Editorial
von Michael Sauer
Dem Thema "Geschichtslehrerausbildung in der zweiten Phase" war das letzte GWU-Heft des Jahrgangs 2014 gewidmet. Die Beiträge befassten sich mit Fragen der Ausbildungsorganisation und -konzeption, mit der Abstimmung zwischen der ersten und zweiten Phase sowie mit der Einführung von Praxissemestern. Das vorliegende Heft knüpft daran an. Es behandelt das Thema Geschichtslehrerausbildung aus der Perspektive derjenigen, die an Hochschulen für die geschichtsdidaktische, zum Teil auch für die fachwissenschaftliche Ausbildung zuständig sind. Deren Rahmenbedingungen haben sich mit der Einrichtung von Bachelor-/Masterstudiengängen – wenngleich nicht in allen Bundesländern – und der Modularisierung tiefgreifend verändert.
Zu einer positiven Bilanz im Hinblick auf angehende Gymnasiallehrkräfte in Bayern gelangt Josef Memminger. Zwar sei das Studium stärker reguliert als früher, aber im längerfristigen Vergleich könne man wohl von einer besseren geschichtsdidaktischen Grundausbildung an der Universität ausgehen, wenngleich eine weitere Erhöhung fachdidaktischer Studienanteile wünschenswert sei. Auch die Kooperation zwischen der ersten und zweiten Phase sei intensiver geworden. Optimierungsbedarf bestehe bei der Verknüpfung von fachdidaktischen und fachwissenschaftlichen Ausbildungsanteilen. Zu einem weit weniger freundlichen Urteil kommt Gerhard Fritz für Baden-Württemberg und dort insbesondere für die Ausbildung von Grund-, Haupt-, Real- und Sonderschulen an den Pädagogischen Hochschulen. Er moniert den schnellen Wechsel von Prüfungs- und Studienordnungen und eine Entfachlichung der Praxisphasen. Zudem beklagt er mangelnde schriftsprachliche Ausdrucksfähigkeit und Regelbeherrschung bei den Studierenden als Resultat reduzierter schriftlicher Prüfungsleistungen. Gleichfalls kritisch äußern sich die Geschichtsdidaktik-Lehrenden der Universität Frankfurt. Sie nehmen vor allem eine mangelnde fachliche Fundierung und inhaltsbezogene Reflexionsfähigkeit ihrer Studierenden wahr, die allzu früh und vordergründig auf ihr späteres Berufsfeld fokussiert seien. Es handele sich dabei um "ein grundlegendes Missverständnis über den Stellenwert und die Funktion einer wissenschaftlichen Ausbildung an einer Universität für die Professionalisierung als zukünftige Lehrkraft".
Noch einmal auf die Chancen und Probleme von Praxissemestern gehen die beiden folgenden Beiträge ein. Anke John stellt die Maßnahmen vor, die im Rahmen des "Jenaer Modells" konzeptionellen Transfer und reflexive Bezüge zwischen der universitären geschichtsdidaktischen Lehre und der Praxissituation intensivieren sollen. Christoph Wilfert geht es um eine empirische Annäherung an die Frage, wie das Praxissemester die subjektiven Theorien Studierender zum historischen Lehren und Lernen verändern. Auf der Basis von Kölner Erfahrungen konstatiert er unterschiedliche Effekte und leitet daraus die Notwendigkeit einer substantiellen geschichtsdidaktischen Fundierung und Begleitung des Praxissemesters ab. In seinem Diskussionsbeitrag argumentiert schließlich Johannes Heinßen energisch für die spezifische Dignität des Faches, die man nicht vordergründigen allgemeindidaktischen oder bildungspolitischen Trends opfern dürfe.
Wie sollte sich die Geschichtsdidaktik an der Hochschule gegenüber zunehmenden Praxisanteilen im Studium und entsprechenden Vorstellungen von Seiten der Studierenden positionieren? Das Studium ist kein Referendariat; und wer meint, im Praktikum das Meiste für seinen späteren Beruf erlernen zu können, fällt zurück auf den Stand einer vorwissenschaftlichen Meisterlehre. Überspitzungen in dieser Richtung sollte sich eine universitäre Geschichtsdidaktik verweigern. Zugleich aber muss sie, ohne in Rezeptologie zu verfallen, berechtigten Erwartungen an Praxisorientierung im Sinne einer grundlegenden Denkrichtung gerecht werden. Diese Gratwanderung ist nicht einfach.
INHALT DER GWU 3–4/2016
ABSTRACTS (S. 130)
EDITORIAL (S. 132)
BEITRÄGE
Josef Memminger Der gerade Weg zum guten Lehrer? Oder: Früher war alles besser! Die fachdidaktische Geschichtslehrerausbildung der ersten Phase in Bayern (S. 133)
Gerhard Fritz Geschichtslehrerausbildung in Baden-Württemberg, 1. Phase (S. 146)
Dirk Belda/Arnold Bühler/Gerhard Henke-Bockschatz/Tatjana Moor-Freber/Frank Sobich Die hessische Lehramtsausbildung im Fach Geschichte am Beispiel der Goethe-Universität Frankfurt (S. 162)
Anke John Das Praxissemester in der Mitte des Geschichtslehrerstudiums nach dem Jenaer Modell. Wie lassen sich Theorieskepsis und Transferwiderstände geschichtsdidaktischen Denkens auflösen? (S. 178)
Christoph Wilfert Das Praxissemester als Element der universitären Geschichtslehrerausbildung. Strukturen, empirische Befunde und Perspektiven (S. 190)
DISKUSSION
Johannes Heinßen Rettet die Fachlichkeit! Zu den Beiträgen in GWU 11/12/2014 (S. 207)
STICHWORTE ZUR GESCHICHTSDIDAKTIK
Katja Gorbahn "Identität" (S. 215)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Gregor Horstkemper Somme, Verdun, Chaumes. Kriegsgedenken in Frankreich (S. 230)
LITERATURBERICHT
Dietmar von Reeken/Michael Sauer Geschichtsdidaktik (S. 233)
NACHRICHTEN (S. 253)
AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 256)
ABSTRACTS DER GWU 3–4/2016
Josef MemmingerDer gerade Weg zum guten Lehrer? Oder: Früher war alles besser! Die fachdidaktische Geschichtslehrerausbildung der ersten Phase in Bayern GWU 67, 2016, H. 3/4, S. 133–145 Die Umgestaltung und Modularisierung der Studiengänge im Zuge der Bologna-Reform hat die universitäre Ausbildung künftiger Geschichtslehrkräfte in Bayern verändert, auch wenn das Staatsexamen beibehalten wurde. Der Beitrag erläutert die Vorgaben für die fachdidaktischen Anteile des Studiums und konkretisiert sie an einem Fallbeispiel. Daneben wird der Umgang mit dem Themenfeld "Kompetenzorientierung" in der Ausbildung und bei der Erstellung von Curricula diskutiert: Es existieren weiterhin unterschiedliche Auffassungen darüber, was kompetentes Handeln von Schülerinnen und Schülern bedeutet.
Gerhard FritzGeschichtslehrerausbildung in Baden-Württemberg, 1. Phase GWU 67, 2016, H. 3/4, S. 146-161 Pädagogische Hochschulen verfügen über weit weniger Geschichtsprofessuren als Universitäten. Entsprechend ist das Lehrangebot an ihnen schmaler. Rasch wechselnde Prüfungsordnungen verursachen an Pädagogischen Hochschulen und Universitäten Unübersichtlichkeit. Seit zwei Jahrzehnten nimmt die Schriftlichkeit im Studium qualitativ und quantitativ dramatisch ab. 20–25% der Studierenden sind dem Studium kaum gewachsen. In der schulpraktischen Ausbildung treten pädagogische Aspekte in den Vordergrund, das Fachliche wird marginalisiert. Die Praktikanten verfügen oft nur über unzureichendes Grundlagenwissen. Angesichts dessen erweisen sich gymnasiale Reformpläne und Kompetenzdebatte als wirklichkeitsfern.
Dirk Belda/ Arno/d Bühler/Gerhard Henke-Bockschatz/Tatjana Moor-Freber/Frank SobichDie hessische Lehramtsausbildungim Fach Geschichte am Beispiel der Goethe-Universität Frankfurt GWU 67, 2016, H. 3/4, S. 162–177 Der Ruf minderer akademischer Anforderungen, insbesondere im Lehramtsstudium Haupt- und Realschule ("Schmalspurstudium"), zieht im Durchschnitt nicht eben die intellektuell leistungsstärksten Studienanfänger an. Zunehmende Verschulung des Studiums ist einerseits Reaktion darauf, hemmt andererseits das selbstverantwortliche Studium noch weiter. Die Folgen für die "professionelle Ausstattung" künftiger Geschichtslehrerlinnen sind derzeit noch nicht absehbar. Das Frankfurter "Lamento" verweist auf allgemeine Defizite des Lehramtsstudiums Geschichte. Es sollte als Appell zur Diskussion darüber verstanden werden, wie manifesten Fehlentwicklungen gegengesteuert werden kann.
Anke JohnDas Praxissemester in der Mitte des Geschichtslehrerstudiums nach demJenaer Modell. Wie lassen sich Theorieskepsis und Transferwiderstände geschichtsdidaktischen Denkens auflösen? GWU 67, 2016, H. 3/4, S. 178–189 Herzstück des Jenaer Modells der Geschichtslehrerbildung ist eine fünfmonatige Praxisphase, die in der Mitte eines nichtkonsekutiven Studiums eingebettet ist. Die Ausweitung von Praxisbezügen ist allgemein umstritten. Fraglich scheint vor allem der Stellenwert, den Studierende dem an der Universität vermittelten Wissen bei einem zeitigen Wechsel in den Schulalltag noch beimessen. Der Beitrag analysiert daher Widerstände des Transfers geschichtsdidaktischen und historischen Wissens in die Praktikumssituation. Daran anschließend wird thematisiert,wie das Praxissemester für fachliche Ansprüche dennoch fruchtbar gemacht werden kann.
Christoph WilfertDas Praxissemester als Element der universitären Geschichtslehrerausbildung. Strukturen, empirische Befunde und Perspektiven GWU 67, 2016, H. 3/4, S. 190–206 Praxissemester sind inzwischen in vielen Bundesländern obligatorischer Bestandteil der universitären Lehrerausbildung. Am Beispiel der Universität zu Köln wird vorgestellt, wie sich die erste Phase der Geschichtslehrerausbildung vor diesem Hintergrund aktuell gestaltet. Darüber hinaus wird eine explorative Studie präsentiert, deren Ziel es ist, erste empirisch begründete Hinweise darauf zu erhalten, ob und wie sich das Praxissemester auf die fachdidaktische Kompetenzentwicklung von Studierenden auswirkt. Gefragt wurde in diesem Zusammenhang, welche subjektiven Theorien zum historischen Lehren und Lernen Studierende jeweils vor und nach Absolvierung des Praxissemesters artikulieren.
Johannes HeinßenRettet die Fachlichkeit! GWU 67, 2016, H. 3/4, S. 207–214 Während Ministerialbürokratie und einige Didaktiker aktuell die Verzahnung von erster und zweiter Phase der Lehrerausbildung vorantreiben und die fachlichen Anteile des Unterrichts nachweisbar an Wert einbüßen, plädiert dieser Aufsatz für eine Stärkung der Fachlichkeit als Grundlage guter Lehrerausbildung und damit des guten Geschichtsunterrichts. Ausgehend vom Befund, dass amBeginn des Referendariats eine hinreichende fachliche Orientierung vielfach fehlt, relativiert er die Wirksamkeit des aktuell hochgehandelten Praxissemesters aus Sicht eines Ausbilders der zweiten Phase im Besonderen sowie der schulischen Praxis im Allgemeinen.
Katja Gorbahn"Identität" GWU 67, 2016, H. 3/4, S. 215–229 "Identität" ist ein zentraler Begriff in Debatten um Geschichte und Geschichtsunterricht, wird aber durchaus widersprüchlich benutzt. Der Beitrag erläutert, ausgehend von der Begriffsgeschichte, zunächst verschiedene Verwendungsweisen und Bedeutungsebenen von "Identität". Unter Rückgriff auf das Konzept der sozialen Identität wird vorgeschlagen, einen kategorialen und einen narrativen Identifikationsmodus zu unterscheiden. Abschließend werden Perspektiven für einen verantwortungsbewussten Umgang mit "Identität" im Geschichtsunterricht skizziert.