EDITORIAL
Obwohl der „material turn“ inzwischen schon ein wenig in die Jahre gekommen ist, scheint das Interesse an Dingen in den Geschichts- und Kulturwissenschaften ungebrochen zu sein. Das vorliegende Heft versucht, dieses Interesse disziplinär näher zu bestimmen und zugleich auch zu perspektivieren. Zu Wort kommen die Archäologie, die Kunstgeschichte, die Provenienzforschung und die Konsumgeschichte in didaktischer Erweiterung.
So fragt Ulrich Veit nach den Antworten der Archäologien – vor allem der Prähistorischen Archäologie – auf die begrifflichen und methodisch-konzeptionellen Herausforderungen einer materiell gewendeten Kulturwissenschaft. Veit kann zeigen, wie viel- und durchaus auch gegenstimmig die Archäologien auf das plötzliche kulturwissenschaftliche Scheinwerferlicht reagieren, was er als Zeichen von Verunsicherung deutet. Die Chancen für eine Annäherung zwischen Archäologie und Kulturwissenschaft sieht er vor diesem Hintergrund eher skeptisch.
Ariane Koller fragt im Anschluss nach der Bedeutung angewandter Künste für die zeremonielle Machtentfaltung am Dresdner Hof unter Johann Georg I. von Sachen, der von 1611 bis 1656 regierte. Die Dinge, die sie dabei in den Blick nimmt, sind zwei Globuspokale, ein Kunstschrank mit herausziehbarem Spinett und ein sogenanntes Landschaftskleid, das unter anderem eine Ansicht von Dresden zeigt. Koller demonstriert, wie diese Dinge innerhalb der symbolischen höfischen Kommunikation performative Wirkung entfalten konnten, indem sie sich auf aktuelle theologische, naturphilosophische und staatstheoretische Diskurse beziehen ließen.
Der folgende Beitrag verweist am Beispiel der ethnografischen Erwerbungs„kultur“ des Freiburger Natur- und Völkerkundemuseums zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf ein Feld, das in den vergangenen Jahren besondere wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden hat: das Feld der Provenienzforschung. Markus Himmelsbach untersucht, auf welchen Wegen Dinge und Dinggruppen ins Museum kamen und welche Akteure daran beteiligt waren, wobei sein Schwerpunkt auf den sogenannten Benin-Bronzen liegt. Er fragt, welche Bedeutungszuschreibungen mit den Objekten verbunden waren und welche Veränderungen diese Zuschreibungen durchlaufen konnten. Das besondere Interesse des Verfassers gilt dabei der zeitgenössischen Suche nach „Echtheit“ und damit nach (vermeintlicher) „Authentizität“. So verlor zum Beispiel eine 1911 ersteigerte mesoamerikanische Bilderschrift für das Museum jede Bedeutung, nachdem sie als Fälschung entlarvt worden war. Himmelsbach rekonstruiert auf diese Weise „Objektbiografien“, die das „Authentische“ als Produkt europäischer kolonialer Kultur entlarven.
Zurück in die frühe Neuzeit führt der abschließende Beitrag von Anke John und Julia A. Schmidt-Funke. Ausgehend von der Beobachtung, dass Konsumgeschichte im Geschichtsunterricht kaum eine Rolle spielt, zeigen die beiden Verfasserinnen, warum und wie sich das ändern sollte. Am Beispiel eines konfliktreichen und deshalb aktenkundigen Verkaufs von Kleidung auf dem Frankfurter Krempelmarkt zu Beginn des 17. Jahrhunderts und einer Fayence aus Frankfurter Produktion des späten 17. Jahrhunderts – es handelt sich wohl um einen Windeltrockner – führen sie im Dialog zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik vor Augen, wie frühneuzeitliche Konsumgeschichte als Kulturgeschichte von Kauf und Verkauf im Unterricht umgesetzt werden kann. Wer auf die bloße Präsentation materieller Überlieferungen im Unterricht setze, so die Verfasserinnen nachdrücklich, laufe Gefahr, das eigensinnige Konsumverhalten historischer Subjekte zu verfehlen. Das aber heißt im Umkehrschluss: Dinggeschichte kann dazu beitragen, über das vergangene auch das eigene, das gegenwärtige Konsumverhalten genauer kennenzulernen.
Von Peter Burschel
INHALT
Abstracts (S. 490) Editorial (S. 492)
Beiträge
Ulrich VeitObjektanalyse – Sachwissen – Dingbefremdung „Materielle Kultur“ im Fokus der Prähistorischen Archäologie (S. 493)
Ariane KollerObjektwelten in Bewegung Die Repräsentation der Macht am Hof des Kurfürsten Johann Georg I. von Sachsen (S. 513)
Markus HimmelsbachDas Authentische und das Profane Koloniale Objektbiografien und Bedeutungsproduktion am Beispiel von Ethnografika in Freiburg (S. 530)
Anke John/Julia A. Schmidt-FunkeDidaktische Perspektiven auf eine Konsumgeschichte der Frühen Neuzeit (S. 549)
Berichte und Kommentare
Raimund Schulz/Uwe WalterEine neue Idee vom alten Griechenland? Endlich einmal kontrovers: Josiah Obers ökonomisch-kybernetische Erfolgsgeschichte der Hellenen (S. 568)
Wilfried Seyfarth/Frank Stuhlmann/Brigitte Wonneberg35 Jahre „Wolfenbütteler Schülerseminare“ in der Herzog August Bibliothek WolfenbütteL (S. 579)
Informationen Neue Medien
Alessandra Sorbello StaubRan an die Objekte! Angebote zur materiellen Kultur im Netz (S. 582)
Literaturbericht
Ulrich MüllerArchäologie, Teil III (S. 585)
Nachrichten (S. 596)
Autorinnen und Autoren (S. 600)
ABSTRACTS
Ulrich VeitObjektanalyse – Sachwissen – Dingbefremdung „Materielle Kultur“ im Fokus der Prähistorischen Archäologie GWU 69, 2018, H. 9/10, S. 493 – 512 Die Tatsache, dass den Archäologien von Seiten einer materiell gewendeten Kulturwissenschaft seit einiger Zeit eine besondere Aufmerksamkeit gilt, ist in den betroffenen Fächern selbst unterschiedlich aufgenommen worden. Dies hängt sicher auch damit zusammen, dass durch die neuen kulturwissenschaftlichen Ansätze alte Gewissheiten über den eigenen Forschungsgegenstand („materielle Kultur“) und die fachspezifische Methodologie infrage gestellt werden. Entsprechend zeigt die gegenwärtige Fachdebatte eine Vielstimmigkeit, die zugleich als ein Ausdruck von Unsicherheit interpretiert werden muss. Der Beitrag gibt eine kritische Bilanz des Diskussionsstands aus der Perspektive der Prähistorischen Archäologie.
Ariane KollerObjektwelten in Bewegung Die Repräsentation der Macht am Hof des Kurfürsten Johann Georg I. von Sachsen GWU 69, 2018, H. 9/10, S. 513 – 529 Da sie das Potenzial besaßen, die für die Zurschaustellung der fürstlichen dignitas fundamentalen Aspekte der Sichtbarkeit und des Vollzugs auf einer ästhetischen Ebene zu verbinden, fungierten Objekte der angewandten Künste innerhalb der symbolischen Kommunikation frühneuzeitlicher Höfe als wesentliche Elemente des Zeremoniells. Am Beispiel von Arbeiten der Silberschmiede-, Möbel- und Textilkunst aus dem Besitz Johann Georgs I. von Sachsen (1585 –1656) möchte der Beitrag aufzeigen, dass die Werke nicht nur dank ihrer kostbaren Materialität und Virtuosität der künstlerischen Ausführung, sondern vor allem aufgrund ihrer konzeptuellen Partizipation an zeitgenössischen theologischen, (natur-)philosophischen und staatstheoretischen Diskursen als zentrale Instrumente der Machtentfaltung am Dresdner Hof fungierten.
Markus HimmelsbachDas Authentische und das Profane Koloniale Objektbiografien und Bedeutungsproduktion am Beispiel von Ethnografika in Freiburg GWU 69, 2018, H. 9/10, S. 530 – 548 „Dem Beschauer der Ausbeute ein klares Erkennen der Eigenart des Volkes“ ermöglichen – so formulierte der Direktor des Natur und- Völkerkundemuseums Freiburg, Hugo Ficke, das Ziel des Sammelns. Die Geschichte einzelner Objekte oder Objektgruppen lässt sich systematisch daraufhin untersuchen, wie dasselbe Objekt in unterschiedlichen Kontexten genutzt, imaginiert, bewertet und welche Bedeutung ihm zugewiesen wurde. Welche Vorstellungen verbanden sich mit einer königlichen Bronzebüste aus Benin, einem Speer aus der deutschen Kolonie Ost-Afrika oder mit einem mittelamerikanischen Codex? Auf welchen Wegen gelangten sie in das Museum und welche Akteure waren mit welchen Motiven daran beteiligt?
Anke John/Julia A. Schmidt-FunkeDidaktische Perspektiven auf eine Konsumgeschichte der Frühen Neuzeit GWU 69, 2018, H. 9/10, S. 549 – 567 Im Dialog von Fachdidaktik und Fachwissenschaft erschließt der Beitrag die Konsumgeschichte der Frühen Neuzeit als Gegenstand historischen Lernens. Ausgehend vom Lebenswelt- und Gegenwartsbezug des Themas werden zunächst die Transferbedingungen aktueller Forschungsdebatten erörtert. Die daran anschließenden curricularen Gestaltungshilfen zielen auf ein integrales Verständnis von Kultur- und Politikgeschichte. Zwei Beispiele eines text- bzw. objektbezogenen Zugangs zu Geschichten des frühneuzeitlichen Konsums bieten konkrete Impulse für die unterrichtspraktische Umsetzung.