Editorial von Christoph Cornelißen
Obwohl die modernen Massenmedien den Alltag der Menschen heute immer stärker bestimmen, hat die Geschichtswissenschaft sich ihnen gegenüber erst spät geöffnet. Zwar haben die technischen Neuerungen auf diesem Gebiet und ihre rasche Ausbreitung im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, aber die den Medienkonsum einrahmenden sozialen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen blieben hierbei meist ausgespart. Oft wurde die gewachsene Bedeutung der Massenmedien für den Vollzug von Alltagsroutinen und auch als Mittel zur Information oder Unterhaltung eher postuliert als erforscht.
Inzwischen aber hat sich die Lage erheblich gewandelt. So arbeiten neuere Überblicksdarstellungen die Übergänge der verschiedenen Medienzeitalter deutlich heraus, während thematisch und epochal stärker spezialisierte Studien die sozialen und kulturellen Gebrauchsformen der Medien und des Medienkonsums in den Mittelpunkt gerückt haben. Ein erheblicher qualitativer Sprung der neueren Mediengeschichte gründet darin, dass sie sich von ihrer technikbasierten und eher fortschrittsorientierten Ausgangslage abzusetzen verstand und viel mehr als früher den sozialen, kulturellen oder auch geschlechterspezifischen Aneignungsformen moderner Medien ihre Aufmerksamkeit schenkt. Darüber hinaus richtet sich der analytische Fokus der neueren Forschung auf die komplexen Verflechtungen zwischen Massenmedien und der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft, aber auch auf das überaus vielschichtige Beziehungsgeflecht zwischen Regierungen und Medien.
Vor diesem Hintergrund plädiert Frank Bösch dafür, die neuere Mediengeschichte insgesamt stärker transnational auszurichten. Welche Potenziale sich damit verbinden, zeigt er zunächst in einem Vergleich der Medienpolitik der NS-Regimes mit der faschistischen Regierung unter der Führung Mussolinis auf, um sodann auf die außenpolitische Instrumentalisierung der Medien einzugehen. In einem dritten Teil bettet er die Mediengeschichte im Nationalsozialismus in eine weite Sicht auf die Moderne ein, welche ausgewählte mediale Entwicklungen über die politischen Systemgrenzen hinweg sichtbar macht. Im Gegensatz zu Bösch konzentriert sich Corey Ross allein auf das deutsche Beispiel in den Weimarer Jahren. Hierüber vermag er aufzuzeigen, dass in diesen Jahren die neuen Medien, also insbesondere das Radio und der Kinofilm, zu einem integralen Bestandteil des gesellschaftlichen Gefüges aufstiegen. Genau diese Einbettung in das soziale Leben führte jedoch gleichzeitig dazu, dass sie vom gesellschaftlichen Kontext ebenso stark geprägt wurden, wie dies umgekehrt der Fall war. Die folgenden beiden Beiträge bieten eindrucksvolle Analysen ausgewählter Fernsehspielreihen. So zeigt Nora Helmli am Beispiel der DDR-Fernsehkriminalreihe "Blaulicht" auf, dass wichtige gesellschaftspolitische Themen nicht nur im westlichen "Tatort", sondern auch in Ostdeutschland zum Gegenstand eines populären Unterhaltungsformats auserkoren wurden. Christina von Hodenberg wiederum geht in ihrem Beitrag auf die Serie "Ein Herz und eine Seele" ein, die in den 1970er Jahren spektakuläre Zuschauererfolge feierte. Ihre Abhandlung demonstriert nachdrücklich, wie sehr die westdeutsche Sitcom als ein Beschleuniger des kulturellen Wandels während der 1970er Jahre wirkte. Der abschließende Beitrag von Benjamin Städter berichtet über eine Unterrichtseinheit zum Thema Nationalsozialismus, die in Verbindung mit einer Analyse eines zeitgenössischen Films die Schülerinnen und Schüler über die Propagandatechniken des NS-Regimes aufklären und allgemein ihren kritischen Umgang mit Medien fördern sollte.
INHALT DER GWU 9-10/2011
ABSTRACTS (S. 514)
EDITORIAL(S. 516)
BEITRÄGE
Frank Bösch Medien im Nationalsozialismus. Transnationale Perspektiven (S. 517)
Corey Ross Zwischen geteilter Kultur und zerteilter Gesellschaft. Zur Sozialgeschichte der "neuen Medien" in der Weimarer Republik (S. 530)
Nora Helmli Die Bedrohung der Kernfamilie in der DDR-Fernsehkriminalreihe Blaulicht. Eine Historische Filmanalyse (S. 546)
Christina von Hodenberg Ekel Alfred und die Kulturrevolution. Unterhaltungsfernsehen als Sprachrohr der "68er"-Bewegung? (S. 557)
Benjamin Städter Die Geschichte des Nationalsozialismus als Geschichte ihrer Medien (S. 573)
DISKUSSION
Eugen Kotte Geschichtsdidaktik als historische Kulturwissenschaft (S. 584)
BAUSTEIN FÜR DIE UNTERRICHTSPRAXIS
Joachim Rohlfes Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen (1844) (S. 593)
LITERATURBERICHT
Axel Schildt Deutschland seit 1945 (S. 610)
NACHRICHTEN (S. 636)
AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 640)
ABSTRACTS DER GWU 9-10/2011
Frank BöschMedien im Nationalsozialismus: transnationale Perspektiven GWU 62, 2011, H. 9/10, S. 517–529
Der Artikel plädiert dafür, sowohl den Nationalsozialismus als auch die Mediengeschichte stärker transnational zu untersuchen. Dabei zeigt er exemplarisch drei Zugangsweisen für transnationale medienhistorische Arbeiten auf: Er fragt erstens nach möglichen Vorbildern und Interaktionen bei der Ausgestaltung der NS-Medienpolitik und betrachtet dabei besonders Bezüge zum faschistischen Italien. Zweitens analysiert er die direkte grenzübergreifende mediale Kommunikation, die als Teil der Außenpolitik zu verstehen ist. Drittens bettet er die Medien im Nationalsozialismus in Entwicklungslinien der Moderne ein.
Corey RossZwischen geteilter Kultur und zerteilter Gesellschaft. Zur Sozialgeschichte der "neuen Medien" in der Weimarer Republik GWU 62, 2011, H. 9/10, S. 530-545
Dieser Beitrag thematisiert die widersprüchliche Sozialgeschichte der 'neuen Medien' Kino und Rundfunk in der Weimarer Republik – einerseits als vermeintliche Förderer einer 'massenkulturellen' Nivillierung traditioneller Milieuschranken, aber andererseits als Spiegel der gewaltigen sozialen Gegensätze einer zutiefst zerklüfteten Gesellschaft. Er argumentiert, dass die neuen Medien der Zwischenkriegszeit das Publikum sowohl einigen wie auch trennen konnten je nach Art der Produktion und Aneignung, und betont dabei die Unterschiede von einem Medium zum anderen sowie auch die Veränderungen im Laufe der Zeit, die besonders deutlich waren während der Weimarer Ära.
Nora HelmliDie Bedrohung der Kernfamilie in der DDR-Fernsehkriminalreihe Blaulicht. Eine Historische Filmanalyse GWU 62, 2011, H. 9/10, S. 546–556
Die Bedrohung der Familie wurde in den 1960er Jahren nicht nur in politischen Debatten verhandelt, sondern auch in populärkulturellen Unterhaltungsformaten. Für das visuelle 20. Jahrhundert gilt es daher, solche Formate ebenfalls als Quellen für eine Mentalitäten- und Gesellschaftsgeschichte heranzuziehen. Welchen Bedrohungen die Kernfamilie in der DDR ausgesetzt war, inszeniert die DDR-Fernsehkriminalreihe Blaulicht u. a. in der Folge "In vierundzwanzig Stunden" (1963). Da die Quelle Film aufgrund ihrer Mehrdimensionalität aus Bild, Ton und Montage einen veränderten quellenkritischen Zugang erfordert, wird anhand dieser Folge ebenfalls die Historische Filmanalyse als Methode vorgestellt.
Christina von HodenbergEkel Alfred und die Kulturrevolution. Unterhaltungsfernsehen als Sprachrohr der "68er"-Bewegung? GWU 62, 2011, H. 9/10, S. 557–572
'Ekel Alfred', die Hauptfigur der Fernsehserie Ein Herz und eine Seele, feierte in Westdeutschland der Jahre 1973 bis 1976 spektakuläre Publikumserfolge. Die um den rassistischen Spießer kreisende Sitcom wurde durch ihre außerordentliche Breitenwirkung zum Begleiter und Beschleuniger der kulturellen Revolution der 1970er Jahre. Der Beitrag zeichnet die Verbindung zwischen Produktionsteam und "68er"-Bewegung und die Wirkung von Alfreds Botschaften auf die Zuschauer nach. Dabei zeigt sich eine grundlegende Spaltung der westdeutschen Variante der Kulturrevolution in Neue Linke und Lebensstilrebellen.
Benjamin StädterDie Geschichte des Nationalsozialismus als Geschichte ihrer Medien GWU 62, 2011, H. 9/10, S. 573–583
Spielfilme haben sich im Geschichtsunterricht als anerkanntes Medium bewährt. Ein medienhistorischer Zugang verspricht den Blick der Schülerinnen und Schüler auf die Filme als spezifische Quellengattung zu schärfen und grundlegende Kompetenzen für den Umgang mit audiovisuellen Medien zu schulen. Innerhalb einer Unterrichtseinheit zum Thema Nationalsozialismus bietet die Thematisierung des Spielfilms "Die große Liebe" die Möglichkeit, Inszenierungsmuster der NS-Propaganda kennen zu lernen und wesentliche Unterschiede zwischen zeitgenössischer und retrospektiver Wirkung historischer Filme zu erarbeiten.