Editorial von Christoph Cornelißen
Kollektive soziale Proteste haben seit den späten 1960er Jahren wiederholt die Aufmerksamkeit der historischen Forschung auf sich gezogen. Eingebettet in den Aufstieg der Sozialgeschichte zu einer neuen Leitdisziplin richtete sich das Interesse vor allem auf die Revolten der sozialen Unterschichten. Unter dem Einfluss der Modernisierungstheorie brach sich dabei die Anschauung Bahn, soziale Proteste seien im Kern als Krisensymptome der Transformationsprozesse in eine industriewirtschaftlich bestimmte Moderne einzustufen. Kaum zufällig engte sich daher der Untersuchungszeitraum auf das „rebellische Jahrhundert“ ein – also auf die Zeit vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre.
Nachdem im Gefolge der breiten Wende zur Kulturgeschichte das Interesse an den einschlägigen Fragestellungen ersichtlich zurückgegangen war, ist das Thema inzwischen mit Macht auf in die Agenda zurückgekehrt. Wo auch immer sich der Blick hinwendet, zu den Bürgerprotesten in den westlichen Industrienationen, den politischen und gesellschaftlichen Aufständen im arabischen Raum oder auch zu den kapitalismus- und globalisierungskritischen Protestbewegungen unserer Tage, überall zeigt sich seine Aktualität. Zivilgesellschaftliche Bewegungen beanspruchen heute ein Mitspracherecht bei den großen politischen Fragen, woraus einige Beobachter geschlossen haben, dass sich hierin die Ausformung neuen, „partizipatorischen“ Formen der Demokratie im postrepräsentativen Zeitalter andeute.
Angesichts dieses Wandels verspricht der erneuerte Blick auf den sozialen Protest in einer historischen Langzeitperspektive fruchtbare Ergebnisse. So betont Sabine Mecking zum einen das Desiderat einer kritischen Beschäftigung mit dem bürgerschaftlichen Engagement breiter sozialer Schichten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zum anderen zeigt sie auf, dass seit dem 18. Jahrhundert der kollektive Protest immer wieder spezifische rituelle Formen zum Zweck seiner sittlich-moralischen „Veredelung“ entwickelte. Andreas Fahrmeier wiederum widmet sich in einem historischen Längsschnitt gewaltsamen Bürgerprotesten in London vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Hierüber wird deutlich, dass Proteste mit ähnlichen Formen auch deswegen verschieden endeten, weil der Rechtsstaat mit unterschiedlicher Härte reagierte. Nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Frankreich bildeten sich länderspezifische Varianten heraus. So zeigt Daniel Schmidt in seinem deutsch-französischen Vergleich einerseits, dass im Laufe des langen 19. Jahrhunderts öffentliche Plätze und Straßen zu mythisch umrankten Orten des sozialen Prozess umfunktioniert wurden, andererseits aber auch, dass diese Straßenpolitik grenzübergreifend aufeinander bezogen war.
Zwei weitere Beiträge widmen sich Protestkulturen in West- und Ostdeutschland. Holger Nehring befasst sich mit der Protestkultur der bundesdeutschen Bewegungen gegen Atomwaffen, in deren Begehren nach einer politischen Staatsbürgerschaft Traditionen einer politischen Moral aufschienen, die nicht als eine Liberalisierung der politischen Kultur missverstanden werden dürfe. Vielmehr sei die programmatische Entideologisierung des Protests in eine Veralltäglichung gemündet. Thomas Großbölting wiederum macht am Beispiel der Proteste in der DDR deutlich, wie sehr sich hinter der „Konsensfassade“ tiefe Rissen aufgetan hatten, was in den Wochen vor dem „Mauerfall“ 1989 rund eine Million DDR-Bürger gegen das SED-Regime auf die Straße brachte und damit seinen Sturz beschleunigte. Paul Noltes abschließender Grundlagenbeitrag verknüpft die neueren Protestformen mit historischen Vorläufern seit der Frühen Neuzeit. Im Kern verficht er die These, dass die Proteste der Gegenwart mit ihrer Spontaneität, Obrigkeitskritik und ebenso in ihrer Ritualen stark an frühmoderne Protestformen erinnern. Seine Ausführungen vermitteln zahlreiche Anregungen für eine weiterführende Beschäftigung mit dem Thema „Bürgerproteste“.
INHALT DER GWU 9–10/2013
ABSTRACTS (S. 514)
EDITORIAL (S. 516)
BEITRÄGE
Sabine Mecking Vom Protest zur Protestkultur? Träger, Formen und Ziele gesellschaftlichen Aufbegehrens (S. 517)
Andreas Fahrmeir Unruhige Bürger und unkontrollierter Mob. Londoner Protestkulturen 1750–2012 (S. 530)
Daniel Schmidt Straßenprotest und Straßengewalt. Auseinandersetzungen um den öffentlichen Raum in Deutschland und Frankreich 1789–1939 (S. 539)
Holger Nehring Protestkultur und Bürgerlichkeit. Anti-Atomwaffenproteste und Nachkrieg in der frühen Bundesrepublik (S. 555)
Thomas Großbölting Bürgerprotest und Protestkultur am Ende der DDR. Zur inneren Dynamik der friedlichen Revolution (S. 571)
Paul Nolte Formen des Protests, Muster der Moderne. Vom 18. zum 21. Jahrhundert (S. 584)
Christof Dipper Die historische Schwelle um 1800. Eine Skizze (S. 600)
BERICHTE UND KOMMENTAR
Sebastian Scharte Arbeiterbewegung goes online – das Projekt HOPE bringt Sozialgeschichte ins Internet (S. 612)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Alessandra Sorbello Staub Protestbewegungen im Netz: vom globalen Protest zur Globalisierung (S. 615)
LITERATURBERICHT
Raimund Schulz/Uwe Walter Altertum, Teil IV (S. 618)
NACHRICHTEN (S. 636)
AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 640)
ABSTRACTS DER GWU 9–10/2013
Sabine MeckingVom Protest zur Protestkultur? Träger, Formen und Ziele gesellschaftlichen Aufbegehrens GWU 64, 2013, H. 9/10, S. 517–529
Protest und politische Unruhe im öffentlichen Raum kennzeichnen die Moderne. Die schlaglichtartige Nennung markanter Jahreszahlen wie 1789, 1848/49, 1918/19, 1933, 1968 oder 1989/90 unterstreicht dies und verweist darauf, wie unterschiedlich die politische Verortung und gesellschaftliche Trägerschaft von Protest sein kann. Zurzeit hat der Begriff „Protestkultur“ Konjunktur. Doch was damit genau gemeint ist, bleibt vage. Suggeriert der Begriff Protest im allgemeinen Sprachgebrauch neben Kritik und Unruhen nicht selten auch Aggressivität oder gar Gewalt, so steht der Begriff Kultur für die über eine reine Funktionalisierung hinausgehende „Veredelung“ von Verfahrens- und Handlungsweisen. Mit der Standardisierung von Verhaltensweisen definiert sich Kultur über sittlich-moralische Ansprüche, Rituale und Gebräuche. Wie in diesem Kontext das Protestgeschehen vom 18. bis 21. Jahrhundert, die verschiedenen Akteursgruppen, Anlässe und Aktionen hinsichtlich der Herausbildung einer „Kultur des Protests“ zu verorten sind, wird exemplarisch beleuchtet. Dabei ist von Interesse, inwiefern sich Protest überhaupt kultivieren und in diesem Sinne ästhetisieren lässt.
Andreas FahrmeirUnruhige Bürger und unkontrollierter Mob. Londoner Protestkulturen 1750–2012 GWU 64, 2013, H. 9/10, S. 530–538
London gilt als Stadt, die selten revolutionäre Proteste erlebt hat. Sie war aber immer wieder Ort kreativer oder gewaltsamer Bürgerproteste, die ganz unterschiedliche Reaktionen hervorriefen – mal Reformen, mal Repressionen. Ausgehend von den Ausschreitungen des Sommers 2011 und der Störung des Oxford-Cambridge Bootsrennens im Frühjahr 2012 diskutiert der Artikel erfolgreiche und erfolglose Proteste zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert, um zu klären, warum relativ ähnliche Protestformen sehr unterschiedliche Folgen zeitigen konnten.
Daniel SchmidtStraßenprotest und Straßengewalt. Auseinandersetzungen um den öffentlichen Raum in Deutschland und Frankreich 1789–1939 GWU 64, 2013, H. 9/10, S. 539–554
Im Verlauf des langen 19. Jahrhunderts wandelten sich die traditionellen Funktionen der städtischen Straßen: Sie wurden zunehmend zu Orten politischer Artikulation. Ausgehend vom Konzept der „Straßenpolitik“ nimmt der Beitrag urbane Räume in Frankreich und Deutschland als Schauplätze politischen Protests in den Blick. Dort entwickelten sich zwischen 1789 und 1939 neue – friedliche ebenso wie gewalthafte – Protestpraktiken, die immer wieder revolutionäre Dynamiken entfalteten – nicht immer erfolgreich, jedoch stets folgenreich. Die Geschichte des französischen und des deutschen Straßenprotests erweist sich als in bemerkenswerter Weise miteinander verwoben und aufeinander bezogen.
Holger NehringProtestkultur und Bürgerlichkeit. Anti-Atomwaffenproteste und Nachkrieg in der frühen Bundesrepublik GWU 64, 2013, H. 9/10, S. 555–570
Gegenstand dieses Artikels ist die Protestkultur der bundesdeutschen Bewegungen gegen Atomwaffen Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre. Der Beitrag fragt nach dem historischen Ort eines Modells der politischen Staatsbürgerlichkeit jenseits von Parlament und politischen Parteien und der Art und Weise, wie dieses Modell sich mit einer historisch spezifischen politischen Moral verknüpfte. Besonders bedeutsam erscheinen in diesem Zusammenhang die Erfahrung von Gewalt und Nachkrieg. Auf diesem Wege möchte die Studie dazu beitragen, das Narrativ einer Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik im Sinne einer „Liberalisierung“ der politischen Kultur (Ulrich Herbert) zu differenzieren. Dabei betont er die Ambivalenz bundesdeutscher Protestkulturen jenseits der politischen Unterscheidungen von „links“ und „rechts“. Dadurch findet die Forschung zu Protestbewegungen Anschluss an die Geschichte von „Bürgersinn“ und „Bürgerlichkeit“ in der Bundesrepublik.
Thomas GroßböltingBürgerprotest und Protestkultur am Ende der DDR. Zur inneren Dynamik der friedlichen Revolution GWU 64, 2013, H. 9/10, S. 571–583
Welche Formen, Dynamiken und Wirkungen entfalteten Bürgerprotest und soziale Bewegungen nach den Neuen Sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre? Am Beispiel der Demonstrationsbewegung der DDR im Herbst 1989 geht der Artikel dieser Frage nach. Verschiedene Ent-Täuschungen lebensweltlicher Arrangements vieler DDR-Bürger gingen im Herbst 1989 mit einer inneren Protestdynamik in der friedlichen Revolution der DDR einher, so dass der erhebliche Druck des Bürgerprotests zum Sturz des SED-Regimes beitrug.
Paul NolteFormen des Protests, Muster der Moderne GWU 64, 2013, H. 9/10, S. 584–599
Sozialer Protest hat im frühen 21. Jahrhundert als globale politische Handlungsform Konjunktur. Die historische Protestforschung nahm dagegen oft an, spontaner Protest auf der Straße würde seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmend durch organisierte Konfliktlösungsverfahren ersetzt. Der Beitrag ordnet neuere Protestformen in längerfristige historische Kontinuität seit der ausgehenden Frühen Neuzeit ein. Der organisierte Protest der Hochmoderne weicht wieder einem spätmodernen Muster, das mit Elementen der Spontaneität, Obrigkeitskritik und Ritualisierung an frühmoderne Protestformen erinnert.
Christof DipperDie historische Schwelle um 1800. Eine Skizze GWU 64, 2013, H. 9/10, S. 600–611
Der Beitrag möchte nachweisen, dass die Schwelle um 1800 keine nachträgliche Konstruktion der Historiker ist, sondern von den Zeitgenossen selbst schon als solche empfunden wurde, weil die Ereignisse von solcher Wucht und Fülle waren, dass alle Orientierungsversuche an Erlebtem versagten und deshalb neue Ordnungsmuster gefunden werden mussten. Und dass es die erste Schwelle ist, die die Mitlebenden nicht nur bewusst empfunden, sondern gleich auch zu benennen versucht haben. Dadurch wird sie, nach Vorstufen in der späten Aufklärung, endgültig zum Beginn der bis heute reichenden modernen Zeit.