Editorial von Michael Sauer
Die historische Wissenschaft Archäologie wird, so scheint es, von der Geschichtswissenschaft erstaunlich wenig zur Kenntnis genommen. Dabei ist die strikte Abgrenzung zwischen den beiden Disziplinen, dass sich nämlich die erste mit der schriftlosen Vergangenheit, die zweite mit den Zeiten schriftlicher Überlieferung beschäftige, längst obsolet geworden. Zum einen gab es schon immer das breite Überschneidungsfeld von Frühgeschichte und Antike, in dem beide Disziplinen traditionell nebeneinander tätig waren. Zum anderen hat die Archäologie ihren Forschungsbereich in den letzten Jahrzehnten stark ausgeweitet und beschäftigt sich mit Themen und Fragestellungen, die bis in die Neuere und Neueste Geschichte hineinreichen; die Industriearchäologie ist dafür ein eindrückliches Beispiel. Und das Forschungsinstrumentarium der Disziplin hat sich in jüngerer Zeit insbesondere im Hinblick auf technisch-naturwissenschaftliche Verfahren immer mehr erweitert und differenziert.
Dass die Ausbildungswege der beiden Fächer gänzlich unverbunden nebeneinander stehen, mag aufgrund des unterschiedlichen Forschungsprofils verständlich sein. Ein spezielles Problem zeigt sich allerdings im Bereich des Lehramtsstudiums. Denn Geschichtslehrkräfte müssen zu Beginn des „chronologischen Durchgangs“ obligatorisch auch Themen aus der Ur- und Frühgeschichte unterrichten. In ihrem Studium haben sie davon nichts gehört und ihre inhaltlichen und methodischen Kenntnisse auf diesem Gebiet werden den sonst üblichen Ansprüchen bei weitem nicht gerecht. Es gibt also alles in allem Grund genug, von Seiten des Faches Geschichte einen genaueren Blick auf das Potenzial zu werfen, das die Archäologie in Forschung und Vermittlung bietet.
Der einführende Aufsatz von Ulrich Müller gibt einen weiten und außerordentlich differenzierten Überblick über die aktuellen Entwicklungen der archäologischen Forschung. Deutlich wird vor allem die immer weiter zunehmende Vielfalt der Arbeitsfelder, Fragestellungen und Methoden, die ganz verschiedene Schwerpunktbildungen in der Forschung möglich macht und erfordert. Diese Bandbreite beeindruckt besonders angesichts der überschaubaren Zahl von momentan 26 Lehrstühlen in Deutschland.
Die folgenden Beiträge des Heftes beschäftigen sich mit unterschiedlichen Bereichen und Formaten der Vermittlung von Ur- und Frühgeschichte. Doris Gutsmiedl-Schümann und Isabella Engelien-Schmidt untersuchen zunächst, welche Rolle archäologische Themen in deutschen Lehrplänen und Geschichtsschulbüchern spielen; sie stoßen dabei auf manche liebgewordenen, aber aus fachwissenschaftlicher Perspektive fragwürdigen Darstellungsmuster. Chancen einer verstärkten Berücksichtigung der Archäologie im Geschichtsunterricht werden im zweiten Teil des Artikels skizziert. Museumspädagogischen Vermittlungskonzepten ist der Beitrag von Beate Schneider gewidmet. Am Beispiel des Neanderthal-Museums macht er deutlich, welche vielfältigen Potenziale für historisches Arbeiten und Reflektieren der Lernort Museum bieten kann.
Mit einem speziellen, wiederum schulbezogenen Medium befasst sich Miriam Sénécheau: Sie mustert kritisch das Angebot an Unterrichtsfilmen zum Thema Ur- und Frühgeschichte im Hinblick auf fachwissenschaftliche und fachdidaktische Standards. Dabei weist sie eine Fülle von Fehlern und problematischen Interpretationen nach. Eine derart genaue themenbezogene Analyse des Mediums Unterrichtsfilm liegt bislang noch nicht vor und wäre auch im Hinblick auf andere Gebiete sehr zu wünschen. Das Spezialgebiet der Archäotechnik behandelt abschließend der Beitrag von Claudia Pingel. Archäotechnik rekonstruiert historische Konstruktions- und Arbeitsverfahren und nutzt sie für die Wissensvermittlung. In einschlägigen Museen ist sie mittlerweile etabliert, sie kann aber auch in der Schule herangezogen werden – die Verfasserin gibt Servicehinweise auf geeignete Anbieter.
INHALT DER GWU 3-4/2012
ABSTRACTS (S. 130)
EDITORIAL (S. 132)
BEITRÄGE
Ulrich Müller Prähistorische und Historische. Archäologie an den Universitäten (S. 133)
Doris Gutsmiedl-Schümann/Isabella Engelien-Schmidt Ur- und frühgeschichtliche Archäologie im Geschichtsunterricht (S. 157)
Beate Schneider Vom Klassenzimmer ins Museum. Warum Schulen mit Museen der Ur- und Frühgeschichte zusammenarbeiten sollten – und wie dies gelingt (S. 173)
Miriam Sénécheau Neues vom Neandertaler? Ur- und Frühgeschichte in Unterrichtsfilmen (S. 187)
Claudia Pingel Experimentelle Archäologie und/oder Archäotechnik? Ein kleiner Leitfaden zu handlungsorientierten Angeboten und Anbietenden (S. 214)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Alessandra Sorbello Staub Im Netz ausgegraben: Archäologische Ressourcen online (S. 222)
LITERATURBERICHT
Joachim Rohlfes Geschichtsdidaktik, Teil 2 (S. 225)
NACHRICHTEN (S. 252)
AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 256)
ABSTRACTS DER GWU 3-4/2012
Ulrich MüllerPrähistorische und Historische Archäologie an den Universitäten GWU 63, 2012, H. 3/4, S. 133 – 156
Die Ur- und frühgeschichtliche Archäologie an den Universitäten gehört zu den kleinen Fächern im deutschsprachigen Raum. Das Fach ist inzwischen zeitlich und inhaltlich aufgesplittert, doch sind „Ur- und Frühgeschichte“, „Mittelalter- und Neuzeitarchäologie“ bzw. „Prähistorische und Historische Archäologie“ Brückenfächer, die sich in Forschung und Lehre zwischen traditionellen Disziplinengrenzen bewegen. Ihr zeitliches Profil erstreckt sich von der Altsteinzeit bis in die Gegenwart; räumlich ist es keineswegs auf Europa beschränkt. Das Fach versteht sich als eine historische Kulturwissenschaft mit teilweise kulturanthropologischer Ausrichtung, in dem die Materialität von Kultur als Ausdruck kultureller Praxen mit archäologischen Methoden untersucht wird. Als Brückenfach ist die Archäologie stark durch naturwissenschaftlichen Methoden geprägt, die von Prospektionen über Techniken der Ausgrabungen bis hin zur Auswertung mit Spezialgebieten wie der Archäometrie oder der Archäoinformatik reichen. Gerade letztere nicht nur durch den Einsatz von Geografischen Informationssystemen, sondern mit modellierenden und räumlichstatistischen Verfahren an Bedeutung gewonnen. Generell ist die Archäologie eine raumbezogene Wissenschaft, und so stehen die komplexen Interaktionen von Mensch und Umwelt im Mittelpunkt aktueller Forschungen. Sie thematisieren die Veränderung der Umwelt durch den Menschen, die Prägung des Menschen durch die geofaktorielle Ausstattung und fragen nach Raum als kulturelle konstruierte Kategorie.
Doris Gutsmiedl-Schümann/Isabella Engelien-SchmidtUr- und frühgeschichtliche Archäologie im Geschichtsunterricht GWU 63, 2012, H. 3/4, S. 157 – 172
Der größte Teil der Menschheitsgeschichte ist schriftlos und damit nur über die archäologische Forschung zu fassen. Zudem sind archäologische Themen im Schulunterricht beliebt und werden vermehrt in Lehrpläne und Schulwerke aufgenommen. Dieser Beitrag nimmt ausgehend von aktuellen Lehrplänen die Unterrichtspraxis in den Blick, zeigt Möglichkeiten von archäologischen Themen im Schulunterricht auf und weist auf bestehende Probleme hin. Zugleich möchte er für eine enge Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften, Didaktikern und Archäologen plädieren, um das große Potential des archäologischen Materials im Geschichtsunterricht umfassend ausschöpfen zu können.
Beate SchneiderVom Klassenzimmer ins Museum. Warum Schulen mit Museen der Ur- und Frühgeschichte zusammenarbeiten sollen – und wie es gelingt GWU 63, 2012, H. 3/4, S. 173 – 186
Das Verhältnis von Schulen und Museen wurde in den vergangenen 20 Jahren immer wieder kontrovers diskutiert. Welches Potenzial liegt in einer gelungenen Zusammenarbeit und wie könnte diese konkret aussehen? Der Artikel beschreibt die Möglichkeiten der Museen für Ur- und Frühgeschichte und wie diese zu einem gesteigerten Geschichtsbewusstsein bei Schülern beitragen. Neben konzeptionellen Ideen bietet der Artikel Servicehinweise.
Miriam SénécheauNeues vom Neandertaler? Ur- und Frühgeschichte in Unterrichtsfilmen GWU 63, 2012, H. 3/4, S. 187 – 213
Der Beitrag gibt einen Überblick über Unterrichtsfilme zu Themen von der Altsteinzeit bis zur Eisenzeit und beleuchtet diese kritisch aus archäologischer Perspektive. Ein Schwerpunkt liegt auf Filmen zum Neandertaler. Im Vergleich der Produktionen miteinander wird der Konstruktcharakter der Darstellungen deutlich. Fachliche Mängel und das fehlende Eingehen auf die Tatsache, dass die Archäologie quellenbedingt immer nur unvollständige Einblicke in die Vergangenheit erarbeiten kann, stellen die Rolle der hier vorgestellten Filme in der Unterrichtspraxis – ein verlässliches Bild vergangener Lebenswelten zu vermitteln – in Frage. Wesentlich geeigneter scheinen Unterrichtsfilme (wie auch die Fernsehdokumentationen, die ihnen heute oftmals zu Grunde liegen) als Gegenstand für die Einübung eines medienkritischen Umgangs mit Geschichtsdarstellungen als Teil der Geschichtskultur.
Claudia PingelExperimentelle Archäologie und/oder Archäotechnik? Ein kleiner Leitfaden zu handlungsorientierten Angeboten und Anbietenden GWU 63, 2012, H. 3/4, S. 214 – 221
Unter „Experimenteller Archäologie“ wird häufig, leider irrtümlich, jede Form von handlungsorientierten Angeboten, wie Workshops u. ä., zu archäologischen Themen verstanden. Der Beitrag klärt zunächst, dass es sich hierbei um eine Methodik innerhalb der Archäologischen Wissenschaften handelt, und stellt ersetzend die „Archäotechnik“ vor. Darüber hinaus werden exemplarisch Archäotechnikerinnen und Archäotechniker und deren Angebote, vor allem außerhalb von Museen, vorgestellt. Abschließend werden Kriterien benannt, die es Außenstehenden ermöglichen sollen, seriöse Angebote und Akteure zu erkennen.