Editorial von Winfried Schulze
"Lateinamerikanische Geschichte boomt." So beginnt Ulrich Mücke, dem wir auch - mit Ausnahme des Beitrags von Felix Hinz - die Zusammenstellung dieses Heftes verdanken, seinen Literaturbericht über die Neuerscheinungen zur lateinamerikanischen Geschichte der letzten drei Jahre. Dementsprechend soll dieses Heft die Grundlinien der neueren Beschäftigung mit Lateinamerika dokumentieren und einem breiteren Interessentenkreis in Wissenschaft und Schule vermitteln. Man wird kaum um die Feststellung herum kommen, dass Lateinamerika im allgemeinen historischen Bewusstsein bislang eher eine marginale Rolle spielte. Die Modi der Wahrnehmung dieses Erdteils sind begrenzt und konzentrieren sich meistens auf Szenen der Entdeckungsgeschichte, der Befreiungskriege oder bestimmte Teilaspekte wie etwa die mexikanische Revolution im 20. Jahrhundert oder die Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten.
Umso erfreulicher ist deshalb der Tatbestand, dass sich diese reduzierte Wahrnehmung offensichtlich zu ändern beginnt. Der Hintergrund dafür ist das zunehmende Interesse am Prozess der Globalisierung und die damit verbundene Erkenntnis, dass auch die Geschichtswissenschaft auf diese neue Perspektive reagieren muss und sich von dem zentralen Thema ihrer bisherigen Beschäftigung, dem europäischen Nationalstaat, verabschieden muss, um den Blick auf die neue Dimensionierung der Welt zu richten. Die jüngsten Erfahrungen der globalen ökonomischen Krise haben die Dringlichkeit der neuen Perspektive noch einmal vor Augen geführt. In diesem Kontext sind vor allen Dingen die beiden ersten Beiträge dieses Heftes von Interesse, die die neue politische Kultur Lateinamerikas im 19. Jahrhundert in den Blick nehmen. Diese Perspektive ist deshalb bedeutsam, weil sich hier eine neue Wahrnehmung ergeben kann, die stärker auf die Entstehung einer genuinen politischen Kultur Lateinamerikas ausgerichtet ist als auf die oft chaotische Geschichte von Diktaturen und Staatsstreichen, die bislang unser Bild Lateinamerikas in der Öffentlichkeit bestimmt. Gemeinsam ist den Beiträgen von Ulrich Mücke und von Christian Büschges, dass sie die zentralen Begriffe der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts auf die lateinamerikanische Entwicklung anwenden und damit dokumentieren, dass die historische Entwicklung in diesen Ländern als ein spezifischer Prozess wahrgenommen werden muss und damit auch erst seine angemessene Würdigung erfahren kann. Faszinierend ist dabei die Erfahrung, dass die Anwendung der Konzepte von politischer Kultur, Wahlen oder Zivilgesellschaft eine neue Sichtweise auf die lateinamerikanische Staaten ermöglicht, die die oftmals eingefahrenen Bewertungsschemata vergessen lässt. In jedem Fall muss man die Beiträge auch als ein Plädoyer für eine jeweils spezifische Wahrnehmung der einzelnen Ländergeschichten lesen, die vor einer vorschnellen Verallgemeinerung bewahren kann.
Diese beiden Aufsätze werden ergänzt durch einen Beitrag von Christoph Parnreiter über die Bevölkerungsentwicklung Mexico Citys im 20. Jahrhundert. Wer jemals diese Stadt von beinahe 20 Millionen Einwohnern besucht hat, wird die zentrale Bedeutung der These von der Verstädterung Lateinamerikas nachvollziehen können, die dem Beitrag zu Grunde liegt. Natürlich verdankt sich die zentrale Bedeutung Mexico Citys der starken Industrialisierung, die zugleich aber auch der Grund dafür ist, dass sich in den letzten Jahrzehnten das Schwergewicht der städtischen Agglomerationen in Mexiko in die nördlichen Landesteile verlagert hat.
Der Beitrag von Michael Hinz kehrt zum Problem der Indianerfrage in der Frühen Neuzeit am Beispiel der Azteken zurück. Er stellt die Bedeutung der Diskussion um den Status der Indianer in der Mitte des 16. Jahrhunderts als Exempel für das Thema Menschenrechte heraus und bietet interessante Quellen für deren Behandlung im Unterricht an. Das Heft wird abgerundet durch nützliche Hinweise auf online verfügbare Quellen zur Geschichte Lateinamerikas und den erwähnten Literaturbericht.
Inhalt der Ausgabe:
ABSTRACTS (S. 682)
EDITORIAL (S. 683)
BEITRÄGEUlrich Mücke Die politische Kultur Lateinamerikas im 19. Jahrhundert (S. 684)
Christian Büschges Von Staatsbürgern und "Bürgern eigenen Sinnes" Liberale Republiken, indigene Gemeinden und Nationalstaat im südamerikanischen Andenraum während des 19. Jahrhunderts (S. 697)
Christof Parnreiter Von der urbanen Zukunftsverheißung zum Moloch? Die Entwicklung von Mexico City im 20. Jahrhundert (S. 711)
Felix Hinz Die ,Indianerfrage´ in der Frühen Neuzeit am Beispiel der Mexica (Azteken) Interkulturelle Erziehung im Geschichts- unterricht der 11. Jahrgangsstufe (S. 721)
INFORMATIONEN NEUE MEDIENGregor Horstkemper/Alessandra Sorbello Staub Neben Tango und Inkagold Online-Angebote zur Kultur und Geschichte Lateinamerikas (S. 737)
LITERATURBERICHTUlrich Mücke Lateinamerika (S. 739)
NACHRICHTEN (S. 752)
REGISTER DES JAHRGANGS 59, 2008 (S. 757)
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Abstracts:
Ulrich MückeDie politische Kultur Lateinamerikas im 19. JahrhundertGWU 59, 2008, H. 12, S. 684-696 Die politische Geschichte Lateinamerikas ist lange Zeit als eine chaotische Folge von Diktaturen und Staatsstreichen beschrieben worden. In den letzten Jahrzehnten hat sich allerdings ein bedeutender Wandel insbesondere bei der Betrachtung des 19. Jahrhunderts ergeben. Wahlen, Zivilgesellschaft, Presse und Gesetze werden nun von der Historiographie ernst genommen, und man versucht zu verstehen, wie sich politisches Handeln in Lateinamerika nach der Unabhängigkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts veränderte. Der Beitrag skizziert die historiographische Revision der letzten Jahre und erläutert sie anhand dreier Beispiele: der Unabhängigkeit selbst, der Wahlen und der Zivilgesellschaft.
Christian BüschgesVon Staatsbürgern und "Bürgern eigenen Sinnes"Liberale Republiken, indigene Gemeinden und Nationalstaat im südamerikanischen Andenraum während des 19. Jahrhunderts GWU 59, 2008, H. 12, S. 697-710 Infolge der Unabhängigkeitsbewegung Lateinamerikas im frühen 19. Jahrhundert entstanden im Andenraum die drei Republiken Ecuador, Peru und Bolivien. Der Beitrag untersucht einerseits die Umsetzung des von den Vertretern der kreolisch-mestizischen Mehrheitsgesellschaft aus Europa übertragenen Modells des Nationalstaats, andererseits die von der indigen Bevölkerung entwickelten Vorstellungen und Strategien politischer Partizipation, die verschiedenen Formen der Ablehnung, Übernahme und Umdeutung der nationalstaatlichen Ordnung aufweisen.
Christof ParnreiterVon der urbanen Zukunftsverheißung zum Moloch? Die Entwicklung von Mexico City im 20. Jahrhundert GWU 59, 2008, H. 12, S. 711-720 Seit den 1930 Jahren waren Städte der Motor wirtschaftlicher, sozialer, politischer und kultureller Entwicklung in Lateinamerika. In den 1980er Jahren vollzog sich allerdings ein Bruch, wie am Beispiel von Mexico City gezeigt wird. Mit dem Ende der binnenmarktorientierten Industrialisierung und der stärkeren Globalisierung ändert sich die ökonomische Basis von Mexico City - die Stadt übernimmt zunehmend Global City Funktionen. Auch die Migrationsmuster wandeln sich - Mexico City ist zu einem Abwanderungsgebiet geworden. Schließlich ist es zu einer Verstädterung der Armut gekommen - die Stadt ist heute kein Entwicklungsversprechen mehr.
Felix HinzDie ,Indianerfrage´ in der Frühen Neuzeit am Beispiel der Mexica (Azteken)Interkulturelle Erziehung im Geschichts- unterricht der 11. Jahrgangsstufe GWU 59, 2008, H. 12, S. 721-736 "Sind Indianer Menschen?" - Diese Frage wurde im Spanien des 16. Jahrhunderts ernsthaft diskutiert. Doch heute sind für viele Schülerinnen und Schüler allgemein gültige Menschenrechte eine Selbstverständlichkeit. Dass diese Gewissheit trügerisch ist und Menschenrechte stark an politische Machtfragen gekoppelt sind, soll Gegenstand der hier skizzierten Unterrichtsreihe sein. Die außerordentlich günstige Quellenlage zur ,Indianerfrage‘ bietet sehr gute Möglichkeiten, historisch-kritisches Denken wie auch interkulturelle Kompetenzen zu schulen.