Editorial von Christoph Cornelißen
Obwohl der Sport keineswegs nur im Alltagsleben vieler Menschen, sondern ebenfalls in Politik, Wirtschaft und Kultur eine wichtige Rolle spielt, hat die deutsche Geschichtswissenschaft sich lange Zeit sehr schwer damit getan, den Kanon von Forschung und Lehre auf das entsprechende Terrain auszuweiten. Das gilt selbst für den Fußball, der immerhin seit mehr als einem Jahrhundert zu den wichtigsten, immer stärker auch medial stark beachteten Massenzuschauersportarten zählt. Daneben beansprucht er in Form des millionenfach aktiv praktizierten Amateurfußballs eine wichtige gesellschaftliche Bedeutung. Überdies ist der Sport als ein "Schauplatz der Gefühle" deswegen wichtig, weil er in der modernen Gesellschaft ein Forum bietet, um "emotionale Bedürfnisse ohne Rücksichtnahme auf andere Erwägungen öffentlich und doch gesellschaftlich toleriert auszuleben" (Norbert Elias).
Dass sich die neuerlich stark beachtete Emotionsforschung dem Sport zugewandt hat, kann daher kaum verwundern. Mit Sportgeschichte ist jedoch weit mehr gemeint. Denn mit den großen Massenzuschauersportarten verbinden sich schon seit mehr als einem Jahrhundert unzählige Varianten der sozialen Vergemeinschaftung. Neben den Erfahrungen von aktiven Spieler und Spielerinnen sämtlicher Spielklassen gründen sie in den Wahrnehmungen von Millionen Zuschauern auf den Fußballplätzen oder all derer, die als Konsumenten die Sportberichterstattung in der Presse, im Radio und im Fernsehen, mittlerweile auch im Internet, aufmerksam verfolgen. Sportliche Ereignisse sind mithin seit jeher ebenfalls Kommunikationsereignisse. Noch mehr, angesichts der wichtigen Rolle der Medien handelt es sich nicht selten um skandalträchtige Ereignisse. Weiterhin wirken Momente der lokalen, regionalen oder auch nationalen Identitätsbindung auf das Sportgeschehen ein, daneben die Interessen von Vereinen und nationalen wie internationalen Verbänden, sicher ebenso die der Politik.
In der Summe handelt es sich bei der Sportgeschichte um einen ausgesprochen vielgestaltigen Untersuchungsgegenstand, den Wolfram Pyta in seinem Einführungsbeitrag anhand ausgewählter Themenfelder näher umreißt. Er macht deutlich, wie sehr die moderne Sportgeschichte sich unter dem Einfluss der Sozial- und Kulturgeschichte neuen Fragen zugewandt hat, die sich nicht zuletzt der Wirkung des Sports auf gesellschaftliche und kulturelle Leitbilder widmen. Zu den wichtigsten Desiderata zählt Pyta eine "Kulturgeschichte der Leistung", daneben eine Geschichte der Fußballweltmeisterschaften. Dass der Fußball wiederum viel mit Politik zu tun hat, zeigt Dittmar Dahlmann in seinem Beitrag über das Länderspiel der Sowjetunion gegen die Bundesrepublik aus dem Jahr 1955. Bei diesem Anlass verbanden sich Sport, Sportpolitik und Sportjournalismus auf eine ausgesprochen prekäre Weise. Das hier diskutierte Beispiel ist zugleich symptomatisch für unzählige weitere sportliche Auseinandersetzungen zwischen den Blockparteien im Kalten Krieg. Frank Bajohr wiederum weitet in seinem Beitrag, in dessen Mittelpunkt das WM-Länderspiel Deutschland-Niederlande aus dem Jahr 1990 steht, den Blick auf die Rückwirkungen des Fußballs auf für nationale Selbst- und Fremdbilder. Indem er die nationalen, zuweilen sogar nationalistischen Projektionen der Fußballfans in den historisch-politischen Kontext seit Mitte der 1970er Jahre einbettet, kann er eindrucksvoll zeigen, wie eng sich erinnerungskulturelle Dimensionen mit den Emotionen auf dem Sportplatz verbanden, gleichzeitig darüber eine dauernde Wandlung erfuhren.
Inhalt der Ausgabe 7/8/10
ABSTRACTS (S. 386)
EDITORIAL (S. 387)
BEITRÄGE
Wolfram Pyta Geschichtswissenschaft und Sport – Fragestellungen und Perspektiven (S. 388)
Dittmar Dahlmann "Fußball ist nur Fußball." Das Fußballländerspiel Sowjetunion gegen die Bundesrepublik Deutschland am 21. August 1955 im Moskauer Dinamostadion (S. 402)
Frank Bajohr "Mof" versus "Kaaskopp." Der deutsch-niederländische Fußball-Nationalismus als Seismograph nationaler Selbst- und Fremdbilder (S. 419)
Daniel Eisenmenger Die vergessene Verfassung von Korsika 1755. Der gescheiterte Versuch einer modernen Nationsbildung (S. 430)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Gregor Horstkemper/Alessandra Sorbello Staub Spielen mit dem Ball: Anregungen für eine (Fuß)ballgeschichte im Web (S. 447)
LITERATURBERICHT
Stephan Jordan Geschichte und Theorie der Geschichtswissenschaft (S. 449)
NACHRICHTEN (S. 465)
Abstracts der Ausgabe 7/8/10
Wolfram PytaGeschichtswissenschaft und Sport – Fragestellungen und Perspektiven GWU 61, 2010, H. 7/8, S. 388–401
Die deutsche Geschichtswissenschaft entdeckt seit etwa zehn Jahren zunehmend den Sport als einen Untersuchungsgegenstand, an dem sich in geradezu idealer Weise kultur-, sozial- und politikgeschichtliche Zugriffe auf heuristisch ergiebige Weise verbinden lassen. Dies erfordert von der Geschichtswissenschaft, dass sie die in Nachbardisziplinen entwickelten und verfeinerten theoretischen Zugänge zum Sport rezipiert und sie gewinnbringend mit ihren spezifischen Methoden entfaltet. Der Beitrag zeigt an ausgewählten Beispielen die thematische Breite solcher sporthistorischer Untersuchungsfelder und benennt zugleich auch Desiderate künftiger Forschungen.
Dittmar Dahlmann"Fußball ist nur Fußball" Das Fußballländerspiel Sowjetunion gegen die Bundesrepublik Deutschland am 21. August 1955 im Moskauer Dinamostadion GWU 61, 2010, H. 7/8, S. 402–418
Etwa drei Wochen vor dem Staatsbesuch von Bundeskanzler Konrad Adenauer und dreizehn Monate nach dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954 in Bern trug die Nationalmannschaft der Bundesrepublik Deutschland im August 1955 in Moskau auf Einladung der Sowjetunion ein Länderspiel aus. In den Zeiten des Kalten Krieges diente diese Sportveranstaltung auf der einen Seite propagandistischen Zwecken und auf der anderen Seite angestrengten Bemühungen von deren Abwehr, in die schließlich das Bundespresse- und Informationsamt, das Innen- und das Außenministerium der Bundesrepublik involviert waren. Dieses Fußballländerspiel zeigt, wie sich Sport, Sportpolitik und Sportjournalismus auf prekäre Art und Weise vermischten.
Frank Bajohr"Mof" versus "Kaaskopp" Der deutsch-niederländische Fußball-Nationalismus als Seismograph nationaler Selbst- und Fremdbilder GWU 61, 2010, H. 7/8, S. 419–429
Der Fußball als ein die Massen begeisterndes, ritualisiertes Kampfspiel erweist sich oft als anfällig für nationale, ja nationalistische Projektionen, in denen sich Selbst- und Fremdwahrnehmungen seismographisch widerspiegeln. Dies zeigt die niederländisch-deutsche Fußball-Rivalität seit 1974, die ihre Dynamik nicht allein aus der Abfolge entsprechender Länderspiele gewann. In den Veränderungen und Metamorphosen dieser Rivalität kommen dementsprechend auch allgemeine Wandlungen der nationalen Selbst- und Fremdbilder zum Ausdruck.
Daniel EisenmengerDie vergessene Verfassung von Korsika 1755 GWU 61, 2010, H. 7/8, S. 430–446
Im Jahr 1755 erhielt Korsika durch Pasquale Paoli eine eigene Verfassung: die erste geschriebene, demokratische Verfassung der Welt, rund dreißig Jahre vor den amerikanischen, polnischen und französischen Entwürfen. Trotzdem sind diese Verfassung und die ihr vorausgehende Revolution nur wenigen bekannt. Dieser Artikel fasst die bekannten Fakten zur korsischen Revolution im 18. Jahrhundert zusammen, um anschließend auf die Verfassung und ihre Bedeutung im europäischen (und transatlantischen) Kontext einzugehen. Den Artikel schließen einige Überlegungen zu möglichen Gründen für die trotz guter Forschungslage weitgehende Missachtung der korsischen Entwicklung in der Geschichtsschreibung und zu didaktischen Einsatzmöglichkeiten des Verfassungstextes im Geschichtsunterricht ab.