Editorial von Michael Sauer
Schon seit einigen Jahren ist in der Geschichtswissenschaft von einem "spatial turn" die Rede. Nach diversen "turns" - dem "linguistic", dem "cultural" und dem "iconographic" oder "visuell turn" - mag sich ein gewisser Überdruss einstellen angesichts des Bemühens, jeweils eigene aktuelle Forschungen als grundsätzliche Neuausrichtung einer ganzen Disziplin zu etikettieren. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die Kategorie des Raumes in der deutschen Geschichtswissenschaft wieder verstärktes Interesse findet, nachdem sie insbesondere im Gefolge einer stärker sozialwissenschaftlichen Ausrichtung (anders als etwa in Frankreich) längere Zeit keine große Rolle gespielt hatte. Ein Indikator hierfür sind die raumbezogenen Leitthemen der Historikertage in Kiel 2004 ("Kommunikation und Raum") und in Berlin 2010 ("Über Grenzen"). In den neueren Forschungen wird Raum vor allem als Konstrukt aufgefasst: Räume konstituieren sich in mentalen Vorstellungen; auch Karten bilden letztlich nicht "Wirklichkeit", sondern Vorstellungen ab. Raumvorstellungen und Raumkonzepte können historisch außerordentlich wirkungsmächtig werden, so etwa die geopolitischen Überlegungen von Karl Haushofer und anderen aus der Weimarer Zeit, auf die die Nationalsozialisten bei der Propagierung von "Lebensraum im Osten" zurückgreifen konnten. Die Frage, welche generelle Bedeutung Raum und Raumbewusstsein für den Geschichtsunterricht haben könnten und sollten, ist in der Geschichtsdidaktik bislang noch nicht genauer verhandelt worden. Grundsätzliche Überlegungen dazu präsentiert Vadim Oswalt in seinem Beitrag. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stehen die vielfältigen Raumbezüge, die beim historischen Lernen eine Rolle spielen. Dabei geht es nicht nur um die jeweils im Unterricht thematisierten historischen Räume; zu bedenken sind auch die "Raumwelten" der Schülerinnen und Schüler, die in der deutschen Migrationsgesellschaft unter Umständen äußerst heterogen aussehen können. Nicht zuletzt mit Blick auf vorliegende fachspezifische Kompetenzmodelle resümiert der Autor: "Wer Aspekte des Raums nicht reflektiert, dem bleibt die Konstruktivität historischen Denkens in einem zentralen Punkt verborgen." (S. 233) Und er fordert einen "raumbewussten Umgang mit historischem Lernen" auf allen Ebenen - in den Curricula, im Umgang mit den Lernvoraussetzungen von Schülerinnen und Schülern und in methodischer Hinsicht. Nach diesen grundlegenden konzeptionellen Reflexionen beschäftigt sich der Beitrag von Michael Sauer mit empirischen Fragen. Dass Schülerinnen und Schüler methodische Kompetenzen im Umgang mit Karten erwerben sollen, ist in den Curricula aller Bundesländer verankert; über die tatsächlichen Kartenkompetenzen von Schülerinnen und Schülern wissen wir freilich jenseits von individueller Alltagserfahrung nichts. In der empirischen Studie, über die der Beitrag berichtet, wurde deshalb der Versuch gemacht, die Unterrichtserfahrungen von Schülerinnen und Schülern mit Geschichtskarten, ihre Einschätzung des Mediums sowie ihre Kartenkompetenz zu untersuchen. Die tendenziell bedenklichen Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit, das Thema Kartenarbeit im Geschichtsunterricht wichtiger zu nehmen. Unter einem wiederum anderen Aspekt beschäftigt sich der Beitrag von Arndt Reitemeier und Niels Petersen mit dem Heftthema. Er stellt konzeptionelle Überlegungen zur Entwicklung eines modernen landesgeschichtlichen Atlasses vor. Eine besondere Herausforderung liegt darin, dass ein solches Kartenwerk unterschiedlichen (potenziellen) Nutzergruppen - Wissenschaftlern, Schülern und Lehrern, einem weiteren interessierten Publikum - gerecht werden sollte. Die Autoren akzentuieren besonders die neuen Möglichkeiten, die digital angelegte Karten bieten. Mit ihnen eröffnet sich die Chance, kartographische Darstellungsweisen im Hinblick auf unterschiedliche Erkenntnis- und Nutzungsinteressen zu flexibilisieren.
Inhalt der Ausgabe 4/10
ABSTRACTS (S. 218)
EDITORIAL (S. 219)
BEITRÄGE
Vadim Oswalt Das Wo zum Was und Wann Der "Spatial turn" und seine Bedeutung für die Geschichtsdidaktik (S. 220)
Michael Sauer Zur "Kartenkompetenz" von Schülern Ergebnisse einer empirischen Untersuchung (S. 234)
Arndt Reitemeier/Niels Petersen Neue Konzeptionen zur Visualisierung von Landesgeschichte (S. 249)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Gregor Horstkemper/Alessandra Sorbello Staub Klio im Kartenraum Historisch-geographische Informationssysteme und digitale Geschichtskarten (S. 259)
LITERATURBERICHT
Volker Depkat Geschichte der USA, Teil I (S. 261)
NACHRICHTEN (S. 277)
Abstracts der Ausgabe 4/10
Vadim Oswalt Das Wo zum Was und Wann Der "Spatial turn" und seine Bedeutung für die Geschichtsdidaktik GWU 61, 2010, H. 4, S. 220-233
Der so genannte "Spatial turn" - die Hinwendung der Geschichtswissenschaft zu Fragen des Raums und vor allem des Raumbewusstseins stellt für die Geschichtsdidaktik eine wichtige Herausforderung dar, die wie alle anderen historischen Disziplinen der Kategorie Raum seit den siebziger Jahren kaum Bedeutung beigemessen hat. Als Plädoyer für eine größere Raumbewusstheit im Geschichtsunterricht bietet der Artikel einen systematischen Aufriss theoretischer Fragen und stellt Bezugspunkte zu zentralen Aspekten historischen Lehrens und Lernens her.
Michael Sauer Zur "Kartenkompetenz" von Schülern Ergebnisse einer empirischen Untersuchung GWU 61, 2010, H. 4, S. 234-248
Schülerinnen und Schüler sollen im Geschichtsunterricht adäquat mit Geschichtskarten umgehen lernen. Dazu gehört in erster Linie die Fähigkeit, aus Karten spezifische Informationen entnehmen zu können, aber auch die Verfügung über ein raumbezogenes Orientierungswissen, das die Verortung historisch relevanter Ereignisse und Prozesse ermöglicht. Der Beitrag präsentiert die Ergebnisse einer empirischen Studie, in der 900 Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf ihre Unterrichtserfahrungen mit Geschichtskarten und ihre Einschätzung des Mediums sowie ihre Kartenkompetenz befragt wurden. Es zeigt sich u.a., dass sich der Einsatz von Karten und die Übung im Umgang mit ihnen nach einzelnen Klassen bzw. Lehrkräften stark unterscheiden. Die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler im Umgang mit Karten stellen sich über alle Schulstufen hinweg relativ ungünstig dar.
Arndt Reitemeier/Niels Petersen Neue Konzeptionen zur Visualisierung von Landesgeschichte GWU 61, 2010, H. 4, S. 249-258
Schon seit ihrem Bestehen hat die Landesgeschichte die Veränderungen eines Raums über die Epochen hinweg in Karten visualisiert. Bisherige Kartenwerke versuchten zwar die jeweils aktuellen Forschungsfragen aufzugreifen, nutzten aber nur eingeschränkt das methodische Spektrum der Kartographie. Ein landeshistorisches Atlaswerk, das sowohl Forschung, Lehre als auch die interessierte Öffentlichkeit anspricht, muss im 21. Jahrhundert digitale Medien konsequent einsetzen und den Nutzern interaktiv Freiheiten in der kartographischen Darstellung einräumen.