Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 68 (2017), 7–8

Titel der Ausgabe 
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 68 (2017), 7–8
Weiterer Titel 
Personalentscheidungen

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Institution
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Land
Deutschland
c/o
Prof. Dr. Michael Sauer Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel. 0551/39-13388 Fax 0551/39-13385
Von
Sauer, Michael

Obwohl sich in der Gegenwart eine umfangreiche Literatur Personalentscheidungen aus einer betriebswirtschaftlichen, pädagogischen oder soziologischen Perspektive widmet, hat die Geschichtswissenschaft das entsprechende Forschungsfeld bislang systematisch kaum vermessen.
Dies muss schon allein deswegen verwundern, weil soziale Kollektive bereits in einem frühen Stadium der Vergesellschaftung Prozeduren entwickelt haben, um aus einem breiten Feld potentiell vielversprechender Kandidatinnen und Kandidaten jeweils die Geeignetsten für eine Führungsposition auszuwählen. Dabei kamen verschiedene Modi zur Anwendung.
Spielten in der Antike und auch im nachfolgend eher christlich geprägten Mittelalter oftmals Vorstellungen von der Auserwähltheit eine wichtige Rolle, kamen bereits früh mit dem Los oder der Wahl ergänzende Prozeduren zur Anwendung. Ähnliches gilt für den Bezug auf die Abstammung beziehungsweise Familienbande. Wesentlich vorangetrieben vom Vordringen der Rationalität in der modernen „Entscheidungsgesellschaft“, rückte später der offen zugängliche und auf klaren Leistungskriterien beruhende Wettbewerb bei Personalentscheidungen zum entscheidenden Kriterium auf.

Gleichwohl gehen – wie die Beiträge dieses Themenheft aufzeigen – idealtypische oder sogar fortschrittsgläubige Vorstellungen eines Weges von geschlossenen Rekrutierungsverfahren in der Vormoderne hin zu stärker transparenten Personalentscheidungen in der Moderne insgesamt fehl. Zwar lassen sich in einer generellen Betrachtungsweise, so argumentieren einleitend Christoph Cornelißen und Andreas Fahrmeir, in ausgewählten historischen Formationen durchaus Präferenzen für unterschiedliche Modi identifizieren. Dennoch wiesen Entscheidungskulturen allgemein und Personalentscheidungen im Besonderen eine inhärente und irreduzible Kontingenz auf.
Zur genauere Dokumentation und Diskussion dieses Sachverhalts spannen die nachfolgenden Beiträge ein zeitlich und inhaltlich breites Panorama auf. So demonstriert Dawid Wierzejski anhand der Bischofswahlen in der Spätantike, dass die von der historischen Forschung hierfür lange Zeit verwendeten Gesetzestexte tatsächlich kein Abbild der historischen Realität darstellen, sondern vielmehr das Nebeneinander lokaler Traditionen mit kirchlichem und kaiserlichem Recht die konkreten Verfahrensweisen ausbildete. Zwei weitere Beiträge beschäftigen sich mit Personalentscheidungen im Bildungswesen. Mit der „Inspection générale“ nimmt Annika Klein eine seit dem 19. Jahrhundert aufgebaute Schlüsselinstitution in Frankreich in den Blick, die nicht nur für die Kontrolle der Räumlichkeiten, Finanzen und Verwaltung verantwortlich zeichnete, sondern die bei Unterrichtsbesuchen auch die Qualitäten von Schülern und Lehrern bewertete. Darüber hinaus verdeutlicht Maya Gradenwitz in einem weit über das hier behandelte Fallbeispiel hinausreichenden Zugriff, dass die seit 1989/90 massenhaft im öffentlichen Schulwesen getroffenen Personalentscheidungen wegen der hierbei aufgetretenen Versäumnisse bei den Betroffenen einen verheerenden Eindruck hervorriefen und sich darüber die Legimitation der Personalentscheidungen insgesamt verflüchtigte.
Auch die Abhandlungen von Jörg Lesczenski zur Personalpolitik westdeutscher Eisen- und Stahlkonzerne zwischen 1960 und 1973 sowie von Nils Löffelbein zum Umbau der öffentlichen Verwaltung in der Regierungszeit der britischen Premierministerin Margaret Thatcher untermauern die Ausgangshypothese dieses Themenheftes: Danach unterscheiden sich historische Konstellationen von Personalentscheidungen durch ihre jeweiligen Entscheidungsstile, das heißt durch einen koevolutiven Komplex von Semantiken, Institutionen und Praktiken, bei denen sich die jeweiligen Ebenen gegenseitig ermöglichen und gegebenenfalls reiben, aber letztlich nicht determinieren.

Von Christoph Cornelißen

Inhaltsverzeichnis

INHALT DER GWU 7–8/2017

BEITRÄGE

Christoph Cornelißen/Andreas Fahrmeir
Personalentscheidungen für gesellschaftliche Schlüsselpositionen
Historische Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld (S. 365)

Dawid Wierzejski
Bischofswahlen in der Spätantike (S. 375)

Annika Klein
„Augen und Arme des Ministers“
Die Inspection générale de l’Instruction publique 1802–1900 (S. 388)

Jörg Lesczenski
„Intern vor extern“
Reformen in der Personalpolitik westdeutscher Eisen- und Stahlkonzerne
1960 bis 1973 (S. 403)

Nils Löffelbein
„The very brightest young men and women in the Civil Service“
Personalentscheidungen in der höheren Staatsverwaltung Großbritanniens in der
Regierungszeit Margaret Thatchers 1979–1990 (S. 419)

Maya I. S. Gradenwitz
Eine „pädagogische Erneuerung“?
Personalentscheidungen beim Aufbau des Bildungswesens im Freistaat Thüringen (S. 435)

BERICHTE UND KOMMENTARE

Maya I. S. Gradenwitz/Carla Reitter
Reisen an den authentischen Ort des Ersten Weltkriegs?
Vom (Mehr-)Wert einer Exkursion an die Westfront für die geschichtswissenschaftliche
Erkenntnis (S. 449)

Tobias Arand
Mehr Licht!
Das neu eröffnete ‚Mémorial de Verdun‘ (S. 458)

INFORMATIONEN NEUE MEDIEN

Gregor Horstkemper
Trabantenhauptmann und Kammerjungfer
Das Hofpersonal frühneuzeitlicher Monarchen (S. 465)

LITERATURBERICHT

Martin Kintzinger
Mittelalter und spätes Mittelalter, Teil II (S. 468)

NACHRICHTEN (S. 478)

AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 480)

ABSTRACTS DER GWU 7–8/2017

Christoph Cornelißen/Andreas Fahrmeir
Personalentscheidungen für gesellschaftliche Führungspositionen
Historische Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld
GWU 68, 2017, H. 7/8, S. 365– 374
Obwohl sich unter den Stichworten „Personalauswahl“ oder „Personalselektion“ eine umfangreiche Literatur Personalentscheidungen aus einer betriebswirtschaftlichen, pädagogischen oder soziologischen Perspektive widmet, hat die Geschichtswissenschaft diesen Bereich bislang systematisch kaum vermessen. Vor diesem Hintergrund bietet der Beitrag zum einen konzeptionelle Vorüberlegungen für eine Ergründung des neuen Forschungsfeldes, zum anderen markiert er Themenfelder, an die historische Untersuchungen anknüpfen können, um mit den Methoden der Geschichtswissenschaft ein besser begründetes Verständnis von Personalentscheidungen zu erzielen.

Dawid Wierzejski
Bischofswahlen in der Spätantike
GWU 68, 2017, H. 7/8, S. 375– 387
Thema des Artikels sind Bischofswahlen in der Spätantike, dem Zeitraum vom 4. Bis zum 6. Jahrhundert n. Chr. Dabei stehen die rechtlichen Grundlagen und die soziale Signifikanz und Praxis im Fokus der Darstellung. Es wird dargestellt, wie die steigende Bedeutung der Bischöfe in der spätantiken Gesellschaft neue Regeln von kirchlicher und staatlicher Seite hervorbrachte. Diese Regeln sollten den Konsens innerhalb der Gemeinden garantieren, der durch divergierende Interessen der beteiligten Akteure gefährdet war.

Annika Klein
„Auge und Arme des Ministers“
Die Inspection générale de l’Instruction publique 1802–1900
GWU 68, 2017, H. 7/8, S. 388– 402
Seit ihrer Gründung 1802 spielte die Generalinspektion des Bildungsministeriums eine zentrale Rolle im französischen Schulsystem. Die Berichte der Inspektoren über Unterricht und Charakter der Lehrenden dienten dem Ministerium als Grundlage für Stellenbesetzungen, Beförderungen und Versetzungen. Gleichzeitig war aber auch die Inspektion selbst in hohem Maße von politisch motivierten Personalentscheidungen abhängig, die sie im Sinne neuer Vorstellungen eines idealen Bildungssystems umformten.

Jörg Lesczenski
„Intern vor extern“
Reformen in der Personalpolitik westdeutscher Eisen- und Stahlkonzerne 1960 bis 1973
GWU 68, 2017, H. 7/8, S. 403– 418
Der Verlust zahlreicher Führungskräfte im Zweiten Weltkrieg, die Entflechtung der Montankonzerne nach 1945 und die Diskussion über neue kooperative Führungsstile veränderten das Umfeld für die Personalpolitik westdeutscher Unternehmen grundlegend. Vor dem Hintergrund der externen Herausforderungen und des beschleunigten Branchenwandels analysiert der Beitrag die Reformen in der Personalpolitik von Großunternehmen in der Eisen- und Stahlindustrie seit den 1960er-Jahren. Die neuen Praktiken bei der Auswahl und Beförderung leitender Angestellter liefen letztlich darauf hinaus, den eigenen Nachwuchs stärker als bisher systematisch zu fördern.

Nils Löffelbein
„The very brightest young men and women in the Civil Service“
Personalentscheidungen in der höheren Staatsverwaltung Großbritanniens in der Regierungszeit Margaret Thatchers 1979– 1990
GWU 68, 2017, H. 7/8, S. 419– 434
Während der Regierungszeit der britischen Premierministerin Margaret Thatcher kam es wie in keinem anderen westeuropäischen Land zu umwälzenden Reformen im öffentlichen Dienst, die sich auch grundlegend auf die Personalentscheidungen in den höchsten Rängen des britischen Staatsdienstes auswirkten. So wurden in den 1980er Jahren zentrale Schlüsselstellungen der höchsten Verwaltungsebene zunehmend mit Kandidaten besetzt, die sich deutlich vom traditionellen Typus des Whitehall-Beamten unterschieden und teilweise als externe Quereinsteiger aus der Privatwirtschaft stammten.

Maya I. S. Gradenwitz
Eine „Pädagogische Erneuerung“?
Personalentscheidungen beim Aufbau des Bildungswesens im Freistaat Thüringen
GWU 68, 2017, H. 7/8, S. 435– 448
In der ersten Hälfte der 1990er-Jahre kam es im Freistaat Thüringen zu einer Vielzahl an Personalentscheidungen im Kultusbereich. Besonders umstritten war die Überprüfung der in der DDR ausgebildeten Pädagoginnen und Pädagogen auf fachliche bzw. persönlich-politische Eignung für den Schuldienst im vereinigten Deutschland. Begonnen unter der ersten Kultusministerin Christine Lieberknecht und fortgesetzt unter ihrem Nachfolger Dieter Althaus sorgten insbesondere die daraus resultierenden Entlassungen für heftige Auseinandersetzungen, die schließlich sogar gerichtlich ausgetragen wurden.

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