Editorial von Christoph Cornelißen
Seit den Jugoslawienkriegen des ausgehenden 20. Jahrhunderts hat der Begriff „ethnische Säuberungen“ Eingang in die historisch-politische Sprache gefunden. Die Vorstellung, wonach die gewaltsame oder auch geordnete Umsiedlung von Minderheiten einen entscheidenden Beitrag zur Lösung ethnischer und territorialer Konflikte abgeben könne, wurde erstmals von dem Schweizer Anthropologen und Völkerkundler Georges Montandon in einer Programmschrift aus dem Jahr 1915 ausformuliert. Um in der Zukunft eine Wiederholung von Kriegen zu verhindern, forderte er die Festlegung „natürlicher Grenzen“ sowie „die massive Verpflanzung von Nichtangehörigen der Nation oder von solchen, die dafür erklärt werden, in Gebiete jenseits der Grenze“.
Die Praxis ging jedoch dieser Forderung voran, denn bereits in den Balkankriegen 1912/13 war erstmals ein Vertrag zur „ethnischen Ausmischung“ von Bevölkerungsgruppen an der türkisch-bulgarischen Grenze geschlossen worden. Erst aber die ethnische Umsiedlungs- und Vertreibungspolitik der Nationalsozialisten setzte sodann in ganz Europa eine Serie massiver Bevölkerungstransfers in Gang, der Millionen Menschen zum Opfer fielen. Die Vorgänge reichen von der „Heimholung“ deutscher Minderheiten aus dem östlichen Europa sowie der Vertreibung von Polen und Juden aus den „eingegliederten Ostgebieten“ und ihrer physischen Liquidation bis hin zur Vertreibung und Zwangsaussiedlung vor allem der deutschen Bevölkerung aus Polen, Ungarn, Jugoslawien und der Tschechoslowakei sowie aus den deutschen Ostprovinzen. Ingesamt handelte es sich um die größte Bevölkerungsumschichtung in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, der jedoch in und nach dem Zweiten Weltkrieg weitere Zwangsumsiedlungen an die Seite zu stellen sind: in der Sowjetunion sowie im polnisch-russischen, jugoslawisch-italienischen und türkisch-bulgarischen Grenzraum.
Angesichts der komplexen Ursachen und Folgen „ethnischer Säuberungen“ hat die historische Forschung sich mit der Ergründung der Vorgänge lange schwer getan hat. In seinem Einführungsbeitrag skizziert Michael G. Esch zunächst ältere Erklärungsmodelle, welche das Aufkommen totalitärer politischer Systeme für die Umsetzung „ethnischer Säuberungen“ verantwortlich machten. Tatsächlich aber – so Esch – ermögliche nur die sozialwissenschaftlich begründete Reflexion über die Moderne eine Einsicht in die tiefer liegenden Motive und treibenden Kräfte. Mathias Beer und Rolf Wörsdörfer lenken sodann die Aufmerksamkeit auf zwei Regionen im Südosten Europas, die in den deutschen Debatten bislang kaum wahrgenommen worden sind. Während Beer einen präzisen Überblick über den Verlauf und die Folgen der Zwangsmigrationen deutscher Minderheiten aus Südosteuropa zwischen 1939 und 1950 bietet, leuchtet Wörsdörfer die komplexe ethnische und politische Gemengelage im italienisch-slowenisch-kroatischen Grenzraum aus. Hier sorgte seit 1915 der Kampf um die Hegemonie für eine fortlaufende „Manipulation der ethnischen Kräfteverhältnisse“.
Die beiden abschließenden Beiträge des Themenheftes widmen sich „Opferdiskursen“ über Flucht und Vertreibung in der historischen Forschung (Peter Haslinger) und im schulischen Unterricht (Meike Paprotta). Aus der Sicht Haslingers besteht eine tief reichende Unvereinbarkeit zwischen dem primär Identität stiftenden Opferdiskurs, wie er in den Reihen des bundesdeutschen Vertriebenverbandes gepflegt werde, und einer forschungsbasierten Kontextanalyse von Flucht und Vertreibung. Eine Synthese beider Stränge sei letztlich auszuschließen. Paprotta hingegen zeigt Wege zu einer wechselseitigen Dekonstruktion polnischer und deutscher Geschichtsbilder über den gleichen Themenkomplex auf, die auf der Basis eines „interkulturellen Geschichtslernens“ deutscher und polnischer Schülerinnen und Schüler gesucht wurden. Vielleicht, so scheint es, bräuchten auch die Experten gelegentlich einen „virtuellen Klassenraum“, um den wechselseitig verhärteten Diskursen zunächst einmal die Spitzen zu nehmen.
INHALT DER GWU 3/4/11
ABSTRACTS (S. 130)
EDITORIAL (S. 132)
BEITRÄGE
Michael G. Esch Der historische Ort von "ethnischer Säuberung" und Völkermord (S. 133)
Mathias Beer Zwangsmigrationen in Südosteuropa während des Zweiten Weltkriegs und danach (1939 –1950) (S. 144)
Rolf Wörsdörfer Das adriatische Exempel. Zur ethnisch-politischen "Bereinigung" einer europäischen Grenzregion (1915 –1955) (S. 159)
Peter Haslinger Opferkonkurrenzen und Opferkonjunkturen. Das Beispiel von "Flucht und Vertreibung" in Deutschland seit 1990 (S. 176)
Meike Paprotta Vertreibung oder Umsiedlung? Interkulturelles Geschichtslernen im virtuellen Klassenraum (S. 191)
Thomas M. Bohn 1968 in Ost und West. Ein zeitgeschichtliches Panorama (S. 211)
STICHWORTE ZUR GESCHICHTSDIDAKTIK
Berit Pleitner Living History (S. 220)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Gregor Horstkemper/Alessandra Sorbello Staub Rote Spuren im Web: Verschleppung. Vertreibung und Völkermord (S. 234)
LITERATURBERICHT
Magnus Brechtken Geschichte der nationalsozialistischen Herrschaft, Teil 1 (S. 237)
NACHRICHTEN (S. 252)
AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 256)
ABSTRACTS DER GWU 3/4/11
Michael G. Esch Der historische Ort von „ethnischer Säuberung“ und Völkermord GWU 62, 2011, H. 3/4, S. 133-143
Geschichtsschreibung und öffentliches Gedenken an ethnische Säuberungen gehören zu den publikumswirksamsten und am stärksten politisierten historischen Praktiken der letzen Jahrzehnte: In öffentlichen vergangenheitspolitischen Akten wird eine Abgrenzung insbesondere von NS- und anderen „totalitären“ Verbrechen vollzogen, Pädagogik, Medien und Ausbildungsstätten erheben den Anspruch, dazu beizutragen, Gesellschaft und politische Institutionen in einer Weise zu organisieren, dass sich ethnische Säuberungen und Völkermord nicht wiederholen können. Der Beitrag untersucht die Konjunkturen der Beschäftigung mit „ethnischen Säuberungen“ und fragt, ob ihre Einhegung auf den Bereich „Totalitarismus“ in der Lage ist, Verbrechen dieser Art hinreichend zu erklären, oder ob nicht vielmehr die Kritik der „totalitären“ Gesellschaftsformationen überführt werden muss in eine umfassendere Reflexion über die Moderne. Es wird außerdem die Frage gestellt, ob eindeutige Opfer-Täter-Dichotomien, insbesondere die Reinheitsvermutung gegenüber den Opfern, in der Lage sind, Erleben und Handlungen der Subjekte hinreichend zu erfassen und zu erklären.
Mathias Beer Zwangsmigrationen in Südosteuropa während des Zweiten Weltkriegs und danach (1939–1950) GWU 62, 2011, H. 3/4, S. 133-143
Die Voraussetzungen, der Verlauf und das Ergebnis der Zwangsmigration der deutschen Minderheiten aus Südosteuropa am Ende des Zweiten Weltkriegs unterscheiden sich von jenen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches, aus Polen, der Tschechoslowakei und aus der Sowjetunion. Dabei kommt den Entwicklungen in der Zwischenkriegszeit und der spezifischen NS-Politik Deutschlands in dieser Region während des Kriegs ein besonderer Stellenwert zu. Zudem weisen die Zwangsmigrationen in jedem einzelnen der hier näher betrachteten Länder – Rumänien, Jugoslawien, Ungarn – Besonderheiten auf. Sie hatten unterschiedliche Folgen für die deutschen Minderheiten in den drei Staaten.
Rolf Wörsdörfer Das adriatische Exempel. Zur ethnisch-politischen „Bereinigung“ einer europäischen Grenzregion (1915–1955) GWU 62, 2011, H. 3/4, S. 159-175
Die Zwangsmigrationen im heutigen italienisch-slowenisch-kroatischen Grenzraum setzten ein, nachdem beide Weltkriege zu Grenzverschiebungen, Regime-und Systemwechseln geführt hatten. Die Evakuierungsmaßnahmen im Ersten Weltkrieg, das faschistische Programm einer „ethnischen Melioration“, die Besatzerpolitik Italiens und NS-Deutschlands seit 1941 und die jugoslawischen Annexionsdekrete 1943 zeigen, dass der Konflikt um die hegemoniale Position im Adriaraum auf dem Wege einer Manipulation der ethnischen Kräfteverhältnisse ausgetragen wurde.
Peter Haslinger Opferkonkurrenzen und Opferkonjunkture. Das Beispiel von „Flucht und Vertreibung“ in Deutschland seit 1990 GWU 62, 2011, H. 3/4, S. 176-190
Der Beitrag unterscheidet zwischen zwei Opfererzählungen im Umfeld der Verbandsstrukturen der politisch organisierten Erlebnisgeneration und der kritischen Publizistik und Wissenschaft. Als gemeinsamer Fluchtpunkt beider Lager dient die moralische Verpflichtung des Bewusstmachens und Wachhaltens von Opfererfahrungen, umstritten sind jedoch die Frage nach der Repräsentativität existenzieller Gewalterfahrungen im Laufe der Vertreibungen, nach dem Täter-Opfer-Verhältnis, nach der Zuordnung von Ursache und Wirkung und nach dem Zeitraum, in dem die Vertreibungen korrekterweise zu kontextualisieren sind. Ziel ist es zum einen, vor dem endgültigen Verschwinden der Erlebnisgeneration den Kern des eigenen Opfernarrativs als Vertriebene möglichst bruchlos in einen nationalen Kontext zu überführen. Leitend für das zweite Lager ist eine forschungsbasierte Kontextanalyse, die eine transnationale und auf verschiedene Ebenen differenzierte Sicht einfordert und sich nicht in einer phänomenologischen Parallelisierung kollektiver Opfererfahrungen erschöpfen kann.
Meike Paprotta Vertreibung oder Umsiedlung? Interkulturelles Geschichtslernen im virtuellen Klassenraum GWU 62, 2011, H. 3/4, S. 191-210
Die Differenzen zwischen den deutschen und den polnischen Erinnerungskulturen verhindern einen gemeinsamen Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftsgestaltung. Dies trifft im besonderen Maße auf den Themenkomplex Flucht und Vertreibung zu. Der vorliegende Artikel beschreibt eine Annäherung an diesen Problemkomplex, indem ein Unterrichtskonzept für die Jahrgangsstufe 9, welches die gemeinsame Erarbeitung und Dekonstruktion der polnischen und deutschen Geschichtsbilder in einer interkulturellen Lerngruppe anregt – vermittelt durch die Zusammenarbeit in einem virtuellen Klassenraum – vorgestellt wird.
Thomas M. Bohn 1968 in Ost und West Ein zeitgeschichtliches Panorama GWU 62, 2011, H. 3/4, S. 212-219
Anlässlich des 40. Jubiläums wurde ,,1968“ als globales Ereignis betrachtet und als transnationale Angelegenheit gedeutet. Dabei rückten u.a. die emanzipatorischen Bestrebungen in Warschau, Belgrad und Prag in die Perspektive. Während ideologische Missverständnisse zwischen Ost und West aufgrund unterschiedlicher Freiheitsvorstellungen und Feindbilder unvermeidlich blieben, vermochte die Populärkultur dennoch das Lebensgefühl blockübergreifend zu bestimmen. Werden die Zäsuren von 1968 und 1989 aufeinander bezogen, so zeichnete sich neben der vorübergehenden Festigung des Eisernen Vorhangs durch die Breschnew-Doktrin mit der Herausbildung der Menschenrechtsbewegung in der sowjetischen Hemisphäre auch eine Renaissance der Zivilgesellschaft ab.
Berit Pleitner Living History GWU 62, 2011, H. 3/4, S. 220-233
Living History ist eine populäre Form der Geschichtsdarstellung, die sich mittlerweile auch in Deutschland als festes Element der Geschichtskultur etabliert hat. Das Erlebnispotential ist unbestritten hoch, doch herrschen disparate, zum Teil von wissenschaftlichen Kriterien stark abweichende Vorstellungen darüber vor, welchen historischen Erkenntnisgewinn die Living History bieten kann. Living History zielt häufig auf eine bestimmte Art der Narrativierung, bei der entweder Wissenslücken nicht als solche kenntlich gemacht oder gar keine geschlossene Erzählung, sondern nur Versatzstücke angeboten werden.