Schon seit geraumer Zeit ist Europa zu dem Raum mit der weltweit höchsten Verdichtung im Tourismus aufgestiegen. Auch die Zahlen für touristische Reisen zu außereuropäischen Zielen weisen zuletzt steil nach oben. Angesichts dieser Tendenzen gehören heute sowohl das touristische Reisen als auch das Bereist-Werden für immer mehr Menschen zu prägenden Erfahrungen ihrer Lebenswirklichkeit.
Von der Geschichtswissenschaft ist dieses Massenphänomen nicht zuletzt wegen seines transitorischen Moments lange Zeit nur am Rande wahrgenommen worden. Gewiss, schon seit langem bilden Vor- und Frühformen des modernen Tourismus wie die Pilger- oder die Heilbäderreisen, aber auch der im 20. Jahrhundert allmählich zum Durchbruch gelangende Massentourismus den Gegenstand einschlägiger historischer Studien. Bis heute steht jedoch zum einen die eingehende Beschäftigung mit den globalen Dimensionen dieses Geschehens aus. Zum anderen fehlen eingehende Studien zu den Aus- und Rückwirkungen touristischer Reisen auf die Bereisten sowie die durch den Tourismus bewirkten landschaftlichen, sozio-ökonomischen und kulturellen Veränderungen.
In diese Forschungslücke stößt das vorliegende Themenheft hinein. Eingangs bieten Moritz Glaser und Gabriele Lingelbach eine Skizze der Forschungslage, wobei sie einen besonderen Akzent auf die globalen Dimensionen des Reisegeschehens legen. Diese seien an den Zielorten des Tourismus in fortlaufend miteinander konkurrierende Prozesse der Homogenisierung und Heterogenisierung gemündet. Ähnliches gilt für den Massentourismus im Spanien der 1950er bis 1970er Jahre, den Moritz Glaser einerseits im Hinblick auf die vielschichtigen Reaktionen der Einheimischen, andererseits in seinen strukturellen Umwälzungen vor Ort untersucht.
Mit dem „Dritte Welt“-Tourismus in Ostafrika nimmt Dörte Lerp sodann eine ganz andere Weltregion in den Blick. Dieser erweise sich als ein Resultat diverser globaler Entwicklungen, zu denen nicht nur die Internationalisierung der Tourismusbranche zähle, sondern bei der auch eine modernisierungstheoretisch angeleitete Entwicklungspolitik, die Wildschutz und Nationalparkbewegung sowie der europäische Kolonialismus als treibende Kräfte fungierten.
Parallel dazu seien aber sowohl in Tansania als auch in Europa neue Formen einer Tourismuskritik aufgekommen, als die postkolonialen Abhängigkeitsverhältnisse zum Gegenstand breiter gesellschaftlicher Debatten aufstiegen. Im Anschluss daran geht es um ein ganz anders gelagertes Fallbeispiel, das Ulrike Schaper im Spannungsfeld von Frauenemanzipation und Sextourismus verortet. Zur Erklärung arbeitet sie heraus, dass gerade die angebliche Entwicklungsdifferenz zwischen der Bundesrepublik und Ländern der „Dritten Welt“ letztere als sextouristische Ziele attraktiv machte. Hierbei spielten Vorstellungen einer „unverdorbenen“ Sinnlichkeit eine entscheidende Rolle, aber auch die Idee, die Frauen an den Zielorten seien nicht emanzipiert.
Massenhafte Reisen eines weiteren Typus behandelt zuletzt Uta Bretschneider. Bei ihr geht es um die Gebiete östlich der früheren Blockgrenzen, in die seit den 1950er Jahren viele deutsche Vertriebene und Flüchtlinge reisten. Nach vorsichtigen Anfängen in den 1950er-Jahren und zahlreichen Schwankungen entstand ein regelrechter Markt für professionelle Heimattourismusangebote, der endgültig in den 1990er Jahren explodierte. In ihrer Analyse zeigt Bretschneider, wie sich darüber eine Raumaneignung der verlorenen Heimaten vollzog.
Die Beiträge bieten insgesamt einen Ausblick darauf, wie sehr durch den modernen Tourismus nicht nur das Reisegeschehen selbst sich immer weiter ausdifferenziert hat, sondern auch die betroffenen Gebiete und die hier lebenden Menschen immer erkennbarer in den Sog des Reisegeschäfts einbezogen wurden.
Von Christoph Cornelißen
INHALT
Abstracts (S. 122) Editorial (S. 124)
Beiträge
Moritz Glaser/Gabriele LingelbachTourismusgeschichte in globalhistorischer Erweiterung (S. 125)
Moritz GlaserBikini und Stierkampf. Aus- und Rückwirkungen des Massentourismus in Spanien (1950 –1978) (S. 140)
Dörte LerpTourismus in Ostafrika zwischen Entwicklungshoffnungen und Konsumkritik (S. 154)
Ulrike SchaperReisen in eine vorfeministische Vergangenheit. Bundesdeutscher Sextourismus und das Verhältnis zur „Dritten Welt“ (S. 170)
Uta BretschneiderReisen als erinnerungskulturelle Praxis Der „Heimwehtourismus“ der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen (S. 185)
Bernhard LöfflerLandesgeschichtsschreibung und Geschichtspolitik nach 1945. Das bayerische Beispiel (S. 199)
Informationen Neue Medien
Alessandra Sorbello StaubVirtuelles Reisen im Netz: vom Individual- zum Massentourismus (S. 218)
Literaturbericht
Raimund Schulz/Uwe WalterAltertum, Teil II (S. 221)
Nachrichten (S. 243)
Autorinnen und Autoren (S. 248)
ABSTRACTS
Moritz Glaser/Gabriele LingelbachTourismusgeschichte in globalhistorischer Erweiterung GWU 69, 2018, H. 3/4, S. 125 – 139 Der einleitende Beitrag führt in die unterschiedlichen geschichtswissenschaftlichen Forschungsansätze zur Geschichte des Tourismus ein und stellt die globalgeschichtliche Perspektive als Innovation für dieses Forschungsfeld dar. Gerade Fragen nach grenzüberschreitenden Wahrnehmungen, Wechselwirkungen und Rückkopplungseffekten lassen sich anhand des Untersuchungsgegenstandes ‚Tourismus‘ besonders gut in den Blick nehmen. Sie versprechen einerseits ein vertieftes Verständnis für globale, transnationale und translokale Interaktionen. Andererseits bieten sie auch die Möglichkeit, den etablierten Forschungsstand zur Tourismusgeschichte zu hinterfragen.
Moritz GlaserBikini und Stierkampf Aus- und Rückwirkungen des Massentourismus in Spanien (1950 – 1978) GWU 69, 2018, H. 3/4, S. 140 – 153 Gegenstand des Beitrags ist der Massentourismus in Spanien in der Zeit von den frühen 1950er- bis in die 1970er-Jahre, als das Land sich unter General Franco zunehmend dem Ausland öffnete. Methodisch bedient sich der Aufsatz der verflechtungsgeschichtlichen Fragestellung nach den Aus- und Rückwirkungen grenzüberschreitender Phänomene. Der Beitrag untersucht zum einen, wie und warum einerseits von einem Teil der einheimischen Akteure touristische Verhaltensweisen abgelehnt wurden und andererseits bewusst und gezielt Differenzen und Andersheit eingesetzt wurden, um die Attraktivität Spaniens für ausländische Touristen zu erhöhen. Zum anderen fragt der Beitrag nach möglichen Rückwirkungen des Tourismus auf die Touristen selbst und ihre Herkunftsländer am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland.
Dörte LerpTourismus in Ostafrika zwischen Entwicklungshoffnungen und Konsumkritik GWU 69, 2018, H. 3/4, S. 154 – 169 Eine 1970 in Tansania geführte Debatte um die Konsequenzen und die Zukunft des Tourismus nimmt der Beitrag zum Ausgangspunkt, um aufzuzeigen, dass zeitgenössische Akteure nicht nur das Potenzial des Tourismus als „wirtschaftspolitisches Wundermittel“ infrage stellten, sondern auch die Folgen des touristischen Kulturkontakts für die „Bereisten“ zunehmend kritisierten. Der Beitrag untersucht die Debatte vor dem Hintergrund einer zunehmend global agierenden Tourismusbranche, internationaler Entwicklungspolitiken, aber auch der wachsenden Kritik am sogenannten „Dritte-Welt-Tourismus“ in Europa. Dabei stehen vor allem die Wechselwirkungen zwischen Tourismus und Tourismuskritik im Vordergrund.
Ulrike SchaperReisen in eine vorfeministische Vergangenheit Bundesdeutscher Sextourismus und das Verhältnis zur „Dritten Welt“ GWU 69, 2018, H. 3/4, S. 170 – 184 Der Artikel untersucht die bundesdeutsche Auseinandersetzung mit Sextourismus in die „Dritte Welt“ von ca. 1970 bis Mitte der 1990er Jahre anhand von Presseberichten, wissenschaftlichen und aktivistischen Publikationen, um zu zeigen, wie in dieser Debatte Bundesrepublik und Reiseländer in ein zeitliches Verhältnis zueinander gesetzt wurden. Dazu analysiert er das Argument eines Kausalzusammenhangs zwischen Frauenemanzipation und Sextourismus, kontextualisiert es in Entwicklungen der Neuen Frauenbewegung und des „Dritte-Welt-Tourismus“ und zeigt, wie es an generelle Zuschreibungen an den Tourismus anschloss, indem er das Modell des Tourismus als Zeitreise auf den Sextourismus überträgt.
Uwe BretschneiderReisen als erinnerungskulturelle Praxis Der „Heimwehtourismus“ der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen GWU 69, 2018, H. 3/4, S. 185 – 198 12 bis 14 Millionen Menschen aus den ehemals deutschen bzw. deutsch besiedelten Territorien Osteuropas waren von Flucht und Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkriegs betroffen. Oft sollte es Jahre, zum Teil Jahrzehnte dauern, bis sie, falls überhaupt, die „alte Heimat“ wiedersahen. Ein regelrechter Markt für Erinnerungsreisen etablierte sich zunächst im Westteil Deutschlands und stand mit der „Friedlichen Revolution“ auch den vormaligen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern offen. Der Beitrag beleuchtet die Genese des Heimatreisens (schwerpunktmäßig bis 1990) und die Modi der Raumaneignung sowie die damit verbundenen spezifischen Praktiken. Neben qualitativen Interviews mit Personen, die Flucht und Vertreibung als Kinder erlebt haben, dient der „Aussiger Bote“, ein sogenanntes Heimatblatt, als Quellenbasis.
Bernhard LöfflerLandesgeschichtsschreibung und Geschichtspolitik nach 1945 Das bayerische Beispiel GWU 69, 2018, H. 3/4, S. 199 – 217 Am bayerischen Fall lässt sich die Praxis, Geschichte als politisches Argument zu nutzen, in verdichteter Form beobachten. Die Landesgeschichtsschreibung nach 1945 war hierbei ein bewusster Akteur und Ideengeber, hat sich selbst dezidiert als Teil einer staatlichen Identitätspolitik, als „Gegenwartswissenschaft“ mit staatspolitischem Auftrag begriffen und entsprechende Funktionen aktiver Politikberatung übernommen. Der Beitrag analysiert und problematisiert maßgebliche Protagonisten, Strategien und Instrumente einer so verstandenen Historiographie wie die programmatischen Inhalte der von ihr vermittelten landeshistorischen Meistererzählung.