Editorial
von Christoph Cornelißen
Was das Mittelalter darstellt, ist eine Frage der Sichtweise. Während in populären Bildern oder auf Mittelalter-Märkten oftmals romantisierende Vorstellungen gepflegt werden, hält sich bis heute in der akademischen Welt der Begriff als Epochenbezeichnung für das "Medium Aevum" von der Spätantike bis in das 16. Jahrhundert. Bei genauer Sichtung zeigt sich jedoch, dass es sich dabei um eine doppelte Erfindung handelt. Daran hatten zum einen die Humanisten einen entscheidenden Anteil. Zum anderen handelt es sich um ein Ensemble aus heuristischen Annahmen und Forschungspraktiken, das mit der Ausbildung des modernen geschichtswissenschaftlichen Betriebs seit Ende des 18. Jahrhunderts zum Durchbruch gelangte. Seitdem werden Zeugnisse des Mittelalters systematisch erforscht, und – das ist entscheidend – für einen langen Zeitraum wurden sie in den Dienst einer nationalstaatlich überformten Geschichtsforschung gerückt.
Eine stärker kulturgeschichtlich informierte historische Forschung der vergangenen Jahrzehnte hat viele hieraus resultierende Instrumentalisierungen und Verzerrungen in eingehenden Analysen dekonstruiert. Daran schließt das hier vorgelegte Themenheft an, indem es Prozesse und Bedingungen für die unterschiedlichen Konjunkturen des Mittelalters nachzeichnet. Es bleibt jedoch nicht an diesem Punkt stehen, denn es verknüpft die kritische Analyse ausgewählter Themen mit Studien zur Mittelalter-Archäologie und Denkmalpflege sowie neuen Debatten um den Stellenwert des "europäischen Mittelalters" in einer zunehmend globalisierten Welt.
Den Auftakt macht ein Beitrag von Fabian Link zu nationalgeschichtlich überformten Rezeptionsweisen des Mittelalters. Darin zeigt er eindrücklich auf, wie sehr die laufende Aktualisierung des Mittelalters einen interpretatorischen Rahmen formte, der von der Legitimation pangermanischer Großraumvisionen bis hin zu Befreiungs- und Emanzipationssemantiken reicht. Im Anschluss daran verdeutlicht Ulla Kypta, wie lange die Hanseforschung den Topos vom "ehrbaren Kaufmann" bediente, um auf diesem Weg ihre Distanz zu Wirtschaftsweisen der Moderne herauszustellen. Dass sich hier wie dort ein enger Arbeitszusammenhang zwischen mediävistischer Forschung und Denkmalpflege ergab, zeigt Susanne Grunwald in ihrem Beitrag über Entwicklungen in der DDR. Unter Bezug auf Vorgaben des historischen Materialismus sorgten die Experten des Mittelalters dafür, dass die Ergebnisse ihrer Arbeit in das neu geformte marxistische Geschichtsbild eingepasst werden konnten.
In weit grundsätzlicherer Manier als die vorangestellten Analysen führt Bernhard Jussen in seinem Beitrag ein vehementes Plädoyer dafür, sich von der noch heute gängigen Epocheneinteilung abzuwenden. Das Mittelalter solle "verschwinden", heißt es, denn als ein Makromodell steuere es die Ordnung und letztlich auch die Deutung des Materials – und zwar in eine falsche Richtung. Heute gehe es vielmehr darum, sich sowohl über die Zäsuren als auch die Kategorien nicht nur der mediävistischen Forschung neu zu verständigen. Dass dies insbesondere auch für von Jussen kritisierte Schul- und Handbuchliteratur relevant ist, zeigen die nachfolgenden Überlegungen von Martin Clauss und Martin Munke. In ihrem vergleichend angelegten Beitrag werten sie Passagen zur mittelalterlichen Geschichte in Schulbüchern aus unterschiedlichen Epochen der deutschen Geschichte aus und gelangen darüber zu der eher bedrückenden Erkenntnis, dass in allen drei Fällen das Mittelalter letztlich als eine historische Epoche ohne Eigenwert aufscheine.
In der Summe verdeutlichen die Beiträge, wie sehr die Deutung des Mittelalters sich als ein Produkt immer wieder neuer Gegenwartsinteressen erweist. Zukünftige Diskussionen werden zeigen, ob dies den Anlass dafür bietet, den wissenschaftlichen Standort der Mediävistik nochmals in grundsätzlicher Weise zu überdenken.
INHALT DER GWU 9–10/2016
ABSTRACTS (S. 506)
EDITORIAL (S. 508)
BEITRÄGE
Fabian Link Gegenwarten des Mittelalters vom späten 18. bis ins 20. Jahrhundert. Politisierung, Populärkultur und die Kulturwissenschaften (S. 509)
Ulla Kypta Der ehrbare Kaufmann erlebt die Neuzeit nicht. Hansisches Wirtschaften als Alternative zur Moderne (S. 523)
Susanne Grunwald Das sozialistische Mittelalter. Zur Entwicklung der kulturwissenschaftlichen Mittelalterforschung und Mittelalterrezeption in der DDR (S. 537)
Bernhard Jussen Richtig denken im falschen Rahmen? Warum das "Mittelalter" nicht in den Lehrplan gehört (S. 558)
Martin Clauss/Martin Munke Mittelalter-Bilder im Schulbuch. NS-Deutschland, Bundesrepublik und DDR im Vergleich (S. 577)
STICHWORTE ZUR GESCHICHTSDIDAKTIK
Michael Sauer Schulgeschichtsbücher. Herstellung, Konzepte, Unterrichtseinsatz (S. 588)
BERICHTE UND KOMMENTARE
Arnd Reitemeier Das europäische Hansemuseum in Lübeck (S. 604)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Alessandra Sorbello Staub Überall im Netz ist Mittelalter (S. 610)
LITERATURBERICHT
Christoph Marx Afrika (S. 613)
NACHRICHTEN (S. 630)
AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 632)
ABSTRACTS DER GWU 9–10/2016
Fabian LinkGegenwarten des Mittelalters vom späten 18. bis ins 20. Jahrhundert Politisierung, Populärkultur und die Kulturwissenschaften GWU 67, 2016, H. 9/10, S. 505 – 522
Der Beitrag skizziert die unterschiedlichen Rezeptionswellen des Mittelalters vom späten 18. Jahrhundert bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Rolle der Wissenschaften vom Mittelalter geworfen. Das Mittelalter wurde auf vielfältige Weise für die jeweiligen nachmittelalterlichen Gegenwarten verwendet, oft in nationalistischer Absicht, zuweilen aber auch im Sinne einer Befreiungs- und Emanzipationssymbolik. Der Beitrag folgt der These, dass diese Aktualisierungen des Mittelalters das ausmachen, was in den jeweiligen nachmittelalterlichen Gesellschaftsgegenwarten unter Mittelalter verstanden wurde und wird.
Ulla KyptaDer ehrbare Kaufmann erlebt die Neuzeit nicht. Hansisches Wirtschaften als Alternative zur Moderne GWU 67, 2016, H. 9/10, S. 523 – 536
Das Bild der deutschen Gesellschaft vom guten Wirtschaften ist immer noch stark geprägt von Vorstellungen vom "ehrbaren Kaufmann", als dessen Prototyp der Hansekaufmann gelten kann. Der Beitrag arbeitet die Traditionslinien heraus, die die Darstellungen hansischen Wirtschaftens in den vergangenen hundert Jahren verbinden. Anhand der Erzählungen vom Ende der Hanse lässt sich zeigen, dass von der Weimarer Republik bis ins 21. Jahrhundert hansisches, "gutes" Wirtschaften als Gegenbild zur Moderne konzipiert wird: Der gute Kaufmann arbeitete in der Gemeinschaft an der Vereinigung Europas, wohingegen der neuzeitliche Kaufmann aus Eigeninteresse die Welt ausbeutete.
Susanne GrunwaldDas sozialistische Mittelalter. Zur Entwicklung der kulturwissenschaftlichen Mittelalterforschung und Mittelalterrezeption in der DDR GWU 67, 2016, H. 9/10, S. 537 – 557
In der DDR galt das Mittelalter bis zum Mauerbau als marginal, so dass archäologische Mittelalterforschungen meist nur baubegleitend verliefen und erhaltene Bauwerke und Siedlungsstrukturen den Interessen der sozialistischen Stadterneuerung unterworfen waren. Erst ab den 1970er Jahren erfolgte eine zögerliche Umbewertung dieser Praxis. Was diese Entwicklungen von denjenigen in der BRD unterschied, waren die einheitliche geschichtsphilosophische Grundlage aller kulturgeschichtlichen Forschungen, die Idee der Planwirtschaft und der Zentralismus, der die Öffentlichkeit weitgehend aus den Debatten um Alter, Wert, Erbe und Denkmal ausschloss.
Bernhard JussenRichtig denken im falschen Raum? Warum das "Mittelalter" nicht in den Lehrplan gehört GWU 67, 2016, H. 9/10, S. 558 – 576
Jede historische Erklärung ist abhängig von dem Denkrahmen, in dem die Fragen gestellt und die Hypothesen gebildet werden. Deshalb ist Kritik der Makromodelle eine Hauptaufgabe historischen Arbeitens. Es sind Modelle wie Antike-Mittelalter-Neuzeit, die über die Anordnung des Materials entscheiden und darüber, welche Themen es überhaupt in Synthesen und Lehrbücher schaffen. Der Beitrag zeigt, was nicht anders zu erwarten ist, aber weitgehend ignoriert wird: dass das von den "Aufklärern" zu ihrem eigenen Lob erfundene Epochenmodell das historische Denken in die Irre führt und den aktuellen Erklärungsbedarf nachdrücklich behindert.
Martin Clauss/Martin MunkeMittelalter-Bilder im Schulbuch. NS-Deutschland, Bundesrepublik und DDR im Vergleich GWU 67, 2016, H. 9/10, S. 577 – 587
Für die gesellschaftliche Vermittlung von Geschichtsbildern sind Schulbücher ein Medium von großer Bedeutung. Der Beitrag untersucht vergleichend, welche Bilder von der Epoche "Mittelalter" in drei Schulbüchern aus dem NS-Regime, der DDR und der Bundesrepublik präsent sind. In den ersten beiden Fällen bestimmt ein übergeordnetes, epochenunabhängiges Narrativ vom Völker- bzw. Klassenkampf die Interpretation; im dritten Fall sorgt das Fehlen eines solchen Narrativs für eine wenig konzise Darstellung. In allen drei Fällen erscheint das Mittelalter so als eine historische Epoche ohne Eigenwert.