Editorial
von Peter Burschel
Feuer, Wasser, Luft und Erde: Das vorliegende Themenheft ist in der Tat "elementar", geht es in seinen Beiträgen doch um eine politische historische Anthropologie von Umwelt und damit um das komplexe Verhältnis von Sinnes-, Wissens- und Herrschaftsgeschichte. Wenn es im Beitrag der Autorin Julia Obertreis heißt "wer das Wasser hat, hat die Macht", so gilt das ohne Frage auch für die Elemente Feuer, Luft und Erde – und verweist zugleich auf das elementare Mit- und Gegeneinander von politischen Interessen, bürokratischen Ordnungen und technischen Entwicklungen, von Expertenkulturen und Deutungsregimen.
Ausgehend vom Konzept der "intersensoriality", das für die Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen einzelnen Sinneswahrnehmungen plädiert, fragt Philip Hahn im ersten Beitrag nach der "Luftpolitik" der Stadt Ulm vom ausgehenden Mittelalter bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sein Ergebnis: Wer städtische "Luftpolitik" lediglich als Hygiene- und Gesundheitspolitik versteht, muss übersehen, dass die vormoderne Vorstellung des Luftraums als eines "großen zusammenhängenden Ganzen" im Laufe des 19. Jahrhunderts verloren ging.
Einen anderen Akzent setzt Julia Obertreis im anschließenden Beitrag, indem sie Projekte des 19. und 20. Jahrhunderts in den Blick nimmt, Wasser zu regulieren und auf diese Weise verfügbar zu machen. Am Beispiel von Flüssen vor allem in Deutschland, den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion versucht sie, die Beziehung von Wasser- und Herrschaftsinfrastrukturen zu bestimmen, und streift dabei nicht zuletzt auch Vorstellungen vom Ingenieur als Leitbild der Moderne. Auch der Beitrag von Christian Wieland ist der Wasserpolitik gewidmet. Im Mittelpunkt steht dabei die größte Entwässerungs- und Landgewinnungsmaßnahme im frühneuzeitlichen England, das sogenannte "Draining of the Fens". Wieland lässt keinen Zweifel daran, dass die entstehenden einschlägigen Bürokratien fest davon ausgingen, durch eine gezielte Wasserpolitik auch den Handel und die Landwirtschaft, ja, selbst das sittliche Verhalten der Menschen beeinflussen zu können. Auch Wieland unterstreicht den zunehmenden Einfluss von Wasserexperten, von "Ingenieuren", denen es gelang, hydraulische Innovationen als "Renaissance" zu beschreiben und auf diese Weise Technikdiskurse und Techniktransfers in England überhaupt möglich zu machen.
Nach Luft und zweimal Wasser kommt auch die Erde zu ihrem Recht. Peter Kramper vertritt im vierten Beitrag des Themenhefts die These, dass die antiquarische Tradition in den Metrologie-Diskursen der Aufklärung und der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts eine größere – und nachhaltigere – Rolle spielte, als gern behauptet. Der Bezug auf das Altertum in den Debatten über die Erde als das Maß aller Dinge geriet nach Kramper erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts ins wissenschaftliche Abseits, was nicht zuletzt eines erkennen lässt: Die Vereinheitlichung von Maßen und Gewichten war nicht einfach nur das mehr oder weniger zwangsläufige Ergebnis technischer Rationalisierungsprozesse. Der einschlägige antike Rekurs offenbart vielmehr die sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Verunsicherungen, die das Ausmaß an Komplexität und Ambivalenz moderner technischer Standards hervorgebracht hat.
Bleibt das Feuer, dem der abschließende Beitrag von Cornel Zwierlein gewidmet ist. Zwierlein wählt eine sicherheitshistorische Konzeptionalisierung von Feuer als Feuergefahr, was es ihm erlaubt, mehrere elementare Entwicklungen zu identifizieren: die Entstehung eines institutionalisierten Feuer-Expertentums; die Transformation der Feuergefahr als Naturgefahr in eine Technikgefahr; und schließlich die zunehmende Vernetzung von Feuerwissen, Feuerschutz und Feuerhilfe. Eine Vernetzung, die als globales "community building" noch weitgehend unbekannt ist.
INHALT DER GWU 11–12/2016
ABSTRACTSS. 634
EDITORIALS. 636
BEITRÄGE
Philip HahnLuft – eine elementare Angelegenheit vormoderner Kommunalpolitik? Beobachtungen an einer deutschen Stadt vom 15. bis zum 19. Jahrhundert S. 637
Julia ObertreisVon gezähmten Flüssen, grandiosen Staumauern und Neuen Menschen. Wasser und die Transformation von Landschaft und Mensch im 19. und 20. Jahrhundert S. 656
Christian WielandWasser, Politik und Bürokratie. Politische Kultur der Hydraulik im England der Tudors und Stuarts S. 675
Peter KramperDie Erde als das Maß aller Dinge. Antike Bezüge einer naturphilosophischen Debatte des 18. und 19. Jahrhunderts S. 695
Cornel ZwierleinVom Londoner Brand 1666 zu 9/11. Feuergefahr und Feuerexperten seit dem 17. Jahrhundert S. 711
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Gregor HorstkemperWechselwirkungen im Weltmaßstab. Online-Ressourcen zur Umweltgeschichte S. 731
LITERATURBERICHT
Jens Scheiner/Undine OttNeuerscheinungen zur Geschichte der islamisch geprägten Welt S. 734
NACHRICHTENS. 757
AUTORINNEN UND AUTORENS. 764
REGISTER DES JAHRGANGS 67, 2016S. 765
ABSTRACTS DER GWU 11–12/2016
Philip HahnLuft – eine elementare Angelegenheit vormoderner Kommunalpolitik. Beobachtungen an einer deutschen Stadt vom 15. bis zum 19. Jahrhundert GWU 67, 2016, H. 11/12 S. 637 – 655
Lange vor der Einrichtung von Umweltzonen war die Luft ein Gegenstand städtischer Politik. Meist ging es um die Bekämpfung von Gerüchen, die als gefährlich oder unangenehm empfunden wurden. Solche Verunreinigungen konnte man riechen, nicht aber das Element Luft, das nach der Lehre von den vier Elementen nicht unvermischt auf der Erde vorhanden war. Dennoch prägte die Vorstellung von der Geruchlosigkeit reiner Luft langfristig die Erwartungen und das Handeln der Menschen. Der Aufsatz spürt dieser Kontinuität über den Wandel der Wahrnehmungsgewohnheiten und des Sprechens über Gerüche hinweg nach.
Julia ObertreisVon gezähmten Flüssen, grandiosen Staumauern und Neuen Menschen. Wasser und die Transformation von Landschaft und Mensch im 19. und 20. Jahrhundert GWU 67, 2016, H. 11/12, S. 656 – 674
Das Verhältnis des Menschen zum Element Wasser zu betrachten, gibt Aufschluss über Vorstellungen vom Mensch-Natur-Verhältnis und über gesellschaftliche Leitbilder. Flusskorrektionen hatten den charakteristischen Anspruch, die Natur zu bändigen und Wasser in größerem Maße dienstbar zu machen. Der Talsperrenbau legitimierte sich nicht nur über die verschiedenen unmittelbaren Nutzungsmöglichkeiten des gestauten Wassers, sondern auch über die Schaffung einer modernen, technisierten Landschaft. Schließlich standen, besonders deutlich in staatssozialistischen Ländern, Entwürfe des Neuen Menschen im Zusammenhang mit Wasserbauten.
Christian WielandWasser, Politik und Bürokratie. Politische Kultur der Hydraulik im England der Tudors und Stuarts GWU 67, 2016, H. 11/12, S. 675 – 694
Die traditionellen Institutionen zur Regelung des Wasserbaus in England waren Commissions of Sewers, die selbstständig die Infrastrukturen der Be- und Entwässerung ihrer Grafschaften regelten. Im 16. Jahrhundert wurden die Commissions in die königliche Zentralverwaltung integriert und zunehmend durch den Geheimen Rat kontrolliert. Zentralstaatliche Konkurrenz erhielten sie jedoch erst im 17. Jahrhundert, als Unternehmerkonsortien großangelegte Landgewinnungsprojekte planten und professionelle Ingenieure mit neuartigen Vorstellungen von "Natur" und "Technik" ihre Konzepte verwirklichen konnten.
Peter KramperDie Erde als das Maß aller Dinge. Antike Bezüge einer naturphilosophischen Debatte des 18. und 19. Jahrhunderts GWU 67, 2016, H. 11/12, S. 695 – 711
Das metrische System der Maße und Gewichte erscheint auf den ersten Blick als eine nahezu perfekte Metapher für neuzeitliche Rationalisierungsbestrebungen. Der Aufsatz vertritt jedoch die These, dass seine konzeptionelle Grundidee – die Kopplung der Maße an den Erdumfang – entscheidend von der Orientierung an antiken Vorbildern geprägt war. Eines der Kernprojekte der Naturphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts stand damit in diametralem Gegensatz zum Anspruch der "wissenschaftlichen Revolution", die Bezugnahme auf das Altertum durch das beobachtende oder experimentelle Lernen von der Natur zu ersetzen.
Cornel ZwierleinVom Londoner Brand 1666 zu 9/11. Feuergefahr und Feuerexperten seit dem 17. Jahrhundert GWU 67, 2016, H. 11/12, S. 711 – 730
Vier aktuelle Forschungsfelder, die auch für die Vermittlung im Schulunterricht zentral sind, werden vorgestellt: die Grundlagenarbeit der Ermittlung und des Vergleichs von historischen 'Brandökologien' für einzelne Regionen (1), die Entstehung von Expertenkommunikation und deren Institutionalisierung hinsichtlich von Feuer, Brandvor- und -nachsorge (2), die Transformation der Feuergefahr zwischen 1770 und 1830 von einer Naturgefahr in ein Risiko primär der Frühindustrialisierung (3) sowie die Vernetzungs- und Globalisierungswirkung von Wissenstransfer, Risikokollektivierung und der Entstehung transregionaler Solidaritätsgemeinschaften (4).