Editorial von Michael Sauer
Die Geschichtsdidaktik hat sich lange Zeit eher mit allgemeineren Zielsetzungen und Konzeptionen des Geschichtsunterrichts befasst als mit dem Unterrichtsgeschehen selber. In den letzten Jahren hat dann die Frage nach den fachspezifischen Kompetenzen die Diskussion beherrscht, nachdem schon zuvor das auf Quellen und Darstellungen von Geschichte bezogene Methodenlernen einen wichtigen Stellenwert in einschlägigen, insbesondere unterrichtspragmatischen Veröffentlichungen eingenommen hatte. Die in den letzten Jahren verstärkt einsetzende empirische Forschung hat intensiver nach den Ergebnissen von Lern- und Entwicklungsprozessen gefragt; weniger jedoch hat sie die Vermittlung von Geschichte, für die Unterricht den zentralen Ort darstellt, selber als Prozess in den Blick genommen.
Gewiss hat dies zu tun mit methodischen Schwierigkeiten. Unterricht ist eine komplexe Situation, die sich nicht leicht analysieren lässt. Eine Vielzahl von Faktoren – von der Unterrichtsplanung der Lehrkraft über die allgemeinen und fachlichen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler bis hin zum Verlauf der Interaktion – bestimmt das Geschehen, deren Wirksamkeit sich im Einzelnen nicht genau bemessen lässt. Natürlich kann man die Analyse von Unterricht auf Einzelfragen – zum Beispiel die Formulierung von Lehrerfragen – richten und andere Gesichtspunkte beiseite lassen. Man kann versuchen, die Wirksamkeit einzelner Faktoren von Unterricht in Feldexperimenten genauer in den Blick zu bekommen, indem man diese isoliert und gezielt variiert und andere kontrolliert stabil zu halten versucht. Dies bedeutet freilich immer eine Veränderung oder Reduzierung der Ausgangssituation.
Ob bei den ersten Praxiserfahrungen innerhalb des Studiums, ob im Referendariat, ob in der nachträglichen Stundenreflexion einer Lehrkraft – stets geht es um die Frage, ob es sich um gelungenen Unterricht gehandelt hat und wie ggf. dieser Unterricht hätte optimiert werden können. Die Frage nach der fachlichen bzw. fachdidaktischen Qualität von Unterricht ist allerdings noch schwerer zu beantworten als die nach seiner pädagogischen. Denn Aspekte wie Lehrer- oder Schülerverhalten, Sozial- oder Kommunikationsformen lassen sich relativ gut beobachten und kategorial erfassen. Es handelt sich dabei um Sichtstrukturen des Unterrichts. Bei fachspezifischen Lernprozessen ist dies zumeist schwerer. Bei vielen Aspekten, die den Kern von historischem Lernen in der Schule ausmachen (oder ausmachen sollten), handelt es sich um gedankliche Prozesse – um Tiefenstrukturen –, die oft schwer an beobachtbarem Schülerverhalten festzumachen sind: Damit man beurteilen kann, ob Schülerinnen und Schüler die Ursachen eines historischen Ereignisses verstanden haben, muss schon eine ausdrückliche und einigermaßen komplexe Schüleräußerung vorliegen.
Die Autoren unseres Themenschwerpunkts präsentieren eine differenzierte prozessorientierte Analyse einer einzelnen Geschichtsunterrichtsstunde – die Beiträge stammen aus dem Kontext einer Sektion des letztjährigen Historikertages. Vorgeführt wird zum einen, wie Geschichtsunterricht aus unterschiedlichen, einander sinnvoll ergänzenden Perspektiven in den Blick genommen werden kann oder gar muss; dabei wird auch erkennbar, wie schwierig die Frage nach "dem guten Geschichtsunterricht" zu beantworten ist. Zum anderen wird hier ein Signal gesetzt, die Geschichtsdidaktik möge sich stärker ihrer doch eigentlich zentralen Aufgabe der Unterrichtsanalyse widmen und dieses Feld nicht einfach der Alltagspraxis überlassen – ein Signal, das in den Schulen gewiss auf Zustimmung stoßen wird.
In der Rubrik "Diskussion" werden sich in den kommenden Heften Autoren zu geschichtsdidaktischen Fragen äußern, die sie besonders bewegen – als Ärgernis, als Versäumnis, als Herausforderung. Den Beginn macht Bärbel Völkel mit einem pointierten Statement zum chronologischen Geschichtsunterricht.
INHALT DER GWU 5-6/2011
ABSTRACTS (S. 258)
EDITORIAL (S. 260)
BEITRÄGE
Meik Zülsdorf-Kersting Was ist guter Geschichtsunterricht? Qualitätsmerkmale in der Kontroverse – eine Einführung (S. 261)
Holger Thünemann "Aber gerade das war ja historisches denken." Guter Geschichtsunterricht aus Lehrerperspektive (S. 271)
Johannes Meyer-Hamme "Ja also, das war ne gute Stunde." Qualitätsmerkmale von Geschichtsunterricht aus Schülerperspektiven (S. 284)
Gerhard Henke-Bockschatz Guter Geschichtsunterricht aus fachdidaktischer Perspektive (S. 298)
Transkript der Unterrichtsstunde (S. 312)
Peter Gautschi Beurteilung von Geschichtsunterricht – Aspekte und Folgerungen (S. 316)
Dierk Walter Der Sieg der Südstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg. Technik und Nutzen kontrafaktischer Geschichte in Literatur und Historiographie (S. 325)
Amalie Fößel "Die besonderen Töchter des heiligen Petrus." Zur Kommunikation zwischen Päpsten und Königinnen im mittelalterlichen Europa (S. 343)
DISKUSSION
Bärbel Völkel Immer mehr desselben? Einladung zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem chronologischen Geschichtsunterricht (S. 353)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Gregor Horstkemper/Alessandra Sorbello Staub Verheerte Landschaften, erschütterte Menschen. Online-Materialien zu schweren Erdbeben des 20. Jahrhunderts (S. 363)
LITERATURBERICHT
Magnus Brechtken Geschichte der nationalsozialistischen Herrschaft, Teil 2 (S. 366)
NACHRICHTEN (S. 381)
AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 384)
ABSTRACTS DER GWU 5/6/2011
Meik Zülsdorf-Kersting Was ist guter Geschichtsunterricht? Qualitätsmerkmale in der Kontroverse – eine Einführung GWU 62, 2011, H. 5/6, S. 260-269
Die Beschreibung und Bewertung von Geschichtsunterricht ist seit Beginn der Disziplingeschichte eine zentrale Aufgabe der Geschichtsdidaktik. Deren Wichtigkeit ist auch nach der Ausweitung der geschichtsdidaktischen Forschungsfelder um den Bereich der Geschichtskultur aktuell. Geschichtsstunden werden täglich durch Schüler, Lehrer, Fachleiter sowie Wissenschaftler eingeschätzt, benotet und evaluiert. Dieser Beitrag zeigt, dass die kriteriengeleitete Beschreibung und vor allem Bewertung von Geschichtsunterricht trotzdem ein dringliches Forschungsdesiderat darstellt. Zugleich führt der Aufsatz in die weiteren Beiträge des Hefts ein.
Holger Thünemann „Aber gerade das war ja historisches Denken.“ Guter Geschichtsunterricht aus Lehrerperspektive GWU 62, 2011, H. 5/6, S. 270-283
Was sind aus Lehrerperspektive Merkmale guten Geschichtsunterrichts? Um diese Frage zu beantworten, wurde ein Leitfaden-Interview durchgeführt und inhaltsanalytisch ausgewertet. Es wird u. a. deutlich, dass zwar auch fachunspezifische Merkmale eine Rolle spielen, dass es aus Lehrersicht aber nicht zuletzt um historisches Denken geht. Die rekonstruierte subjektive Theorie hat also einen harten fachspezifischen Kern. Das zeigt auch die intensive Thematisierung von Aspekten wie Quellenkritik oder Kontroversität. Abschließend profiliert der Beitrag kurz die Konsequenzen der erhobenen Befunde für Forschung und Praxis.
Johannes Meyer-Hamme „Ja also, das war ne gute Stunde.“ Qualitätsmerkmale von Geschichtsunterricht aus Schülerperspektiven GWU 62, 2011, H. 5/6, S. 284-297
Ausgangspunkt des Artikels ist die These, dass es nicht ausreicht Qualitätsmerkmale von Geschichtsunterricht theoretisch abzuleiten, weil die Perspektiven der beteiligten Akteure nicht systematisch berücksichtigt werden. Deshalb werden hier Schüler exemplarisch zu ihren Qualitätsmerkmalen von Geschichtsunterricht befragt. Darauf aufbauend wird die empirisch begründete These abgeleitet, dass ein Kriterium für guten Geschichtsunterricht ist, unterschiedliche Aufgaben und Hilfestellungen für die Lernenden auf ihren je unterschiedlichen Niveaus bereitzustellen.
Gerhard Henke-Bockschatz Guter Geschichtsunterricht aus fachdidaktischer Perspektive GWU 62, 2011, H. 5/6, S. 298-311
Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Annahme, dass sich die Güte von Geschichtsunterricht auch und gerade in der Art zeigen muss, wie Schüler und Lehrer im Unterricht miteinander kommunizieren. Es werden deshalb zwei ausgewählte Passagen der Stunde darauf hin interpretiert, welche Einsichten und Urteile über das historische Phänomen „Oktoberrevolution“ im Zuge des Unterrichtsgesprächs konstituiert und expliziert werden. Dabei zeigt sich, dass die Diskussion wissenschaftlicher Darstellungen und Quellen im Verlauf der Stunde gängige Vorurteile eher bestätigt statt sie kritisch zu hinterfragen.
Peter Gautschi Beurteilung von Geschichtsunterricht -- Aspekte und Folgerungen GWU 62, 2011, H. 5/6, S. 316-324
Im Rückblick auf die Sektion des Historikertages 2010 „Was ist guter Geschichtsunterricht? Qualitätsmerkmale in der Kontroverse“ werden vier Aspekte deutlich, die für die Beurteilung von Geschichtsunterricht massgebend sind. Es handelt sich dabei um 1. unterschiedliche Zugriffe, 2. unterschiedliche Bereiche, 3. unterschiedliche Methoden und 4. unterschiedliche Funktionen der Beurteilung von Geschichtsunterricht. Es lassen sich aus der Analyse dieser Aspekte drei Folgerungen ziehen: Erstens muss der jetzt wieder aufgenommene Dialog zum Thema „Beschreibung und Beurteilung von Geschichtsunterricht“ intensiviert werden. Zweitens spielen das Handeln und die Persönlichkeit der Lehrperson für das Gelingen von Geschichtsunterricht eine wesentliche Rolle. Drittens muss die Geschichtsdidaktik noch klarer herausarbeiten, was das Fachspezifische des Geschichtsunterrichts ist.
Dierk Walter Der Sieg der Südstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg. Technik und Nutzen kontrafaktischer Geschichte in Literatur und Historiographie GWU 62, 2011, H. 5/6, S. 325-342
Kontrafaktische Geschichte ist eine faszinierende, zugleich aber umstrittene Übung in der Literatur und der – vor allem angelsächsischen – Geschichtsschreibung. Wie sähe eine Welt aus, in der die Südstaaten den amerikanischen Bürgerkrieg gewonnen hätten, die Reformation in England ausblieb oder in der das antike Griechenland den Persern erlegen wäre? Anhand einschlägiger Fallbeispiele analysiert der Beitrag Technik und Methode sowie Nutzen veränderter Vergangenheiten. Er gelangt zu dem Schluss, dass kritische Geschichtswissenschaft letztlich ohne kontrafaktisches Denken gar nicht möglich ist.
Amalie Fößel „Die besonderen Töchter des heiligen Petrus“ Zur Kommunikation zwischen Päpsten und Königinnen im mittelalterlichen Europa GWU 62, 2011, H. 5/6, S. 343-352
Zwischen Päpsten und Königinnen gab es vielfache Kontakte und Kommunikationsmöglichkeiten. Ausgehend vom Diktum Papst Anaklets II. über Kaiserin Richenza als einer specialis beati Petri filia wird an ausgewählten Beispielen aus dem frühen und hohen Mittelalter die große Bandbreite an Kommunikation und Interaktion aufgezeigt. Päpste suchten die politische Kooperation und traten als Bittsteller auf, Königinnen erhofften sich ihrerseits die Unterstützung der Päpste in politischen, rechtlichen und privaten Angelegenheiten.