägyptischen Roten Halbmonds, liegt der Fokus auf der transnationalen Dimension des humanitären
Engagements. Dabei wird deutlich, dass es neben wenigen gemeinsamen Aktionen auch viele parallel verlaufende Hilfsleistungen
der westlichen und arabischen Institutionen gab, weil diese ganz unterschiedliche politische Interessen in dem Konflikt verfolgten.

Matthias Peter
Mehr als Menschenrechte. Die Bundesrepublik Deutschland und die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)
GWU 66, 2015, H. 1/2, S. 78 – 95

Ausgehend vom normativen Rahmen der Bonner Menschenrechtspolitik untersucht der Beitrag die Schwierigkeiten, denen sich die Bundesrepublik im KSZE-Prozess gegenübersah, ihr humanitäres Selbstverständnis mit dem übergeordneten Interesse am Erhalt der Ost-West-Détente in Einklang zu bringen. Vor allem auf den Überprüfungstreffen in Belgrad 1977/78 und in Madrid 1980 bis 1983 zeigte sich ein Zielkonflikt: Einerseits wollte die Bundesrepublik gemeinsam mit den Bündnispartnern aktiv die Achtung der Menschenrechte gegenüber dem Osten einfordern, andererseits aber Zurückhaltung üben, um mit Blick auf die Millionen Deutschen unter kommunistischer Herrschaft die Tür für weitere praktische Erleichterungen offenzuhalten. Im Verbund der westlichen Konferenzpolitik war die KSZE für die Bundesrepublik ein Lernprozess, in dessen Verlauf sie jedoch diesen Zielkonflikt nicht lösen konnte.

Jens Wietschorke
Norden – Süden – Westen – Osten. Hemisphärisches Denken in der
modernen europäischen Geschichte
GWU 66, 2015, H. 1/2, S. 96 – 108

Der Beitrag bietet einen kritischen Überblick über unterschiedliche Konstruktionen und Vorstellungsbilder des "Nordens", "Südens", "Westens" und "Ostens" im Rahmen der modernen europäischen Geschichte und darüber hinaus. An einer Reihe exemplarischer
Diskursfelder wird gezeigt, dass die "hemisphärischen" Raumbilder und
Raumkonzepte nur in ihrer Relationalität und wechselseitigen Konstitution zu verstehen sind. Zugleich versteht sich der Beitrag
als Anregung zur Auseinandersetzung mit "mental maps" in der universitären Lehre wie im Geschichtsunterricht.

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