Editorial von Michael Sauer
Die Geschichtslehrerausbildung hat in der Geschichtsdidaktik in den letzten Jahren nur wenig Aufmerksamkeit gefunden, sowohl unter konzeptionellen wie unter empirischen Gesichtspunkten. Zwar war die Augsburger Tagung der "Konferenz der Geschichtsdidaktik" 2011 dem Thema "Professionalisierung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern" gewidmet und das jüngste Heft der "Zeitschrift für Geschichtsdidaktik" hatte den Schwerpunkt "Forschungsfeld Geschichtslehrkräfte". Der Bereich der Ausbildung ist dabei freilich nur in Ansätzen aufgegriffen worden. Das überrascht angesichts der Tatsache, dass das Lehramtsstudium in den meisten deutschen Bundesländern in letzter Zeit massiven Veränderungen - nämlich Einrichtung von Bachelor-/Masterstudiengängen und Modularisierung - ausgesetzt war und auch weiterhin - insbesondere durch die Einführung von Praxissemestern - ausgesetzt sein wird. Von diesen Veränderungen ist ebenso die zweite Phase der Lehrerbildung, das Referendariat, betroffen. Denn die Praxissemester haben zur Verkürzung des Referendariats geführt oder werden in Zukunft dazu führen. Und sie bringen völlig neue Herausforderungen für die Arbeitsteilung bzw. Kooperation zwischen Hochschule und Studienseminar mit sich. Stellt man in Rechnung, dass der zweiten Phase traditionell eine eminente Bedeutung für den Professionalisierungsprozess von Lehrkräften zugeschrieben wird, so ist es erstaunlich, wie wenig sie bisher aus spezifisch fachdidaktischer Perspektive in den Blick genommen worden ist.
Dies geschieht im vorliegenden Heft dezidiert aus dem Blickwinkel von Ausbilderinnen und Ausbildern (aus vier verschiedenen Bundesländern). Thematisiert werden organisatorische Fragen, bei denen es zwischen den Ländern keineswegs nur geringfügige Abweichungen gibt. Bayern weist hier mit seinem Seminarlehrer-Prinzip eine Besonderheit auf, dessen Stärken und Schwächen im Sinne einer "Meisterlehre" Ulrich Baumgärtner in seinem Beitrag abwägt. Chancen und Probleme des Praxissemesters werden von Kerstin Arnold und Thomas Mayer ausführlich erörtert. Aus fachdidaktischer Perspektive besonders bedenkenswert ist hier gewiss die Gefahr einer Entfachlichung des Praxisbezuges, vor der Mayer warnt. Ein anspruchsvolles Seminar-Ausbildungskonzept stellen Tobias Dietrich und Wolfgang Woelk vor. Dabei geht es ihnen nicht zuletzt um die Frage, auf welche Weise die geschichtsdidaktische Theorie- und Konzeptionsentwicklung für die berufspraktische Referendarsausbildung fruchtbar gemacht werden kann. Und schließlich untersuchen Christine Dzubiel und Benedikt Giesing beharrlichen und subtil nachfragend, inwieweit Ausbildungsvorschriften und fachdidaktische Modelle dazu geeignet sind, die überall geforderte historische Urteilskompetenz von Schülerinnen und Schülern zu konturieren und angehende Lehrkräfte zu deren Förderung und Diagnose zu befähigen. Ergänzt werden diese Beiträge durch einen Aufsatz von Georg Kanert und Manfred Seidenfuß, der sich aus empirischer Perspektive mit der Situation von Geschichtslehrkräften in der Berufseinstiegsphase befasst - ein aus geschichtsdidaktischer Sicht noch weniger behandelter Gegenstand.
In allen Beiträgen zum Schwerpunktthema geht es auch um das Verhältnis zwischen der zweiten und der ersten Phase der Lehrerbildung. Baumgärtner und Arnolds referieren dazu unter anderem die Ergebnisse von Befragungen in einem weiteren Kollegenkreis. Die Wünsche, die aus dem Studienseminar an die Hochschulen gerichtet werden, sind nicht neu: Gefordert wird vor allem eine breitere und stärker auf "Schulthemen" abgestimmte fachliche Ausbildung und eine stärkere Praxisorientierung in der Fachdidaktik. Wie sinnvoll dies ist und wie es im Einzelnen ggf. zu realisieren wäre, darüber lässt sich gewiss trefflich diskutieren. Jedenfalls erweist sich einmal mehr, dass im Sinne eines konsistenten Ausbildungsgangs ein intensiverer Austausch zwischen den Phasen hilfreich und notwendig wäre.
INHALT DER GWU 11–12/2014
ABSTRACTS (S. 642)
EDITORIAL (S. 644)
BEITRÄGE
Ulrich Baumgärtner Zwischen Universität und Schule. Beobachtungen zur zweiten Phase der Geschichtslehrerausbildung (S. 645)
Kerstin Arnold Das gymnasiale Lehramtsstudium im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis. Überlegungen zur Verzahnung von Geschichtsstudium und Praxissemester (S. 660)
Tobias Dietrich/Wolfgang Woelk Pragmatismus als geschichtsdidaktischer Imperativ? Unterrichten lernen mit einem Lehr-Lern-Modell (S. 683)
Christine Dzubiel/Benedikt Giesing Urteile von Urteilenden beurteilen. Die historische Urteilskompetenz als Kernanliegen in Schule und Lehrerausbildung (S. 701)
Georg Kanert/Manfred Seidenfuß Auf dem Weg in den "Praxisschock"? Geschichtslehrkräfte in der Berufseinstiegsphase (S. 718)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Alessandra Sorbello Staub Lernen mit digitalen Medien und Open Educational Resources (S. 735)
LITERATURBERICHT
Frank-Michael Kuhlemann Bildungsgeschichte, Teil I (S. 737)
NACHRICHTEN (S. 762)
AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 764)
REGISTER DES JAHRGANGS 65, 2014 (S. 765)
ABSTRACTS DER GWU 11–12/2014
Ulrich Baumgärtner Zwischen Universität und Schule. Beobachtungen zur zweiten Phase der Geschichtslehrerausbildung GWU 65, 2014, H. 11/12, S. 645 – 659
Der Artikel gibt einen Überblick über die Geschichtslehrerausbildung in Bayern, vornehmlich am Gymnasium. Dazu werden die einschlägigen Bestimmungen vorgestellt und analysiert sowie die Phasen der Ausbildung aufgrund persönlicher Erfahrungen und eines Meinungsbilds der beteiligten Lehrkräfte näher charakterisiert. Dabei sind Probleme der Passung von erster und zweiter Ausbildungsphase festzustellen: Insbesondere lässt die fachwissenschaftliche und fachdidaktische Vorbildung an den Universitäten im Hinblick auf die spätere Berufstätigkeit als Lehrkraft zu wünschen übrig.
Kerstin Arnold Das gymnasiale Lehramtsstudium im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis. Überlegungen zur Verzahnung von Geschichtsstudium und Praxissemester GWU 65, 2014, H. 11/12, S. 660 – 671
Auf Basis der Schilderung von Voraussetzungen für die Einführung des Praxissemesters in Baden-Württemberg und generellen Überlegungen zum Theorie-Praxis-Bezug innerhalb des Lehramtsstudiums werden aktuelle Inhalte der Veranstaltungen verschiedener an der Geschichtslehrerausbildung beteiligter Institutionen beleuchtet. Im Anschluss daran werden, ausgehend von Erfahrungen aus der Praxis, auch Defizite der Ausbildung benannt bzw. wird Wünschenswertes aufgelistet. Den Abschluss bildet eine Ideensammlung, wie eine stärkere Theorie-Praxis-Verzahnung während des Studiums erreicht werden könnte.
Thomas Mayer Das Praxissemester als Praxiselement in der Lehrerausbildung. Chancen und Bewertung GWU 65, 2014, H. 11/12, S. 672 – 682
Die Lehrerausbildung hat sich mit der Verkürzung des Referendariats von 24 auf 18 Monate deutlich verändert. Ein Praxissemester soll die Folgen der Verkürzung kompensieren und die angehenden Lehrerinnen und Lehrer besser auf die Unterrichtspraxis vorbereiten. In diesem Aufsatz werden anhand spezifischer Kriterien die Chancen und Grenzen des Praxissemesters untersucht. Dabei werden neben den institutionellen Rahmenbedingungen insbesondere die fachspezifischen und fachdidaktischen Erfordernisse des Geschichtsunterrichts ins Auge gefasst.
Tobias Dietrich/Wolfgang Woelk Pragmatismus als geschichtsdidaktischer Imperativ? Unterrichten lernen mit einem Lehr-Lern-Modell GWU 65, 2014, H. 11/12, S. 683 – 700
Der Beitrag stellt ein kompetenzorientiertes Lehr-Lernmodell vor. Es dient in der zweiten Phase der Geschichtslehrerausbildung als pragmatisches Strukturierungs-, Erkenntnis-, Planungs-, Kommunikations- und Refexionsmittel. Die Autoren loten exemplarisch aus, welchen Beitrag die universitäre Geschichtsdidaktik zur konkreten Ausbildungswirklichkeit leistet. Im Umkehrschluss erläutert der Beitrag eine graduierte Anforderungsmatrix sowie die Arbeit mit Videographien. Diese in der Praxis bewährten, fachdidaktisch-empirisch nicht überprüften Ausbildungsmittel stellt der Beitrag zur Diskussion.
Christine Dzubiel/Benedikt Giesing Urteile von Urteilenden beurteilen. Die historische Urteilskompetenz als Kernanliegen in Schule und Lehrerausbildung GWU 65, 2014, H. 11/12, S. 701 – 717
Die Förderung von Urteilskompetenz ist ein zentrales Anliegen des Geschichtsunterrichts. Die kompetenzorientierten Lehrpläne und Ausbildungsordnungen in NRW werfen diesbezüglich eine Reihe von Unklarheiten auf. Der vorliegende Beitrag will klären, welche Fähigkeiten angehende Lehrkräfte brauchen, um historische Urteilskompetenz bei Lernenden zu fördern. Neben Begriffsklärungen und Bezügen zu den fachdidaktischen Modellen werden besonders die Lehr- und Ausbildungspläne hierzu untersucht. Ausgehend von Erfahrungen in Unterricht und Lehrerbildung werden Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt.
Georg Kanert/Manfred Seidenfuß Auf dem Weg in den "Praxisschock". Geschichtslehrkräfte in der Berufseinstiegsphase GWU 65, 2014, H. 11/12, S. 718 – 734
Das Unterrichten-Lernen, das Refektieren über den Geschichtsunterricht und die Evaluation dieser Erfahrungen im Hinblick auf die qualitative Weiterentwicklung des Geschichtsunterrichts sind wesentliche Aufgaben und Ziele einer polyvalenten Lehrerbildung. In diesem Beitrag werden bei einer Stichprobe von Geschichtslehrkräften im ersten Berufsjahr (N=70) die Schwierigkeiten in der Berufseinstiegsphase in fachlicher und überfachlicher Hinsicht und der Stellenwert des erworbenen Wissens in Studium und Referendariat beim Umgang mit diesen Schwierigkeiten untersucht.