Editorial von Michael Sauer
Geschichte hat Konjunktur in der Öffentlichkeit. Unterschiedlichste Formate der Vermittlung und Präsentation werden von einem breiten Publikum rezipiert: Spielfilme, Dokumentationen, Romane, Sachbücher, Ausstellungen, Computerspiele. Und Debatten über historische Fragen - ein Denkmal für Vertriebene? - finden größte Anteilnahme. Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik haben sich bislang bei der öffentlichen Vermittlung von Geschichte nur sehr zurückhaltend engagiert. Für die Geschichtswissenschaft stehen ihre spezielleren Forschungsfragen im Mittelpunkt des Interesses. Die Geschichtsdidaktik versteht sich zwar als Vermittlungswissenschaft, und sie hat unter den Leitbegriffen "Geschichtsbewusstsein" und "Geschichtskultur" schon seit Längerem ihre Zuständigkeit auch für die außerschulische Präsentation und Rezeption von Geschichte reklamiert. Praktisch umgesetzt worden ist davon jedoch bislang eher wenig. Dementsprechend hat öffentliche Geschichtsvermittlung auch in den Curricula der Studiengänge lange Zeit kaum eine Rolle gespielt.
Dies beginnt sich seit einigen Jahren zu ändern. Dazu hat die allgemeine Konjunktur von Geschichte in der Öffentlichkeit, gewiss aber auch der Boom der "Erinnerungsgeschichte" beigetragen. In doppelter Weise ist die "öffentliche Geschichte" bei der Konzeption des Studiums stärker in den Blick geraten: zum einen als Untersuchungsgegenstand, zum anderen aber auch als potenzielles Berufsfeld für Absolventen. In den USA hat sich die Public-History-Bewegung schon seit den Siebzigerjahren für jene Berufsfelder stark gemacht, die außerhalb der klassischen Forschungs- und Lehrinstitutionen liegen - die so genannten Non-Teaching-Carreers (vgl. dazu die Rubrik "Informationen Neue Medien" in diesem Heft). In Deutschland sind nach und nach entsprechende Elemente ins Geschichtsstudium eingedrungen, und der Trend in diese Richtung wird sich sicherlich noch verstärken. Dabei werden in der Regel und sinnvoller Weise Spezialisten für die Lehre herangezogen, die in den jeweiligen Vermittlungsfeldern - von der Publikumszeitschrift bis zur Gedenkstättenpädagogik - arbeiten und mit den spezifischen Rahmenbedingungen, Intentionen, Konzepten und Techniken ihrer "Formate" vertraut sind. Spezielle Studiengänge mit einer Ausrichtung auf "Public History" sind freilich (noch) eine Seltenheit. Zwei von ihnen, nämlich Zürich (Bernd Roeck) und Gießen (Frank Bösch), werden in diesem Heft vorgestellt; ein dritter ist in diesem Wintersemester an der FU Berlin gestartet.
Fragt man Studierende des Faches (außerhalb des Lehramts) nach ihren Berufswünschen, so werden Museen und Verlage an erster Stelle genannt. Freilich gibt es in diesen Bereichen nicht allzu viele feste Stellen zu besetzen; die Berufschancen sind nicht besser als bei einer akademischen Karriere. Das hat dazu geführt, dass viele Absolventen eines Geschichtsstudiums schließlich in Berufsfeldern tätig werden (müssen), in denen sie nicht fachspezifisch arbeiten. Dem Versuch, durch eigene Initiative einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden, verdankt sich die Zunahme von Geschichtsagenturen, die in den letzten Jahren zu beobachten ist. Hier bietet sich die Möglichkeit einer fachspezifischen Arbeit, bei der man freilich sehr flexibel jene historischen Dienstleistungen anbieten muss, die auf dem Markt gefragt sind: Das Spektrum reicht von der Familiengeschichte bis zur wissenschaftlichen Begleitung eines geschichtlichen Fernsehquiz’. Über die Aufgaben, Arbeitsbedingungen und notwendigen Kompetenzen in diesem Berufsfeld informiert der Beitrag von Florian Neumann. Ein einprägsames Beispiel für touristisch erfahrbare Erinnerungsgeschichte im öffentlichen Raum bietet schließlich der Beitrag von Bernd Mütter. Am Beispiel der deutsch-polnischen Erinnerungsorte Danzig, Marienburg, Grunwald/Tannenberg und Wolfsschanze zeigt er, wie unterschiedlich eine solche Beziehungsgeschichte deutend vergegenwärtigt werden kann.
Inhalt der Ausgabe
ABSTRACTS (S. 74)
EDITORIAL (S. 75)
BEITRÄGEBernd Roeck "Applied History" - "Angewandte Geschichte" Ein Weiterbildungsstudiengang der Universität Zürich (S. 76)
Frank Bösch Medien und Geschichte: Ein Gießener Studien- und Forschungsschwerpunkt (S. 83)
Florian Neumann Geschichtsagenturen (S. 90)
Bernd Mütter Erinnerungsorte in Nordpolen heute: Danzig - Marienburg - Tannenberg - Wolfschanze (S. 99)
INFORMATIONEN NEUE MEDIENGregor Horstkemper/Alessandra Sorbello Staub Public history - histoire publique - Geschichtskultur Ein Thema mit vielen Variationen (S. 116)
LITERATURBERICHTJoachim Rohlfes Geschichtsdidaktik - Geschichtsunterricht, Teil III (S. 118)
NACHRICHTEN (S. 133)
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Abstracts
Bernd Roeck"Applied History" - "Angewandte Geschichte"Ein Weiterbildungsstudiengang der Universität Zürich GWU 60, 2009, H. 2, S. 76-82
Der Beitrag stellt einen als Master- oder Diplomkurs an der Universität Zürich absolvierbaren Weiterbildungsstudiengang in "Applied History" vor. Das Angebot wendet sich an Interessierte unterschiedlicher Berufsfelder (Schule, Journalismus, Wirtschaft z.B.) mit Hochschulabschluss. Ziel ist es, erstens die strategischen Potenziale der historischen Methode - Quellenkritik, Komplexitätsreduktion - zu erschließen, zum anderen ein vertieftes Verständnis aktueller Probleme der Gegenwart zu vermitteln. Auch wird die praktische Nutzbarkeit der Ressource "Geschichte" thematisiert. Der "Faculty" gehören namhafte Historikerinnen und Historiker, aber auch Dozierende anderer Fächer und Praktiker aus unterschiedlichen Berufsfeldern an.
Frank BöschMedien und Geschichte: Ein Gießener Studien- und Forschungsschwerpunkt GWU 60, 2009, H. 2, S. 83-89 Die Geschichtswissenschaft ist in den letzten Jahren verstärkt für die Rolle von Medien sensibilisiert worden. Sowohl die historische Prägekraft von Medien als auch die Geschichtsdarstellung in Medien fanden dabei eine zunehmende Aufmerksamkeit. Gezeigt wird insbesondere am Beispiel der Universität Gießen, wie die Geschichtswissenschaft hierauf reagierte: sei es mit neuen Studienschwerpunkten, die stärker die Analyse medialer Strukturen mit der historischen Ausbildung verbinden, sei es mit Forschungsschwerpunkten, die die historische Bedeutung von Medien systematischer berücksichtigen.
Florian NeumannGeschichtsagenturenGWU 60, 2009, H. 2, S. 90-98 Absolventen historischer Studiengänge, die studienfachnah arbeiten wollen, müssen flexibel sein. Viele von ihnen machen sich selbstständig. In Deutschland sind auf diese Weise Agenturen entstanden, die Dienstleistungen rund um die Geschichte anbieten. Sie erbringen Dienste im Rahmen von Archiven, für Museen und Medien, erarbeiten Jubiläumspublikationen, konzipieren historische Ausstellungen, übernehmen fachredaktionelle Arbeiten oder produzieren Sachbücher respektive Filme. Diese Tätigkeiten setzen bei den Historikern und Historikern eine im Fachstudium bisher nicht vermittelte Vielfalt von Kompetenzen voraus.
Bernd MütterErinnerungsorte in Nordpolen heute: Danzig - Marienburg - Tannenberg - Wolfschanze GWU 60, 2009, H. 2, S. 99-115 Die Gestaltung historischer Erinnerung im heutigen - ehemals deutschen - Nordpolen kommt auf dem Hintergrund sowohl der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert als auch der ökonomischen Anpassungsprobleme Polens im Zuge der europäischen Integration eine erhebliche Bedeutung zu. Vor Ort lassen sich drei Erinnerungstypen ausmachen: in Danzig und Marienburg eine historischdifferenzierende Gestaltung, in Grunwald/Tannenberg und an der Stelle des ehemaligen Denkmals bei Olsztynek/Hohenstein eine nationalistische Konfliktfokussierung; schließlich im "Führerhauptquartier Wolfsschanze" bei Rastenburg und auf dem Gelände der ehemaligen Leninwerft in Danzig ein den nationalen Gegensatz übergreifendes Bekenntnis zu Menschenrechten und Demokratie, das aus der Erfahrung von totalitärer Diktatur und Vernichtungskrieg hervorgegangen ist.