Editorial von Winfried Schulze
Für den normalen Wissenschaftler spielen Stiftungen eine außerordentlich wichtige, aber begrenzte Rolle, wenn es um die Förderung wissenschaftlicher Forschung geht. Neben der DFG und den Möglichkeiten der europäischen Forschungsförderung sind es hierzulande vor allem die großen privaten Stiftungen, die seit ca. fünf Jahrzehnten die staatliche Forschungsfinanzierung ergänzen. Doch darüber hinaus sind Stiftungen faszinierende Exempel für unser Denken über die Rolle des Einzelnen und dessen gestalterische Möglichkeiten in der Gesellschaft und gegenüber dem Staat. Diese Vielfalt von Fragen und Bedeutungen um Stiftungen will das vorliegende Heft bündeln, und es reagiert damit auf eine in den letzten Jahren enorm gewachsene geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung über diesen Gegenstand, den die hier abgedruckten Beiträge auch eindrucksvoll dokumentieren.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass Stiftungen ein Produkt des kapitalistischen Zeitalters sind, wenn man an die enormen Geldvermögen denkt, die in Stiftungen angelegt wurden. Doch die historisch weit zurückreichenden Beiträge von Sitta von Reden (Antike), Michael Borgolte (Mittelalter) und Bernhard Lorentz (Antike), ja auch der Blick in die islamische Rechtsordnung (Franz Kogelmann) zeigen, dass Stiftungen beinahe als anthropologische Konstanten entwickelter Gesellschaften angesehen werden können, mit denen Stifter ihren Namen verewigen, ihrem Gemeinwesen Gutes tun oder eine bestimmte soziale Aufgabe erledigt sehen wollten. Vor diesem universalgeschichtlichen Hintergrund kommt dann den historischen Konjunkturen des Stiftungswesens eine ganz besondere Bedeutung zu. Im Beitrag von Thomas Adam wird an die Blüte des protestantischen Stiftungswesens nach der Reformation erinnert und zugleich unterstrichen, welchen enormen Zuwachs das Stiftungswesen – zumindest in Preußen – im 19. Jahrhundert erfuhr, dem klassischen bürgerlichen Zeitalter, in dem die großen bürgerlichen Vermögen erstaunliche Entwicklungen im sozialen, musealen und wissenschaftlichen Bereich vorantreiben konnten. Die Unterstützung der universalhistorischen Forschungen eines Karl Lamprecht in Leipzig, die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Jahre 1911 und die Gründung der städtischen Universität Frankfurt am Main 1914 sind leuchtende Beispiele dieser hoch entwickelten bürgerlichen Stiftungskultur, in der vor allem jüdische Mitbürger stark vertreten waren. Diese auch für die Wissenschaft wohltätige Stiftungskultur wurde letztlich vom Staat selbst abgeschnitten, wobei den Stiftungen nach dem Ersten Weltkrieg weniger die Inflation selbst den Todesstoß versetzte als eine Gesetzgebung, die die Kriegsanleihen, zu denen die Stiftungen gezwungen worden waren, systematisch entwertete. Vor diesem Hintergrund erstaunt umso mehr die Neugründung des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft, der 1920 seine Arbeit aufnahm und heute über ein akkumuliertes Stiftungskapital von 2,5 Mrd. Euro verfügt.
Eine zentrale Frage wird in den Beiträgen von von Strachwitz und Lorentz angesprochen, wenn nach der Rolle und Strategie der Stiftungen in der modernen Zivilgesellschaft gefragt wird. Hier hat sich in der Bundesrepublik seit der Einrichtung der Bertelsmann-Stiftung 1977 ein neues Modell der Stiftungsarbeit durchgesetzt, das sich von der reinen Förderstiftung abwendet, sich stattdessen selbst strategische Ziele sucht und diese verwirklichen will – gerade im Bereich von Bildungs- und Wissenschaftspolitik, aber auch in anderen zentralen Fragen wie Integration, kulturelle Bildung oder Klima- und Umweltschutzfragen. Damit freilich betreten die Stiftungen ein umkämpftes Feld, sie werden zu gesellschaftlichen Playern, die in Konkurrenz zu den etablierten Kräften stehen. Wer freilich an einer starken Zivilgesellschaft interessiert ist und diese auch als mögliches Korrektiv der etablierten politischen Institutionen sieht, wird in einer differenzierten und notwendigerweise transparent arbeitenden Stiftungslandschaft kein Problem sehen können.
INHALT DER GWU 1-2/2012
ABSTRACTS (S. 2)
EDITORIAL (S. 4)
BEITRÄGE
Thomas Adam Stiften für das Diesseits – Deutsche Stiftungen in der Neuzeit (S. 5)
Sitta von Reden Glanz der Stadt und Glanz der Bürger. Stiftungen in der Antike (S. 21)
Michael Borgolte Planen für die Ewigkeit – Stiftungen im Mittelalter (S. 37)
Rupert Graf Strachwitz Die Wiederentdeckung des Stiftungswesens. Stiftungen seit dem Zweiten Weltkrieg (S. 50)
Franz Kogelmann Das islamische Stiftungswesen (S. 66)
Bernhard Lorentz Geben ohne Gegengabe? Strategische Philanthrophie in Europa seit der Antike (S. 81)
DISKUSSION
Gerhard Fritz „Immer mehr desselben?“. Anmerkungen zu Bärbel Völkel (S. 92)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Gregor Horstkemper Seelenheil und Gemeinnutz. Deutsche Stiftungsgeschichte(n) im World Wide Web (S. 98)
LITERATURBERICHT
Joachim Rohlfes Geschichtsdidaktik, Teil 1 (S. 101)
NACHRICHTEN (S. 125)
AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 128)
ABSTRACTS DER GWU 1-2/2012
Thomas AdamStiften für das Diesseits – Deutsche Stiftungen in der Neuzeit GWU 63, 2012, H. 1/2, S. 5 – 20
Im diesem Aufsatz wird die Entwicklung des Stiftungswesens im deutschen Raum von der Reformation bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts nachverfolgt. Dabei werden die wichtigsten Tendenzen in der Entwicklung des Stiftungswesens und insbesondere die charakteristischen Merkmale des Stiftens, die sich unter anderem als eine Reaktion auf die gesellschaftlichen Rahmenbedigungen entwickelten, herausgearbeitet. Stiftungen spielten nicht nur eine strategische Rolle in den gesellschaftlichen Konflikten von der Reformation bis in die Gegenwart, die soziale und kulturelle Infrastruktur der Städte am Vorabend des Ersten Weltkrieges war zu einem großen Teil das Ergebnis stifterischer Aktivitäten.
Sitta von RedenGlanz der Stadt und Glanz der Bürger. Stiftungen in der Antike GWU 63, 2012, H. 1/2, S. 21 – 36
Ein antikes Stiftungswesen entwickelte sich aus der Ideologie der Gabe, die sich seit den Epen Homers nachweisen lässt. Der Profit solcher Stiftungen in Form von Land, Geld und Gebäuden, die ab dem 5. Jh. v. Chr. auch im engeren Sinne als Kapitalanlage, deren Erträge allein für den Stiftungszweck genutzt werden durfte, nachweisbar ist, war gegenseitig. Ein reges Stiftungswesen, das als Funktionsmechanismus städtischer Wirtschaften und ihrer Politik angesehen werden kann, entwickelte sich im 3. und 2. Jh. v. Chr. Die römische Gesellschaft übernahm ab dem 2. Jh. v. Chr. die griechische Form des Stiftens, die in den Städten des Ostmittelmeerraums eine Hochblüte erreicht hatte, doch wurde die Erinnerung an einzelne Stifter auf Ewigkeit immer zentraler und weitete sich auf einen privaten Bereich (Gräberkulte) aus. Ab dem 1. Jh. n. Chr. lässt sich eine moralische Auseinandersetzung mit den Zwecken des Stiftens erkennen, in der sich die christliche Ideologie des Stiftens in mancher Hinsicht ankündigt.
Michael BorgoltePlanen für die Ewigkeit – Stiftungen im Mittelalter GWU 63, 2012, H. 1/2, S. 37 – 49
Das Mittelalter hat mehrere Stiftungskulturen mit verschiedenen religiösen Fundamenten hervorgebracht. Obgleich die vergleichende Stiftungsforschung ganz am Anfang steht, zeichnen sich schon Zusammenhänge, Verwandtschaften und Unterschiede ab. Stiftungen betrafen Religion und Recht, Wirtschaft und Politik, Fürsorge, Schule, Wissenschaft und Kunst und lassen sich deshalb als totales soziales Phänomen im historischen Wandel begreifen. Im lateinischen Christentum bildete die Reformation zwar eine Zäsur, sie gab im Besonderen aber oft nur den Anlass zu einer Transformation der Stiftungen. In islamischen Ländern wurden die Stiftungen erst an der Schwelle zur Moderne entschieden angefochten.
Rupert Graf StrachwitzDie Wiederentdeckung des Stiftungswesens. Stiftungen seit dem Zweiten Weltkrieg GWU 63, 2012, H. 1/2, S. 50 – 65
Im 20. Jhdt. wurde das deutsche Stiftungswesen zunächst in seinem Bestand dezimiert, zur gesellschaftlichen Marginalie degradiert und von den Geistes- und Sozialwissenschaften kaum noch thematisiert. Seit den 1950er Jahren erfährt es jedoch in West-, ab 1990 in ganz Deutschland einen deutlichen Wiederaufstieg. Heute sind Stiftungen nicht nur philanthropische Finanzierungsinstrumente, sondern vielfältig aktive und öffentlich und wissenschaftlich beachtete zivilgesellschaftliche Akteure in der demokratischen Gesellschaft.
Franz KogelmannDas islamische Stiftungswesen GWU 63, 2012, H. 1/2, S. 66 – 80
Keine Institution hat mehr für die Entwicklung muslimischer Gesellschaften geleistet als das islamische Stiftungswesen. In nahezu allen Lebensreichen von Muslimen hat es in der Vergangenheit eine herausragende Rolle gespielt. Staatliche Reformbemühungen haben im Laufe der Geschichte immer wieder versucht, die islamischen Stiftungen unter direkte Kontrolle zu stellen. Dieser Prozess kam mit dem Aufkommen unabhängiger Nationalstaaten zu einem vorläufigen Ende. Dieser Beitrag zeichnet die Grundlagen, Bedeutung und Entwicklung der islamischen Stiftungen von ihren Anfängen bis in die Gegenwart nach.
Bernhard LorentzGeben ohne Gegengabe? Strategische Philantrophie in Europa seit der Antike GWU 63, 2012, H. 1/2, S. 81 – 91
Innerhalb des deutschen Stiftungssektors etabliert sich gegenüber der reaktiv fördernden zunehmend eine aktive strategische Philanthropie mit gesellschaftspolitischer Agenda. Die Geschichte der Philanthropie in Europa zeigt, dass dieses Spannungsfeld bereits in der Antike bestand. Mit der Stiftungspraxis Plinius‘ des Jüngeren wird hier eine vernachlässigte Traditionslinie der strategisch und gesellschaftspolitisch arbeitenden Philanthropie in den Blick genommen. Im Dialog mit den beteiligten Stakeholdern gab Plinius‘ Stiftung Impulse zu gesellschaftlichen Veränderungsprozessen. Stiftungshandeln im 21. Jahrhundert kann diese Geschichte fortschreiben und sich gemeinsam mit Partnern für ihre Ziele einsetzen. So können aus Visionen realistische Strategien entstehen, die gesellschaftliche Wirkung erzielen. Zugleich bleibt es Aufgabe der strategischen Philanthropie, alternative Stiftungstypen zu analysieren, um von der Vielfalt historischer sowie zeitgenössischer Stiftungspraktiken zu lernen. Ein Austausch zwischen Wissenschaft und Stiftungspraxis kann dabei für beide Seiten gewinnbringend sein.