Editorial von Winfried Schulze
Je älter unsere Bundesrepublik wird, desto erstaunter fragen sich Öffentlichkeit wie Wissenschaft nach den Gründen für die bemerkenswerte Erfolgsgeschichte unseres Gemeinwesens. Gerade vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit den relativ kurzlebigen politischen Systemen Deutschlands seit dem 19. Jahrhundert gerät die jetzt schon 60 Jahre währende offensichtliche Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik zu einem immer wieder diskutierten Gegenstand, der zur Würdigung ebenso herausfordert wie er nach Erklärung verlangt. Wie lassen sich im „Jubiläumsjahr“ 2009 nun Würdigung, Erklärung und Berücksichtigung des dichten Forschungsstandes überschaubar integrieren? Die Herausgeber von GWU haben in diesem Heft den Versuch unternommen, die Verfasser herausragender Standardwerke zur deutschen und zur bundesrepublikanischen Geschichte zu Stellungnahmen zu diesem Jubiläum zu bitten. Zum einen wurde die Möglichkeit zur pointierten Einordnung des Geschichte der Bundesrepublik in den Gesamtverlauf der neueren deutschen Geschichte angeboten, zum anderen aber auch der reflektierende Rückblick auf die Genese und Wirkung des eigenen Buches. So sollte ein möglichst differenziertes Bild auf dieses Jubiläum entstehen, das zugleich etwas aussagen soll über den für Historiker unvermeidlichen Wandel der Perspektiven im Ablauf der Zeit.
Unsere Autoren haben diese Angebote ganz unterschiedlich genutzt. Hans Ulrich Wehler hat seinen Beitrag in die Perspektive einer der Leitfragen seiner großen deutschen Gesellschaftsgeschichte eingeordnet, wenn er dem ohne Zweifel gelingenden „Wirtschaftswunder“ und der „Wohlstandsgesellschaft“ das drängende Problem sozialer Ungleichheit gegenüberstellt, ein Thema, von dem man nicht gerade behaupten kann, dass es im Mittelpunkt der üblichen Diskussionen über die Geschichte der Bundesrepublik stünde oder dass sich im Augenblick gar Lösungswege für die immer größer werdende soziale Ungleichheit erkennen ließen.
Demgegenüber sieht Heinrich August Winkler die deutsche Frage ganz im Sinne des gelungenen „langen Wegs nach Westen“ als gelöst an, während als große Aufgabe die Lösung der europäischen Frage noch bevorstehe. Edgar Wolfrums Ansatzpunkt ist die erstaunliche Differenz zwischen der deutschen, dem Jammerton zuneigenden Selbstsicht und der erstaunlich positiven Wahrnehmung unseres Landes im Ausland, wahrlich erstaunlich angesichts der Erfahrungen, die die europäischen Nachbarn und die Welt im Zweiten Weltkrieg gemacht haben. Er betont zudem die Lern- und Veränderungsfähigkeit der bundesrepublikanischen Ordnung. Christoph Kleßmann hat das Angebot wahrgenommen, die Genese seines Buchs über die „doppelte Staatsgründung“ nachzuzeichnen und dabei jene Impulse zu benennen, die in einer bestimmten historiographischen Situation die Konzipierung eines solchen bahnbrechenden Buchs nahelegten. Dabei werden auch die Schwierigkeit hinreichend deutlich, denen sich der Verfasser einer solchen Arbeit ausgesetzt sehen musste, wenn er neben den systematisch vergleichenden Fragestellungen die immer noch offene „nationale Frage“ ansprach. Auch die damals sehr viel schlechter dokumentierte Unrechtsqualität der DDR gehört zu den Fragen, die der Verfasser heute anders sehen würde. So entsteht im durchaus selbstkritischen Blick auf das eigene Werk ein gelungener Einblick in die Überholbarkeit historischen Arbeitens.
Dieses Heft wird ergänzt durch zwei Quelleninterpretationen, in denen Joachim Rohlfes die Verfassungskonzeptionen Heinrich von Brentanos und Carlo Schmids gegenüberstellt und so einen unmittelbaren Eindruck in die Gedankenwelt der Verfassungsväter ermöglicht. Dass dieses Heft mit einem Literaturbericht zur Europäischen Geschichte abgeschlossen wird, ist sicher ein planerischer Zufall, aber er stellt die deutsche Frage in den großen Zusammenhang, in den sie ohne Zweifel hineingehört.
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Inhalt der Ausgabe 9/09
ABSTRACTS (S. 466)
EDITORIAL (S. 467)
BEITRÄGE
Edgar Wolfrum Die Bundesrepublik Deutschland – trotz allem geglückt? (S. 468)
Hans-Ulrich Wehler Die Last des Erfolgs Die Vorteile des „Wirtschaftswunders“ und die Bürde der Sozialen Ungleichheit – eine historische Kosten-Nutzen-Analyse nach 60 Jahren Bundesrepublik (S. 478)
Heinrich August Winkler Die deutsche Frage ist gelöst, die europäische Frage ist offen 60 Jahre Bundesrepublik: Rückblick und Ausblick (S. 490)
Christoph Kleßmann Wiedergelesen: Die doppelte Staatsgründung (S. 495)
BAUSTEINE FÜR DIE UNTERRICHTSPRAXISJoachim Rohlfes Zwei Insider-Stimmen zur Arbeit des Parlamentarischen Rates (1949) (S. 501)
INFORMATIONEN NEUE MEDIENGregor Horstkemper/Alessandra Sorbello Staub Eine Republik in statu nascendi Online-Materialien zur Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland (S. 515)
LITERATURBERICHTWolfgang Schmale Europäische Geschichte (S. 517)
NACHRICHTEN (S. 531)
--------------- Abstracts der Ausgabe 9/09
Edgar WolfrumDie Bundesrepublik Deutschland – trotz allem geglückt? GWU 60, 2009, H. 9, S. 468-477 Die Bundesrepublik hat sich zu einer reformfähigen Wohlstandsgesellschaft wie nur wenige in der Welt entwickelt. Kaum jemand hat dies den Deutschen 1949 zugetraut; die Wandlungsprozesse bis heute waren enorm. Kalter Krieg, Wirtschaftsboom, Sozialpolitik, Wahlsystem, Grundgesetz, Reformdruck und nicht zuletzt eine anfangs skandalöse Politik gegenüber den NS-Funktionseliten stabilisierten den jungen Staat. Seit den 1960er Jahren kam als weltweiter Trend der Industriegesellschaften eine neue Dynamik hinzu. Auch aktuelle Problemlagen nach der Wiedervereinigung revidieren den Befund einer – im internationalen Vergleich – „trotz allem“ geglückten Demokratie nicht wesentlich.
Hans-Ulrich WehlerDie Last des Erfolgs Die Vorteile des „Wirtschaftswunders“ und die Bürde der Sozialen Ungleichheit – eine historische Kosten-Nutzen-Analyse nach 60 Jahren Bundesrepublik GWU 60, 2009, H. 9, S. 478-489 Zur Zeit überwiegt der Lobgesang zu den 60-Jahr-Feiern der Bundesrepublik, eines erfolgreichen stabilisierten Neustaates. Anstatt diesem Chor einen weiteren Beitrag hinzuzufügen, betont der folgende Essy zwei dieser zahlreichen positiven Wirkungen des wirtschaftlichen Aufschwungs in Gestalt des „Wirtschaftswunders“, erinnert aber dann an die Belastungen, die dieser Erfolg im Bereich der „Sozialen Ungleichheit“ hervorgerufen hat. Deren Problematik wird, so die These, als Folge der derzeitigen Krise die künftige innenpolitische Diskussion maßgeblich mitbestimmen.
Heinrich August WinklerDie deutsche Frage ist gelöst, die europäische Frage ist offen 60 Jahre Bundesrepublik: Rückblick und Ausblick GWU 60, 2009, H. 9, S. 490-424 Erst seit 1990 gehört ganz Deutschland zum Kreis der westlichen Demokratie. Die Wiedervereinigung bedeutet die Lösung der deutschen Frage als Problem des Verhältnisses von Einheit und Freiheit, als Problem des Territoriums und der Grenzen sowie als Problem der europäischen Sicherheit. Offen ist hingegen weiterhin die europäische Frage. Die Vertiefung des Einigungsprozesses erfordert die Stärkung der repräsentativen Demokratie auf nationaler wie auf europäischer Ebene.
Christoph KleßmannWiedergelesen: Die doppelte Staatsgründung GWU 60, 2009, H. 9, S. 495-500 Die bewusst locker gehaltene Miszelle skizziert die Entstehungsbedingungen der Darstellung der „doppelten Staatsgründung“ und des Folgebandes. Im Gefolge der Spaltung Deutschlands wurde in den 80er Jahren auch die Teilung der bundesrepublikanischen Historiografie unübersehbar. Das Konzept der parallelen Darstellung beider deutscher Staaten und Gesellschaften ging primär von der Frage nach wechselseitigen Einflüssen aus, nach Abgrenzungen und Verflechtungen. Dieser damals eher ungewöhnliche Ansatz hat sich auch nach dem Ende der DDR als tragfähig erwiesen.