EDITORIALObwohl die neue Sozial- und Kulturgeschichte seit ihren Anfängen minderprivilegierten Gruppen der Gesellschaft große Aufmerksamkeit gewidmet hat, erstreckt sich dieses Interesse bis in die Gegenwart meist nicht auf Behinderungen physischer oder psychischer Natur. Erst mit großer Verspätung wurde diese Ungleichheitskategorie zum Gegenstand systematischer historischer Studien, was angesichts der beträchtlichen Verbreitung von Behinderungen geradezu erstaunlich wirken muss. Vor diesem Hintergrund eröffnen die neuen Ansätze der Disability-Forschung ein viel versprechendes Forschungsfeld, das in historischer Perspektive nicht zuletzt auch deswegen weiterführend erscheint, weil darüber die massenhaften Folgen von dauerhaften oder temporären Behinderungen im Gefolge von Kriegen, Seuchen und Krankheiten, Mangelernährung sowie anderen Krisen neu vermessen werden können.
In ihrem Einleitungsbeitrag skizziert Gabriele Lingelbach zunächst die Wege der Forschung zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen und verdeutlicht darüber die engen Bezüge mit den interdisziplinären Disability Studies. Ihre Ausführungen übergehen dabei keineswegs die bis heute feststellbaren definitorischen Schwierigkeiten in der Konzeptionierung von „Behinderung“, und doch zeigen sie zugleich das Potenzial der Forschungsrichtung auf. Zum einen leiste sie einen Beitrag zur Historisierung von Auffassungen über Gesundheit und Krankheit, und zum anderen generiere sie Antworten auf die Frage danach, welche körperlichen und geistigen Fähigkeiten frühere Gesellschaften als Voraussetzung für ein gelingendes Leben ansahen. Diese Hypothesen erfahren in dem nachfolgenden Aufsatz von Cordula Nolte über Arbeits( un)fähigkeit und Teilhabe in Alltagswelten des 15. und 16. Jahrhunderts eine erste historisch begründete Konkretisierung. Ausgehend von der Überlegung, dass in vormodernen Gesellschaften Teilhabe wesentlich durch Arbeit erlangt wurde, zeigt Nolte überzeugend auf, dass Behinderungen in früheren Jahrhunderten nur jeweils spezifisch auf einzelne Arbeitsbelastungen bezogen wurden, nicht aber auf die Gesamtperson. Ein direkter Kausalnexus von disability und sozialem Abstieg – wie ihn die ältere Forschung postuliere – bestehe dagegen nicht. Auch Patrick Schmidt weist in seinem Aufsatz zur „Invalidenversorgung in der Frühen Neuzeit“ auf bedeutsame Kontinuitätslinien hin. So habe sich schon der frühmoderne Staat um die sozioökonomische Reintegration beeinträchtigter Menschen intensiv bemüht; gleichzeitig erkennt er bereits auf dieser Entwicklungsstufe die Anfänge zur Medikalisierung von Behinderungen.
Die zwei abschließenden Aufsätze dieses Themenheftes gehen Fragen der Disability-Geschichte in der ost- und westdeutschen Geschichte auf den Grund. So arbeitet die Untersuchung von Bertold Scharf, Sebastian Schlund und Jan Stoll heraus, dass in der DDR trotz begrifflicher Differenzierungen zahlreiche Mechanismen zur Segregation von behinderten Menschen führten und letztlich ideologische Vorbehalte den Aufbau von integrativen Einrichtungen im Weg standen. Des Weiteren dokumentiert Britta-Marie Schenk die problematischen Kontinuitäten einer invasiven Eugenik in der Bundesrepublik, die insbesondere bei behinderten Frauen und Mädchen zu seriellen Sterilisationen führten. Zuletzt diskutiert sie den Einfluss der Neuen Sozialen Protestbewegungen auf veränderte Einstellungen gegenüber Behinderungen und verdeutlicht darüber, wie die veränderten Bilder von behinderten Menschen als kritikfähigen Individuen deren Ansprüche auf Selbstbehauptung steigerten.
Insgesamt dokumentieren die Beiträge die Notwendigkeit, die Ungleichheitskategorie Behinderung in Zukunft stärker mit anderen Differenzkriterien zu korrelieren. Weiterhin zeigen sie eindrucksvoll auf, dass Behinderungen im Kern sozial und kulturell bedingte Phänomene darstellen und damit historischem Wandel unterliegen.
Von Christoph Cornelißen
INHALT
Abstracts (S. 2)
Editorial (S. 4)
Beiträge
Gabriele LingelbachDer Stand der Forschung zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen in Deutschland (S. 5)
Cordula NolteArbeits(un)fähigkeit und Teilhabe in Alltagswelten des 15. und 16. Jahrhunderts Erkundungen im Feld einer Dis/ability History der Vormoderne (S. 22)
Patrick SchmidtKriegsinvaliden und Invalidenversorgung in der Frühen Neuzeit Erkenntnispotenziale für die Disability History(S. 37)
Bertold Scharf/Sebastian Schlund/Jan StollSegregation oder Integration? Gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der DDR (S. 52)
Britta-Marie SchenkSelbstbestimmte Fortpflanzung? Behinderung und Geschlecht in der Bundesrepublik (S. 72)
Informationen Neue Medien
Alessandra Sorbello StaubNormalität und ihre Abweichungen Quellen zur Disability History (S. 88)
Literaturbericht
Dirk SchumannDie Weimarer Republik, Teil I (S. 91)
Nachrichten (S. 109)
Autorinnen und Autoren (S. 120)
ABSTRACTS
Gabriele LingelbachDer Stand der Forschung zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen in Deutschland GWU 70, 2019, H. 1/2, S. 1 – 21 Die Geschichte von Menschen mit Behinderungen wird in der deutschsprachigen Forschung erst seit Kurzem intensiver untersucht. Das Forschungsfeld steht in engem Zusammenhang mit den interdisziplinären Disability Studies, in denen intensive Debatten in Bezug auf die Konzeptionierung und Definition von ‚Behinderung‘ geführt werden. Auch in der Disability History wird der Untersuchungsgegenstand ‚Behinderung‘ sehr unterschiedlich gefasst, zudem entstanden teilweise konträre Narrative in Bezug auf die langfristige Entwicklung des gesellschaftlichen Umgangs mit Menschen mit Behinderungen und die Handlungsspielräume der Betroffenen.
Cordula NolteArbeits(un)fähigkeit und Teilhabe in Alltagswelten des 15. und 16. Jahrhunderts Erkundungen im Feld einer Dis/ability History der Vormoderne GWU 70, 2019, H. 1/2, S. 22 – 36 Die auf das Mittelalter und die Frühneuzeit ausgerichtete Dis/ability History bedarf bedarf spezifischer Zugangsweisen, die knapp skizziert werden. Ausgehend von der Feststellung, dass in vormodernen Gesellschaften Teilhabe wesentlich durch Arbeit erlangt wurde, wird dann auf der Basis ausgewählter Quellen erhoben, wie sich die Zuschreibung und Erfahrung körperlicher Fähigkeiten und funktionaler Beeinträchtigungen im Arbeits- und Alltagsleben auswirkten. Dabei werden Menschen von unterschiedlichem sozio-ökonomischen Status (Fernhandelskaufleute, zünftig organisierte Handwerker sowie Frauen und Männer aus der „Masse“ der Bevölkerung) vergleichend ins Auge gefasst.
Patrick SchmidtKriegsinvaliden und Invalidenversorgung in der Frühzen Neuzeit Erkenntnispotenziale für die Disability History GWU 70, 2019, H. 1/2, S. 37 – 51 Dieser Aufsatz will die historische Forschung dazu ermuntern, sich intensiver als bisher mit der Lage invalider Soldaten in der Frühen Neuzeit zu beschäftigen, und zwar in der Perspektive der Disability History. Passt diese Thematik ohnehin gut zu einer kultur- und sozialgeschichtlich inspirierten ‚neuen‘ Militärgeschichte, so verspricht es besonderen Erkenntnisgewinn, sich ihr unter Einbeziehung der Kategorie „Behinderung“ zu nähern. Die Kriegsinvalidenversorgung war ein Feld, in dem sich zum ersten früh beobachten lässt, wie körperliche Beeinträchtigungen bewertet und Arbeits(un) fähigkeit definiert wurde. Zum zweiten lässt sich hier nachvollziehen, wie sich frühmoderne Staaten um die sozioökonomische Reintegration beeinträchtigter Menschen bemühten. Zum dritten war dies ein Feld, in dem Behinderung früh medikalisiert wurde. Der Aufsatz schließt mit einigen Beispielen dafür, wie sich die Wahrnehmung invalider Soldaten aus zeitgenössischen Periodika rekonstruieren lässt.
Bertold Scharf/Sebastian Schlund/Jan StollSegregation oder Integration? Gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der DDR GWU 70, 2019, H. 1/2, S. 52 – 70 In diesem Aufsatz werden die Mechanismen von Segregation und Integration, die behinderte Menschen in der DDR betrafen, anhand dreier Bereiche dargestellt: Arbeit, Sport und Interessensvertretung. Es wird ausgelotet, über welche Möglichkeiten zur Teilhabe behinderte Personen verfügten, aber auch, mit welchen Hindernissen sie konfrontiert waren. Welche Arbeit behinderte Menschen ausübten und welche Möglichkeiten sie hatten, Sport zu treiben, hing stark davon ab, welche ‚Art‘ der Behinderung ihnen zugeschrieben wurde. Inwiefern das Ausmaß der Selbstbestimmung behinderter Menschen über Wandel und Beharrung ihrer Lebenslagen mitentschied, soll am Ende des Beitrags beantwortet werden.
Britta-Marie SchenkSelbstbestimmte Fortpflanzung? Behinderung und Geschlecht in der Bundesrepublik GWU 70, 2019, H. 1/2, S. 71 – 87 Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Frage nach einer selbstbestimmten Fortpflanzung für Menschen mit Behinderungen in der Bundesrepublik. Dieser Frage wird am Beispiel der Sterilisationspraxis für Frauen und Mädchen mit geistigen Behinderungen sowie des Konflikts zwischen Frauen- und Behindertenbewegung nachgegangen. Dafür werden die Wechselwirkungen zwischen den Kategorien Geschlecht und Behinderung herausgearbeitet. Der Wandel in den Behinderungs- und Geschlechterbildern sowie kollidierende Selbstbestimmungsansprüche und Fremdadvokationen lassen sich – so die These – mit gesamtgesellschaftlichen Liberalisierungsprozessen erklären.