Editorial
von Michael Sauer
Geschichtsmuseen werden aus der Sicht von Schule und Geschichtsdidaktik zumeist als "außerschulische Lernorte" tituliert. Damit ist einerseits die positive Zuschreibung verbunden, hier gebe es besondere Potentiale, die man für das historische Lernen von Schülerinnen und Schüler fruchtbar machen könne. Diese könnten dort, darin stimmen Lehrkräfte und Museumsvertreter überein, originalen Objekten begegnen, in denen Geschichte gleichsam in die Gegenwart hineinragt, in denen sie fassbar und vorstellbar, zugleich aber auch als fremd und andersartig wahrnehmbar wird. Museumsexponate lassen eine historische "Aura" spürbar werden, bieten eine hohe "Anmutungsqualität" und ermöglichen zugleich "Alteritätserfahrung". Neben solchen Hoffnungen und Erwartungen ist mit dem Begriff des "außerschulischen Lernorts" andererseits aber auch eine perspektivenbedingte Funktionalisierung verbunden, die Museen gewissermaßen für das schulische Lernen dienstbar machen will: Man erhofft sich einen zeitlich und inhaltlich passenden, am besten curriculumkompatiblen Input, der zu einer Anreicherung, Vertiefung und Konkretisierung des Unterrichts führen soll. Das ist einerseits gewiss legitim; andererseits freilich droht dabei aus dem Blick zu geraten, dass Prozesse historischer Erfahrung und Begegnung im Museum grundsätzlich anderen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen als schulisches Lernen unterliegen und gerade darin ihre eigene Dignität besteht.
Um eben diese Dignität und Spezifik musealer Erfahrungs- und Vermittlungsprozesse geht es in den Beiträgen des vorliegenden Heftes. In seinem einführenden Aufsatz beschreibt Thorsten Heese zunächst die vielfältigen Konzepte und Akteure, die für eine Museumsagenda Berücksichtigung finden müssen. Zum einen, so konstatiert er, sei die Arbeit mit Objekten, also mit den "materiellen kulturellen Hinterlassenschaften von Gesellschaften", nach wie vor das Kerngeschäft des Museums, von dem das Bemühen um moderne, insbesondere digitale Präsentation nicht ablenken dürfe; zum anderen könne das Museum in seinem regionalen Umfeld verstärkt als Ort allgemeiner historischer Bildungsarbeit wirken, was er u.a. am eigenen Haus, dem Felix-Nussbaum Haus/Kulturgeschichtlichen Museum Osnabrück, verdeutlicht. Sodann lotet Christian Goße Höötmann die Berührungspunkte und die Differenzen zwischen historischem Lernen in der Schule und im Museum aus; er warnt dabei ausdrücklich vor einer "Verschulung" des Museums im oben skizzierten Sinne. Wie das Museum auf die aktuellen Herausforderungen der Inklusion reagieren kann, diskutiert Brigitte Vogel – ihr geht es längst nicht nur um barrierefreie Zugänge, sondern um sehr viel weitergehende, konzeptionelle Fragen.
Gedenkstätten haben in jüngerer Zeit verstärkt auch Museumsaufgaben übernommen; Patrick Ostermann erörtert grundlegende konzeptionelle Orientierungen der Gedenkstättenarbeit und geht insbesondere der Frage nach, was für sie das "Aussterben der Zeitzeugen" bedeutet, die ein zentrales Element ihrer Vermittlungsarbeit darstellen. Dass Schülerinnen und Schüler Führungen für andere durchführen, findet als innovatives museumspädagogisches Konzept zunehmend Verbreitung, wie abermals Thorsten Heese und Christel Schulte in ihrem Beitrag ausführen. Die Schüler-Guides, so das Konzept, werden zu Experten für die Sache und eignen sich Vermittlungskompetenzen an – wie weit freilich dieser Professionalisierungsprozess reichen kann und wie die organisatorischen Bedingungen dafür geschaffen werden können, sollte realistisch eingeschätzt werden. Alfred Czech schließlich resümiert prägnant die Möglichkeiten, die unterschiedliche methodische Ansätze aus der Kunstgeschichte, der Kunstpädagogik oder der Museumspädagogik für die Annäherungen an Bilder im Rahmen von Museumsbesuchen bieten.
INHALT DER GWU 11–12/2016
BEITRÄGE
Thorsten HeeseAgenda "Museum 2020". Brauchen Museen künftig noch Objekte? Ja, unbedingt! (S. 5)
Christian Große HöötmannSchule und Museum. Perspektiven einer Kooperation im Spannungsfeld zwischen Abgrenzung und Vereinnahmung (S. 26)
Brigitte VogelInklusion - Integration - Migration. Das Museum als Raum für gesellschaftspolitische Herausforderungen? (S. 39)
Patrick OstermannHolocaust-Education im Museum nach dem Ende der Zeitzeugenschaft. Historisches Lernen aus den Berichten der Überlebenden (S. 52)
Thorsten Heese/Christel SchulteSchüler führen Schüler. Zur aktiven Beteiligung Lernender an Geschichtsvermittlung im Museum (S. 66)
Alfred CzechGeschichte in Kunst dechiffrieren. Bilder der Wirklichkeit - Wirklichkeit der Bilder (S. 75)
BERICHTE UND KOMMENTARE
Heinz DuchhardtVerdikt, Ideologie, Forschung. Der Wiener Kongress in der deutschen Geschichtsschreibung (S. 88)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Gregor HorstkemperObjektorientierte Geschichtsvermittlung (S. 98)
LITERATURBERICHT
Ulrich Lappenküper/Joachim ScholtyseckDeutsches Kaiserreich 1871-1918, Teil I (S. 100)
NACHRICHTEN(S. 118)
AUTORINNEN UND AUTOREN(S. 120)
ABSTRACTS DER GWU 1–2/2017
Thorsten HeeseAgenda "Museum 2020". Brauchen Museen künftig noch Objekte? Ja, unbedingt! GWU 68, 2017, H. 1/2 S. 5 – 25
Wie sieht die Zukunft der Museen aus? Werden wir künftig nur noch virtuell animierte Ausstellungswelten vorfinden? Der einführende Beitrag fragt nach der Rolle und Bedeutung der materiellen Kultur – bis dato der Kern des Sammelns und Vermittelns im Museum – in der künftig zu erwartenden Museumsarbeit. Darüber hinaus formuliert er Grundlagen für Vermittlung historischen Wissens im Museum.
Christian Große HöötmannSchule und Museum. Perspektiven einer Kooperation im Spannungsfeld zwischen Abgrenzung und Vereinnahmung GWU 68, 2017, H. 1/2 S. 26 – 38
Die enge Zusammenarbeit zwischen Schulen und Museen bei der Vermittlung geschichtlichen Wissens und der Anbahnung Historischen Lernens sollte auf der Hand liegen. Dennoch bestehen weitaus mehr Diskrepanzen zwischen den beiden öffentlichen Einrichtungen Schule und Museum, als eigentlich zu erwarten wäre. Der Artikel liefert eine aktuelle Bestandsaufnahme zum Verhältnis zwischen den beiden Lernorten und zeigt Potenziale für eine verbesserte Kooperation auf.
Brigitte VogelInklusion – Integration – Migration. Das Museum als Raum für gesellschaftspolitische Herausforderungen? GWU 68, 2017, H. 1/2 S. 39 – 51
Die gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte wirken sich auch auf die Arbeit in den Museen als öffentlichen Begegnungs- und Kommunikationsorten aus. Wie gehen die Museen und insbesondere die Museumspädagogik mit aktuellen Anforderungsprofilen der bundesdeutschen Gesellschaft um und welche Auswirkungen hat dies auf Historisches Lernen im Museum?
Patrick OstermannHolocaust-Education im Museum nach dem Ende der Zeitzeugenschaft. Historisches Lernen aus den Berichten der Überlebenden GWU 68, 2017, H. 1/2 S. 52 – 65
Mit dem Tod des letzten Überlebenden des Holocaust geht den Museen wie den Gedenkstätten ihre wohl derzeit wichtigste Vermittlungsinstanz verloren. Gleichwohl bleibt das Thema für das gesellschaftliche Narrativ der Bundesrepublik Deutschland unverzichtbar. Wie reagieren die Geschichtsdidaktik sowie die Museums- und Gedenkstättenpädagogik auf diese Situation?
Thorsten Heese/Christel SchulteSchüler führen Schüler. Zur aktiven Beteiligung Lernender an Geschichtsvermittlung im Museum GWU 68, 2017, H. 1/2 S. 66 – 74
In den letzten Jahren haben sich Führungen, die Schülerinnen und Schüler für ihresgleichen durchführen, in der Museumspädagogik als interessantes methodisches Konzept zur unmittelbaren Einbeziehung von Lernenden in die Museumssphäre erwiesen. Gleichwohl bleiben Fragen nach den Grenzen und Möglichkeiten des Konzeptes.
Alfred CzechGeschichte in Kunst dechiffrieren. Bilder der Wirklichkeit – Wirklichkeit der Bilder GWU 68, 2017, H. 1/2 S. 75 – 87
Kunstgeschichte bleibt als klassische Museumswissenschaft prägend für die Arbeit der Museumspädagogik. Welche Perspektiven sieht sie für die künftige Vermittlung von Geschichte anhand von Kunstwerken in Museen?
Heinz DuchhardtVerdikt, Ideologie, Forschung. Der Wiener Kongress in der deutschen Geschichtsschreibung GWU 68, 2017, H. 1/2 S. 88 – 97
Der Beitrag geht an ausgewählten Beispielen dem sich wandelnden – und meist recht dunkel getönten – Bild des Wiener Kongresses in der deutschen Geschichtswissenschaft seit dem Vormärz nach: von Rotteck über Treitschke und seine "Jünger" bis hin zu Griewank (1942). Die weitere Aufarbeitung des epochalen Ereignisses in den beiden deutschen Staaten blieb bescheiden und lässt sich mit der Fülle amerikanischer Gesamtwürdigungen aus dieser Zeit nicht vergleichen. Die Quellenaufbereitung ist im Wesentlichen auf dem Stand der zeitgenössischen und höchst fragmentarischen Edition stehen geblieben, zu einem Gedächtnisort der Deutschen ist der Wiener Kongress nie geworden.