Editorial von Christoph Cornelißen
Schon seit einigen Jahren ist die Epoche des Kalten Krieges zum Gegenstand einer interdisziplinär angelegten historischen Forschung aufgestiegen. Während anfangs die politischen und militärischen Auseinandersetzungen im Mittelpunkt des Interesses standen, sind mittlerweile zahlreiche Studien gefolgt, die den Akzent stärker auf die Gesellschafts-, zunehmend auch auf die Kulturgeschichte der zweiten Nachkriegszeit legen. Darüber ist zum einen das Ausmaß ersichtlich geworden, mit dem beide Führungsmächte erfolgreich Tausende Künstler, Wissenschaftler und Intellektuelle in ein weitmaschiges Propagandanetzwerk einbanden. Zum anderen demonstrierten sie, wie sehr die Erscheinungsformen der modernen Populärkultur, aber auch die Bildungssysteme von der Blockkonfrontation überformt worden sind.
Angesichts dieser Konstellationen dürfte es kaum überraschen, dass zahlreiche Intellektuelle in den hoch ideologisierten Konflikten dieser Epoche eine bedeutsame Rolle einnahmen. Die neuere Intellektuellengeschichte vermochte jedoch ebenfalls aufzuzeigen, dass die damit verbundenen Deutungskämpfe sich keineswegs ausschließlich auf die konfrontativen Muster des Kalten Krieges reduzieren lassen, sondern hierbei auch andere Faktoren zu berücksichtigen sind. Hierzu gehört zum einen der allmähliche Funktionswandel der „öffentlichen Intellektuellen“, mussten sie diese doch im Gefolge der zunehmenden Medialisierung gesellschaftlicher Kommunikation neu positionieren. Zum anderen stiegen insbesondere im Westen die gesellschaftlichen Ansprüche auf die Teilhabe an den öffentlichen Debatten an, was insgesamt einer Politisierung Vorschub leistete. Darüber hinaus sahen sich immer mehr Wissenschaftler im Wettkampf der Systeme vor die Herausforderung gestellt, nicht nur als Zuträger von Fachwissen aufzutreten, sondern ebenfalls als Verfechter eines besonderen Weges in die Moderne.
Während die historische Forschung das Wirken namhafter Intellektueller im Kalten Krieg schon seit geraumer Zeit näher untersucht, sind darüber die öffentlichen Einlassungen von Wissenschaftlern im Hintergrund geblieben. Um dieses Missverständnis zu korrigieren, ergründet das vorliegende Themenheft ausgewählte Protagonisten des akademischen Feldes aus Westeuropa und den Vereinigten Staaten. Naturgemäß handelt es sich nur um eine beschränkte Fallgruppe, die aber dennoch übergreifenden Kriterien genügt. Ausgehend von einem nüchternen Verständnis des akademischen Intellektuellen, der sich durch seine berufsspezifische Tätigkeit eine gewisse Reputation erwirbt, die er auch außerhalb dieses Feldes einsetzt, weisen die hier diskutierten Hochschullehrer sich dadurch aus, dass sie über die jeweilige nationale Wissenschaftskultur herausragten. Des Weiteren setzen die Beiträge einen zeitlichen Schwerpunkt in den 1960er und 1970er Jahren, in denen ein neues Beziehungsgeflecht von Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik zum Durchbruch gelangte.
Im Einzelnen bieten sie zunächst einen Überblick zur neueren Forschung (Riccardo Bavaj/Dominik Geppert), auf den detaillierte Untersuchungen zu den öffentlichen Einlassungen von publizistisch aktiven Historikern aus Deutschland und Italien (Marcel vom Lehn) sowie den Schriften und Reden von Carl Friedrich von Weizsäcker (Elke Seefried), Ralf Dahrendorf (Franziska Meinfort) und Raymond Aron (Matthias Oppermann) folgen. Zu einer der bemerkenswerten, hier erarbeiteten Einsichten gehört der Hinweis darauf, dass der öffentliche Diskurs unter den Intellektuellen keineswegs zu einer steten Zunahme westlicher Gemeinsamkeiten und damit der fortschreitenden Nivellierung nationaler Unterschiede führte. Eine weitere wesentliche Feststellung verdeutlicht, wie sehr das politische Denken der hier Portraitierten Wurzeln aufweist, die weit hinter die Epoche den Kalten Krieges zurückreichen. Die Beiträge zeigen damit nachdrücklich, dass viele Entwicklungen während des Kalten Krieges eben nicht in einer Geschichte des Kalten Krieges aufgehen.
INHALT DER GWU 3–4/2014
ABSTRACTS (S. 130)
EDITORIAL (S. 132)
BEITRÄGE
Riccardo Bavaj/Dominik Geppert Jenseits des „Elfenbeinturms“. Hochschullehrer, Öffentlichkeit und Politik im Kalten Krieg (S. 133)
Marcel vom Lehn Kalte Krieger? Deutsche und italienische Historiker in der Frühphase des Ost-West-Konflikts (S. 146)
Matthias Oppermann Ein transatlantisches Vital Center? Raymond Aron und der amerikanische Liberalismus (1945–1983) (S. 161)
Elke Seefried Die politische Verantwortung des Wissenschaftlers. Carl Friedrich von Weizsäcker, Politik und Öffentlichkeit im Kalten Krieg (S. 177)
Franziska Meifort Der Wunsch nach Wirkung. Ralf Dahrendorf als intellektueller Grenzgänger zwischen Bundesrepublik und Großbritannien 1964–1984 (S. 196)
Fabian Klose „To maintain the law of nature and of nations“. Der Wiener Kongress und die Ursprünge der humanitären Intervention (S. 217)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Gregor Horstkemper Maueröffnungen nach dem Kalten Krieg. Deklassifizierte Geheimdokumente zur Epoche der globalen Systemkonkurrenz (S. 238)
LITERATURBERICHT
Christoph Wilms Ur- und frühgeschichtliche Archäologie (S. 241)
NACHRICHTEN (S. 259)
AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 264)
ABSTRACTS DER GWU 3–4/2014
Riccardo Bavaj/Dominik GeppertJenseits des „Elfenbeinturms“. Hochschullehrer, Öffentlichkeit und Politik im Kalten Krieg GWU 65, 2014, H. 3/4, S. 133 – 145
Mediengeschichte boomt. Die Forschungen zum Kalten Krieg sind kaum noch zu überblicken. Auch hat sich Intellektuellengeschichte als eigenes Forschungsfeld etabliert. Dagegen haben Hochschullehrer als spezische Gruppe von historischen Akteuren für die Zeit nach 1945 bislang weniger Aufmerksamkeit erfahren. Der Beitrag skizziert, wie das Themenheft Forschungsfelder verbindet, die meist separat bearbeitet werden, und welche Perspektiven es eröffnet, Hochschullehrer zu untersuchen, die jenseits des „Elfenbeinturms“ als Intellektuelle oder Experten den Raum des Politischen mit gestalten wollten.
Marcel vom LehnKalte Krieger? Deutsche und italienische Historiker in der Frühphase des Ost-West-Konflikts GWU 65, 2014, H. 3/4, S. 146 – 160
Prominente deutsche Historiker mischten sich ebenso wie ihre italienischen Kollegen als Intellektuelle in die öffentlichen Debatten vor dem Hintergrund des Kalten Krieges ein. Unterschiedliche politische Kulturen und Öffentlichkeitsstrukturen bedingten aber verschiedene Ausprägungen dieses Engagements. Während in Italien Geschichtswissenschaftler häufig unabhängig von ihrer Fachkompetenz und in der DDR als Publizisten im Sinne der Parteilinie das Wort ergriffen, leiteten westdeutsche Historiker ihre politischen Forderungen aus ihrer Eigenschaft als Fachleute ab.
Matthias OppermannEin transatlantisches Vital Center? Raymond Aron und der amerikanische Liberalismus (1945–1983) GWU 65, 2014, H. 3/4, S. 161 – 176
Raymond Aron war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der führende Repräsentant des französischen Liberalismus. Sein Einfluss reichte weit über Frankreich hinaus, und vor allem in den Vereinigten Staaten hat er noch heute einen festen Platz im Pantheon von Liberalen unterschiedlicher Provenienz. Der Beitrag versucht die Frage zu beantworten, welche Rolle Aron in der Zeit des Kalten Kriegs als öffentlicher Intellektueller in verschiedenen transatlantischen Netzwerken spielte, die alle den Anspruch erhoben, die Belange des Liberalismus zu vertreten.
Elke SeefriedDie politische Verantwortung des Wissenschaftlers. Carl Friedrich von Weizsäcker, Politik und Öffentlichkeit im Kalten Krieg GWU 65, 2014, H. 3/4, S. 177 – 195
Carl Friedrich von Weizsäcker wirkte im Kalten Krieg an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Geleitet wurde der Atomphysiker von der Überzeugung, dass Wissenschaftler politische Verantwortung zu tragen hätten, da Wissenschaft und Politik in der modernen technischen Welt – und gerade im „Atomzeitalter“ – eng verwoben seien. Von Weizsäcker, der das Leitbild der „Weltinnenpolitik“ prägte, pendelte zwischen direkter Politikberatung und öffentlichem Wirken. Dominierte zunächst das Selbstverständnis des Experten, der über öffentliche Stellungnahmen vor allem Handlungsdruck auf eine politische Elite ausüben wollte, so fand von Weizsäcker immer stärker in die Rolle eines öffentlichen Mahners für den Frieden, der auch in der Friedensbewegung zu einer Autorität wurde.
Franziska MeifortDer Wunsch nach Wirkung. Ralf Dahrendorf als intellektueller Grenzgänger zwischen Bundesrepublik und Großbritannien 1964–1984 GWU 65, 2014, H. 3/4, S. 196 – 216
Der Soziologe Ralf Dahrendorf (1929 – 2009) verfolgte eine deutsch-britische Karriere und nahm sowohl in der Bundesrepublik als Protagonist des deutschen Demokratisierungs- und Bildungsdiskurses der 1960er Jahre als auch in Großbritannien als Direktor der London School of Economics and Political Science (LSE) in den 1970er und 1980er Jahren einen bedeutenden Platz in der öffentlichen Sphäre ein. Der Aufsatz beleuchtet die Strategien, mit denen Dahrendorf in den Jahren 1964 bis 1984 in seinen verschiedenen Rollen als Universitätsprofessor, politischer Berater, Hochschulmanager und öffentlicher Intellektueller seine Wirkungspotenziale ausschöpfte, und wie er dabei nicht nur nationale Grenzen, sondern auch Grenzen zwischen den Sektoren von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit überschritt.
Fabian Klose“To maintain the law of nature and of nations”. Der Wiener Kongress und die Ursprünge der humanitären Intervention GWU 65, 2014, H. 3/4, S. 217 – 237
Die Thematik der humanitären Intervention, also das militärische Eingreifen eines Staates zur Verteidigung humanitärer Normen, wird in der Regel in der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts verortet. Der Beitrag zeigt, dass die Ursprünge dieser Staatenpraxis allerdings bereits am Beginn des 19. Jahrhunderts und im Umfeld des Kampfes gegen den transatlantischen Sklavenhandel zu ¬finden sind. Mit der internationalen Ächtung des Sklavenhandels auf dem Wiener Kongress etablierte sich nicht nur eine humanitäre Norm im Völkerrecht, sondern es wurde unter Führung von Großbritannien zudem eine entsprechende internationale Durchsetzungsmaschinerie konzipiert, die aus einer innovativen Kombination militärischer und juristischer Mittel bestand. Im Zusammenhang mit dieser neuen Interventionspraxis lässt sich eine bemerkenswerte Verechtung zivilgesellschaftlicher Agitation, humanitärer Normensetzung und dem Einsatz militärischer Gewalt konstatieren.