Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 68 (2017), 9–10

Titel der Ausgabe 
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 68 (2017), 9–10
Weiterer Titel 
Reformation

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monatlich

 

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Institution
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Land
Deutschland
c/o
Prof. Dr. Michael Sauer Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel. 0551/39-13388 Fax 0551/39-13385
Von
Sauer, Michael

Angesichts des nahenden Endes der Lutherdekade mit ihren vielfältigen Events mehren sich Stimmen, die nach dem reformationsgeschichtlichen Ertrag des Hypes fragen. Das vorliegende Heft macht vor diesem Hintergrund auf vier Forschungsfelder aufmerksam, die in den vergangenen Jahren das besondere Interesse von Reformationshistorikerinnen und Reformationshistorikern gefunden haben: die Mediengeschichte, die Sinnesgeschichte, die Körpergeschichte und die Geschlechtergeschichte. Das Heft ist damit in besonderer Weise der Frage nach einer historischen Anthropologie der Reformation verpflichtet. Einer Frage, die allem Anschein nach die reformationsgeschichtliche Forschung auch perspektivisch in Atem halten wird.

Ausgehend von der Dachmarkenkampagne zum Reformationsjubiläum „Am Anfang war das Wort“ der Evangelischen Kirche in Deutschland, bestimmt Marcus Sandl die spezifische „Medialität der Reformation“ als paradigmatisches Wechselspiel von Druckmedienereignissen – vor allem technologischer Art –, von Ereignissen des wirksamen Gotteswortes – zum Beispiel als hermeneutische Aktualisierung der Schrift – und von Ereignissen performativen Handelns reformatorischer Subjekte wie Predigern oder Propheten. Sandl führt dabei zugleich in die Mediengeschichte der Reformation und deren Kontroversen ein. Im Anschluss skizziert Philip Hahn aus der methodischen Perspektive der „sensory history“ die Umrisse einer Sinnesgeschichte der Reformation. In einem ersten Schritt fragt er danach, welche Sinnes-Lehren, ja, Sinnes-Theologien die Reformatoren entwickelten bzw. weiterentwickelten. In einem zweiten Schritt versucht er, die sinnlich wahrnehmbaren Umwelten des religiösen Lebens zu Beginn des 16. Jahrhunderts zu rekonstruieren: die reformatorischen Wahrnehmungsräume. Und in einem dritten Schritt schließlich bestimmt er die Möglichkeiten einer methodisch angemessenen Untersuchung zeitgenössischer Sinnes-Wahrnehmungen. Hahn plädiert dabei jenseits des Stereotyps vom Protestantismus als einer „Religion des Hörens“ nachdrücklich dafür, den Wandel von religiösen Wahrnehmungsmustern in der Reformation im Rahmen einer umfassenden Transformation der spätmittelalterlichen Kultur der Sinne zu untersuchen. Für Hahn steht außer Frage: Wer die Reformation konsequent als Sinneserfahrung interpretiert, muss (auch ereignisgeschichtlich) mit einer anderen Reformation rechnen als der „gewohnten“. Auch Benedikt Brunner ist zumindest implizit der „sensory history“ verpflichtet, wenn er nach dem „Menschenbild“ der Reformation fragt, worunter er nicht zuletzt auch Aussagen über den heilsgeschichtlichen Ort des Menschen versteht. Brunner geht seiner Frage in zwei Schritten nach: In einem ersten Schritt versucht er, die Aussagen lutherischer Theologen über den Menschen zu rekonstruieren, und in einem zweiten, diese Aussagen historisch-anthropologisch zu perspektivieren, wobei er das Konzept der „Ganzkörpergeschichte“ ins Spiel bringt. Brunner versteht seinen Beitrag vor diesem Hintergrund auch als Plädoyer für eine Kirchen- und Theologiegeschichte, die kulturanthropologisch aufgeschlossen ist.

Andere Akzente setzt der abschließende Beitrag von Helmut Puff, so sehr auch er kulturanthropologischen Ansätzen verpflichtet ist. Sein Ziel ist es, bildliche Entwürfe von Männlichkeit im Reformationszeitalter zu identifizieren. Neben Dürers Kupferstich „Adam und Eva“ von 1504 und den einschlägigen Holzschnitten von Urs Graf ist es vor allem der sogenannte Wrangel-Kunstschrank von 1566, der das Interesse des Verfassers findet. Seine These lautet, dass die visuelle Repräsentation von Geschlecht in den untersuchten Bildquellen gebrochen ist und in ihrer Gebrochenheit als Katalysator jener patriarchal bestimmten Männlichkeit gelten darf, die von den Reformatoren entworfen und verbreitet wurde. Visuelle Komplexität, patriarchale Aufrüstung und kontrollierte Maskulinität gehen hier nach Puff Hand in Hand – und lassen zugleich die Umrisse einer geschlechtergeschichtlich motivierten Bildanthropologie des Reformationszeitalters erkennen.

Von Peter Burschel

Inhaltsverzeichnis

INHALT DER GWU 9–10/2017

ABSTRACTS (S. 482)

EDITORIAL (S. 484)

BEITRÄGE

Marcus Sandl
„Am Anfang war das Wort“
Neuere Perspektiven auf die Medialität der Reformation (S. 485)

Philip Hahn
Nur „die augen jnn die orhen“ stecken?
Überlegungen zu einer Sinnesgeschichte der Reformation (S. 503)

Benedikt Brunner
Ein neuer Mensch?
Körperlichkeit, Sinneserfahrungen und Emotionen in der Reformation Martin Luthers (S. 520)

Helmut Puff
Männlichkeit in Bildquellen des 16. Jahrhunderts
Ein Beitrag zur Geschlechtergeschichte im Reformationszeitalter (S. 535)

BERICHTE UND KOMMENTARE

Thomas Lange
Nicht nur frontal …
Anmerkungen zu Hans-Joachim Cornelißen: Geschichtsunterricht in Frankreich
(GWU 68, 2017, H. 3/4, S. 141–153) (S. 549)

INFORMATIONEN NEUE MEDIEN

Alessandra Sorbello Staub
„Reformationsunterricht reloaded“: didaktische Angebote zum Reformationsjahr (S. 552)

LITERATURBERICHTE

Martin Kintzinger
Mittelalter und spätes Mittelalter, Teil III (S. 555)

Benedikt Stuchtey
Zwischen „Brexit“ und „Sonderweg“?
Themen, Tendenzen und Trends in der Forschung zur britischen Geschichte (16. – 20. Jhd.), Teil I (S. 568)

AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 592)

ABSTRACTS DER GWU 9–10/2017

Marcus Sandl
„Am Anfang war das Wort“
Neuere Perspektiven auf die Medialität der Reformation
GWU 68, 2017, H. 9/10, S. 485 – 502
Dass in der Reformation Medien eine herausragende Rolle spielten, ist seit langem Forschungskonsens. „Ohne Buchdruck keine Reformation“, so das vielzitierte Bonmont des Kirchenhistorikers Bernd Moeller. Während die ältere Forschung sich auf die Druckmedien konzentrierte, lässt sich in den letzten Jahren indes eine zunehmende Differenzierung von Zugriffsweisen und Erkenntnisinteressen feststellen. Neben Untersuchungen zu einzelnen Mediengattungen wie Flugblättern und Flugschriften sind mittlerweile Forschungen zur Multimedialität und Ritualität, zum Zusammenhang von Sinn und Sinnlichkeit sowie zur kommunikativen und medialen Emergenz der Reformation getreten. Diese aktuellen Forschungsdebatten zur Medialität der Reformation skizziert der Aufsatz ausgehend von der Medienkampagne zum Reformationsjubiläum 2017, die unter dem biblischen Motto „Am Anfang war das Wort“ stand.

Philip Hahn
Nur „die augen jnn die orhen“ stecken?
Überlegungen zu einer Sinnesgeschichte der Reformation
GWU 68, 2017, H. 9/10, S. 503 – 519
Dass die Reformation die Sinneswahrnehmung der Zeitgenossen auf vielfältige Weise betraf, ist seit langem bekannt und wurde durch das Reformationsjubiläum erneut ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Doch was bedeutet es, die Reformation konsequent als Sinneserfahrung zu interpretieren? Ausgehend von dem methodischen Ansatz der Sinnesgeschichte (sensory history) bietet der Aufsatz einen strukturierten Einstieg in ein Themenfeld, das zwischen den Lehren reformatorischer Theologen über die Sinne, der Umgestaltung sinnlich wahrnehmbarer Räume und der Veränderung der Wahrnehmungsgewohnheiten der Menschen liegt. Jenseits des klassischen Stereotyps vom Protestantismus als einer Religion des Hörens geht es darum, den reformatorischen Wandel religiöser Wahrnehmungsmuster als Teil einer umfassenderen Kultur der Sinne zu verstehen.

Benedikt Brunner
Ein neuer Mensch?
Körperlichkeit, Sinneserfahrungen und Emotionen in der Reformation Martin Luthers
GWU 68, 2017, H. 9/10, S. 520 – 534
In der Reformation Martin Luthers wurde von diesem eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott vorgenommen. Es ist allerdings unklar, welches Menschenbild der Wittenberger Reformator vertrat. Unter Menschenbild werden dabei alle seine Aussagen über die Konstitutiva, das Wesen sowie den „heilsgeschichtlichen Ort“ des Menschen verstanden. Dieser ideengeschichtliche Ansatz wird mit der Frage verbunden, welche kulturellen Implikationen das Konzept des „neuen Menschen“ der lutherischen Reformation bezüglich der Bereiche Körperlichkeit sowie hinsichtlich der Sinneserfahrungen und Emotionen gehabt hat.

Helmut Puff
Männlichkeit in Bildquellen des 16. Jahrhunderts
Ein Beitrag zur Geschlechtergeschichte im Reformationszeitalter
GWU 68, 2017, H. 9/10, S. 535 – 548
Bilder stellen reichhaltige Materialien für die Erforschung der Geschlechtergeschichte im Allgemeinen und die Geschichte der Männlichkeit im Besonderen bereit. Zeichnungen, Drucke und Objekte mit Bildelementen aus dem 16. Jahrhundert transportieren oft spannungsreiche Entwürfe männlicher Existenz, die sich von normativen oder unterweisenden Quellen abheben. Das gilt insbesondere dort, wo sich Künstler wie Albrecht Dürer und Urs Graf in das Bildgeschehen involvieren, wie das in der Bildproduktion im Reformationsjahrhundert nicht ungewöhnlich ist – Szenarien, welche die Reaktionen des Publikums modellieren. Es gilt, diese visuelle Komplexität im Hinblick auf die patriarchale Aufrüstung und das Ideal kontrollierter Maskulinität, wie es in der Reformationszeit an Bedeutung gewinnt, auszuloten.

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