EDITORIAL von Michael Sauer
Könnte man im Bildungsbereich ein "Wort des Jahres" wählen, so wären in den letzten Jahren wohl die Begriffe "Bildungsstandard" und "Kompetenzen" die heißesten Favoriten gewesen. Für manche allerdings eher Favoriten für das "Unwort des Jahres": Was für die einen Schlüsselbegriffe für einen erhofften Modernisierungsschub sind, das betrachten die anderen bestenfalls als Leerformeln oder schlimmstenfalls als bürokratische Vorgaben, die der Vielfalt pädagogischer Prozesse in Unterricht und Schule nicht gerecht werden. Die Kritiker haben freilich politisch schlechten Stand. Bildungsstandards, verbunden mit Kompetenzvorgaben, haben sich - wenngleich nicht immer unter diesem Begriff - mittlerweile allenthalben etabliert, teils als KMK-Bestimmung bundesweit, teils auf Länderebene. Die Praktiker reagieren auf die neuen Entwicklungen vorwiegend mit Zurückhaltung, wenn nicht Abwehr. Sie fühlen sich und ihre Schüler angesichts der realistischen Möglichkeiten eines Zweistundenfachs oft genug überfordert oder lehnen solche "Glasperlenspiele" rundum ab. In dieser schwierigen Situation hat der Verband der Geschichtslehrer Deutschlands bereits vor zwei Jahren einen eigenen Entwurf für Bildungsstandards vorgelegt. Ziel war, eine gewisse Vereinheitlichung der Entwicklung in den Ländern zu bewirken. Und das Modell sollte stärker den tatsächlichen Möglichkeiten und Notwendigkeiten des Unterrichts Rechnung tragen, nicht zuletzt durch eine präzisere Beschreibung erwünschter Sachkompetenzen. Soweit man sehen kann, hat dieses Konzept allerdings bislang - abgesehen von den neuen niedersächsischen Richtlinien - nicht die erhoffte Breitenwirkung entfaltet. In diesem Heft setzt sich nun Karl Heinrich Pohl noch einmal kritisch mit jenem Entwurf auseinander. Der Kernpunkt: Es würden viel zu oft historische Deutungen der Verfasser verbindlich vorgegeben, es mangele an Offenheit für eigene Urteile der Schüler. Die Erwiderung auf diesen Beitrag stammt von Martin Stupperich, dem spiritus rector des Verbands-Modells. Er führt die Bedürfnisse der Praxis ins Feld, wo man auf pragmatische und verlässliche Lösungen angewiesen sei. Der Disput ist nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil hier sehr grundsätzliche Probleme zur Geltung kommen: die Funktion von Bildungsstandards; die Vorgabedichte und Argumentationshöhe von Richtlinien im Allgemeinen; die Spielräume von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht; schließlich auch das Verhältnis von Schule und universitärer Geschichtsdidaktik. Mit einem speziellen Standard-Problem befasst sich der Beitrag von Michael Sauer. Wenn sich überhaupt irgendetwas im Geschichtsunterricht "standardisieren" lässt, dann ein "Kanon" von Lerndaten - so könnte man vermuten. Ausdrücklich diskutiert worden ist diese Frage jedoch seit langem nicht. Von den ehemaligen und nur scheinbaren bildungsbürgerlichen Selbstverständlichkeiten hat man sich mit Recht verabschiedet. Heutzutage herrscht jedoch eine merkwürdige Unbestimmtheit vor: "Daten und Fakten" zu lernen gilt als banal, hat bisweilen geradezu etwas Anrüchiges, und ist doch zugleich irgendwie notwendig. Dass durchaus Diskussions- und Verständigungsbedarf besteht, zeigen die Ergebnisse der Befragung, über die der Beitrag berichtet. Der Aufsatz von Meik Zülsdorf-Kersting schließlich bringt den Geschichtsunterricht gewissermaßen aus der Außensicht in den Blick. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie sich die Holocaustgeschichtsbilder von Jugendlichen im Rahmen ihrer geschichtskulturellen Sozialisation entwickeln. Dazu hat der Verfasser in einer qualitativen empirischen Studie 28 Probanden über ein Jahr begleitet - solche Mittelfriststudien sind in der geschichtsdidaktischen Forschung in Deutschland eine absolute Seltenheit. Dem Geschichtsunterricht bescheinigt er, dass er so gut wie keine relevanten Lernzuwächse bei den Probanden bewirkt habe. Als Konsequenz fordert er u.A., dieser solle intensiver den gesellschaftlichen Umgang mit Geschichte in den Blick nehmen. Dies ist gewiss ein Bereich, der in Bildungsstandards stärker zu verankern wäre als bislang.
Inhalt der Ausgabe
ABSTRACTS (S. 610)
EDITORIAL (S. 611)
BEITRÄGEMichael Sauer Geschichtszahlen - was sollen Schülerinnen und Schüler verbindlich lernen? Ergebnisse einer Lehrerbefragung (S. 612)
Meik Zülsdorf-Kersting Historische Identität und geschichtskulturelle Prägung: empirische Annäherungen (S. 631)
DISKUSSIONKarl Heinrich Pohl Bildungsstandards im Fach Geschichte Kritische Überlegungen zum Modellentwurf des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (S. 647)
Martin Stupperich Der Modellentwurf Bildungsstandards des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands Eine Antwort auf die Thesen von Karl Heinrich Pohl (S. 653)
INFORMATIONEN NEUE MEDIENGregor Horstkemper/Alessandra Sorbello Staub Zeitfibel: Historische Chronologie im Web (S. 662)
LITERATURBERICHTJoachim Rohlfes Geschichtsdidaktik - Geschichtsunterricht, Teil I (S. 664)
NACHRICHTEN (S. 676)
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ABSTRACTS
Michael SauerGeschichtszahlen - was sollen Schülerinnen und Schüler verbindlich lernen? Ergebnisse einer Lehrerbefragung GWU 59, 2008, H. 11, S. 612-630 Schülerinnen und Schüler sollen ein chronologisches Überblicks- oder Orientierungswissen erwerben und besitzen - diese Forderung findet sich in allen Lehrplänen wie auch in der didaktischen Literatur. Abgesehen von strukturierenden Konzepten geht es um die Kenntnis von Daten wichtiger historischer Ereignisse und Prozesse. Aber wie viele solcher Daten und welche sollten Schülerinnen und Schüler kennen? Diese Frage ist bislang kaum einmal genauer diskutiert worden. Der Beitrag stellt die Ergebnisse einer Lehrerbefragung dazu dar.
Meik Zülsdorf-KerstingZum Verhältnis von historischer Identität und geschichtskultureller Prägung GWU 59, 2008, H. 11, S. 631-646 Wie orientieren sich Individuen im geschichtskulturellen Pluralismus? Ist es vorstellbar, dass Jugendliche unterschiedliche - und teilweise gegenläufige - historische Sinnangebote zu einer narrativen Synthese integrieren; und wenn ja, wie machen sie dies? Der Beitrag stellt Ergebnisse einer qualitativen, rekonstruktiven Mittelfriststudie vor, in der Jugendliche ein Jahr begleitet und im Hinblick auf ihre geschichtskulturelle Sozialisation befragt wurden. Eingehend wird hier der Zusammenhang von ethnischer Zugehörigkeit bzw. Selbst-/Fremdverortung und historischer Identität bedacht.