Editorial von Michael Sauer
Seit den 1970er Jahren hat sich Geschichte – zumindest dem Anspruch nach – vom „Auswendiglernfach“ zum „Denkfach“ entwickelt. Es geht um eine vertiefte analytische Beschäftigung mit bedeutsamen historischen Themen und Fragen, die Schülerinnen und Schülern die Verfahren historischer Erkenntnisgewinnung nahe bringt und sie zu eigener historischer Urteilsbildung befähigt. Durch die Kompetenzdebatte hat sich diese Akzentsetzung noch einmal verstärkt. Noch mehr als zuvor sind jetzt die fachspezifischen Denkweisen und Methoden in den Mittelpunkt des didaktischen Interesses getreten, die Schülerinnen und Schüler beherrschen sollen. Das herkömmliche, einstmals ausgeprägt kanonisierte Daten- und Faktenwissen hat im Zuge dieser Entwicklung einen immer geringeren Stellenwert erhalten.
Der traditionelle „chronologische Durchgang“ in der Sekundarstufe I ist im Laufe der Zeit immer bruchstückhafter geworden. Das ist zunächst einmal eine Konsequenz aus zwei gegenläufigen Entwicklungen: auf der einen Seite den allmählichen Stundenreduzierungen für das Fach, das längst nicht mehr durchgehend zweistündig unterrichtet wird; auf der anderen Seite einer kontinuierlichen Ausweitung des „Stoffes“, die sich teils der natürlichen Zunahme der Zeitgeschichte, teils der Berücksichtigung neuer Fragestellungen und „Aspekt“-Geschichten wie Alltags- oder Geschlechtergeschichte verdankt. Die Konsequenz daraus ist eine zunehmende thematische Inselbildung (diesen Begriff hat der Geschichtsmethodiker Hans Ebeling im Übrigen schon 1953 geprägt und bei dieser Gelegenheit mehr „Mut zur Lücke“ in der Chronologie gefordert). Dieser Trend ist insofern durchaus heilsam, als er Anlass gibt zur genaueren Reflexion über die Auswahl von Themen und deren Begründung. Freilich wird angesichts von Inselbildung und stärkerem Kompetenzbezug zugleich die Frage einer allgemeinen Orientierung in der Geschichte immer wichtiger. Schülerinnen und Schüler sollten gewissermaßen über eine mental map strukturierten und strukturierenden Geschichtswissens verfügen, die es ihnen ermöglicht, weiträumig Einordnungen vorzunehmen und Bezüge herzustellen.
Wie ein solches Orientierungswissen aussehen und entwickelt werden könne, damit befassen sich die Aufsätze dieses Heftes; es handelt sich um die überarbeiteten Beiträge einer Sektion des letztjährigen Historikertages. Fehlendes Orientierungswissen, so Martin Stupperich, sei der Grund für eine mangelnde Nachhaltigkeit historischen Lernens. Er schlägt vor, durch längsschnittartige Rückgriffe über längere Zeiträume hinweg inhaltliche Verknüpfungen herzustellen und weiter gefasste Reflexionshorizonte zu eröffnen. Die von ihm vorgeschlagenen und an Beispielen konkretisierten Aufgaben zielen auf die Durchführung von Vergleichen und die Wahrnehmung bzw. Herstellung von Perspektive, Veränderung, Fremderfahrung und Gegenwartsbezug. Arie Wilschut stellt – in Abgrenzung vom herkömmlichen Kanon-Begriff – das in den Niederlanden verwendete Modell eines historischen „Referenzrahmens“ vor: Schülerinnen und Schüler sollen grundlegende und verbindliche Kenntnisse über zehn definierte (und jeweils durch ein Emblem markierte) Epochen besitzen, die in drei Durchgängen vertieft werden. Die inhaltliche Konkretisierung bleibt Sache des jeweiligen Unterrichts. Susanne Popp schließlich plädiert ebenfalls für das Erlernen von bestimmten „Ankerdaten“. Entscheidend sei jedoch deren thematische, kategoriale oder begriffliche Vernetzung. Das setze geistige Operationen voraus, die zu einer Verbesserung der „Verarbeitungstiefe“ führten.
Allen drei Autoren warnen davor, eine Diskussion über Orientierungswissen durch eine Art Anti-Kanon-Reflex, wie er in der geschichtsdidaktischen Diskussion zuweilen zu beobachten ist, schon im Keim zu ersticken. Ein wohlverstandenes Orientierungswissen, so ihr übereinstimmendes Votum, nimmt gerade Geschichte als Denkfach ernst.
Inhalt der Ausgabe 11/09
ABSTRACTS (S. 610)
EDITORIAL (S. 611)
BEITRÄGE
Martin Stupperich Orientierung in der Geschichte – aber wie? (S. 612)
Arie Wilschut Ein Referenzrahmen für den Unterricht im Fach Geschichte (S. 629)
Susanne Popp Orientierungswissen und „nachhaltiges Lernen“ im Geschichtsunterricht. Überlegungen zu den Ergebnissen einer Befragung von Hochschullehrerinnen und -lehrern (S. 646)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Gregor Horstkemper/Alessandra Sorbello Staub Digitale Zeitleisten (S. 658)
LITERATURBERICHT
Wolfgang Schmale Europäische Geschichte, Teil III (S. 660)
NACHRICHTEN (S. 684)
Abstracts der Ausgabe 11/09
Martin StupperichOrientierung in der Geschichte – aber wie? GWU 60, 2009, H. 11, S. 612-628
Der Geschichtsunterricht der letzten Jahrzehnte hat ein allenthalben zu beobachtendes Problem erzeugt: Die Abwesenheit eines nachhaltig haftenden historischen Orientierungswissens auf Seiten der Schülerinnen und Schüler. Unterschiedliche Gründe für die Entstehung dieses Phänomens werden angeführt, dann werden bisherige Versuche und neue Ansätze zum Aufbau von Orientierungswissen dargestellt. Dabei geht es vor allem um epochenübergreifende historische Reflexion als Mittel der Vernetzung von Inhalten sowie des Erwerbs und der Festigung von Orientierungswissen.
Arie WilschutEin Referenzrahmen für den Unterricht im Fach Geschichte GWU 60, 2009, H. 11, S. 629-645
Im Geschichtsunterricht bemühen sich die Lehrer in der Regel um den Aufbau eines Orientierungswissens an historischen Daten und Fakten. Die Auswahl der Inhalte beruht entweder auf einem Kanon oder auf der Absicht einen Referenzrahmen zu schaffen. Zu einem Kanon gehört, was jedermann wissen sollte, um ein guter Angehöriger einer bestimmten Gesellschaft zu sein. Ein Referenzrahmen dagegen enthält das, was man wissen sollte, um zu historischem Denken fähig zu sein. Untersuchungen weisen aus, dass es Schülern weitgehend an einem historischen Referenzrahmen fehlt. In den Niederlanden ist ein Zehn-Epochen-System eingeführt worden, das in erster Linie ein Bild, eine Vorstellung schaffen soll, mit der Absicht die Orientierungsfähigkeit in der historischen Zeitdimension herbeizuführen.
Susanne PoppOrientierungswissen und „nachhaltiges Lernen“ im Geschichtsunterricht Überlegungen zu den Ergebnissen einer Befragung von Hochschullehrerinnen und -lehrern GWU 60, 2009, H. 11, S. 646-657
Ausgehend von der Konzeption des geschichtlichen Grundwissens im aktuellen niederländischen Spiralcurriculum erläutert der Beitrag die Resultate einer Interview-Erhebung zu den Erwartungen des „Abnehmers“ Hochschule an das geschichtliche Überblicks- und Orientierungswissen der Abiturienten. Daran schließen sich konzeptionelle Überlegungen zu den genuin fachspezifischen Herausforderungen beim Erwerb eines anschlussfähigen geschichtlichen Grundwissens im Unterricht an, die das Erfordernis unterstreichen, die begriffliche Verarbeitungstiefe durch Variation der klassifikatorischen Zugriffe zu steigern und die Lernenden zu einer gezielten Wissensstrukturierung und -organisation zu befähigen.