Editorial von Michael Sauer
Film und Fernsehen sind heutzutage die wirkungsmächtigsten Vermittler von Geschichte. Sie bestimmen das Geschichtswissen und die Geschichtsvorstellungen breiter Bevölkerungskreise – so jedenfalls lässt es sich vermuten. In krassem Gegensatz zu dieser angenommenen Wirksamkeit filmischer Geschichtsvermittlung stehen unsere tatsächlichen Kenntnisse darüber. Vonseiten der (deutschen) Geschichtsdidaktik liegen bislang keinerlei empirische Studien zur Rezeption von Geschichtsfilmen vor, obgleich sie sich unter dem Leitbegriff "Geschichtskultur" schon seit langem auch die Analyse von Prozessen öffentlicher Geschichtsvermittlung auf die Fahnen geschrieben hat. Auch die Geschichtswissenschaft hat sich dem Forschungsfeld bislang nur sehr zögerlich zugewendet. Ihr Interesse beschränkt sich meist auf die Geschichtsdarstellung in einzelnen Filmen. Aufs Ganze gesehen scheint noch immer eine eher pauschale, ebenso kritische wie ängstliche Abwehrhaltung gegenüber einem als übermächtig empfundenen vermeintlichen Konkurrenten vorzuherrschen. Die Medienwissenschaft verbleibt gleichfalls auf der Ebene von Medienproduktanalysen, und auch in der Medienpsychologie finden sich so gut wie keine Rezeptionsanalysen zu historischen Themen (einzige jüngere Ausnahme ist die Studie von Wilhelm Hofmann/Anna Baumert/Manfred Schmitt: Heute haben wir Hitler im Kino gesehen. Evaluation der Wirkung des Films "Der Untergang" auf Schüler und Schülerinnen der neunten und zehnten Klasse. In: Zeitschrift für Medienpsychologie 17, 2005, H. 4, S. 132 –146).
Dabei gäbe es eine Fülle von relevanten Forschungsfragen, die sich einerseits auf die Rezeption einzelner Filme oder mehrerer Filme zu einem historischen Thema, andererseits aber auch – aus der Rezipientenperspektive – auf den jeweils spezifischen Mediengebrauch einzelner Personen oder Gruppen richten könnten. Aus didaktischer Perspektive wären Schülerinnen und Schüler zunächst einmal die interessanteste Untersuchungspopulation, weil hier auch Wechselwirkungen mit dem Geschichtsunterricht in den Blick zu nehmen wären; aber prinzipiell kämen alle möglichen anderen Rezipienten – unabhängig von Alter und Geschichtsaffinität – in Frage. Methodische Herausforderungen liegen sicherlich in den potenziell stark divergierenden und kaum zu kontrollierenden Rahmenbedingungen der Rezeption: vom Vorwissen und von den einschlägigen Medienerfahrungen bis hin zu familiären Diskursen und kulturellen Kontexten. Jedenfalls dürfte außer Zweifel stehen, dass es sich um ein erhebliches Desiderat der – in erster Linie geschichtsdidaktischen – Forschung handelt.
Erste Probebohrungen auf diesem schwierigen Gelände nehmen zwei der Beiträge dieses Heftes vor. Beide untersuchen die Filmrezeption von Schülerinnen und Schülern, Sönke Neitzel bezogen auf zwei Fernsehdokumentationen, Björn Bergold auf den Fernsehspielfilm "Die Flucht". In beiden Fällen lässt das Design der Studie keine repräsentativen Aussagen zu. Jedoch gelangen die Autoren zu teilweise hochinteressanten Tendenzaussagen. So meint Bergold feststellen zu können, dass – entgegen nahe liegenden Vermutungen – im Unterricht vermitteltes Vorwissen gerade zu einer stärker emotionalen und personalisierenden Filmwahrnehmung führe. Und man wird wohl dem resümierenden Diktum von Neitzel zustimmen müssen, "dass selbst jüngere Zuschauer durch das Fernsehen vermittelte Informationen differenzierter verarbeiten, als dies im Diskurs zwischen Fachwissenschaftlern und Journalisten angenommen wird" (S. 497).
In den weiteren Kontext der geschichtsdidaktischen empirischen Forschung eingebettet werden diese beiden Studien durch den Beitrag von Carlos Kölbl. Er gibt einen knappen, aber äußerst informativen Abriss ihrer Methodologie. Akzentuiert werden insbesondere die unterschiedlichen quantitativen und qualitativen Verfahren der Datenerhebung und Datenanalyse. Dieser Text lässt sich bestens als erste Einführung für einschlägige universitäre Lehrveranstaltungen nutzen.
Inhalt der Ausgabe 9/10
ABSTRACTS (S. 474)
EDITORIAL (S. 475)
BEITRÄGE
Carlos Kölbl Qualitative und quantitative Zugänge in der Erforschung historischen Lernens: Potenziale und Grenzen (S. 476)
Sönke Neitzel Geschichtsbild und Fernsehen. Ansätze einer Wirkungsforschung (S. 488)
Björn Bergold "Man lernt ja bei solchen Filmen immer noch dazu." Der Fernsehzweiteiler "Die Flucht" und seine Rezeption in der Schule (S. 503)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Gregor Horstkemper/Alessandra Sorbello Staub Dokumentationen, Dokudramen, Dokuclips. Geschichtsvideos in TV-Mediatheken (S. 516)
LITERATURBERICHT
Frank Uekötter Umwelt- und Technikgeschichte (S. 518)
NACHRICHTEN (S. 531)
Abstracts der Ausgabe 9/10
Carlos KölblQualitative und quantitative Zugänge in der Erforschung historischen Lernens: Potenziale und Grenzen GWU 61, 2010, H. 9, S. 476–487
Dieser Beitrag diskutiert ein breites Spektrum an methodischen Zugängen in der Erforschung historischen Lernens im Hinblick auf ihre jeweiligen Potenziale und Grenzen. Er bietet eine kurze Skizze aktueller empirischer Forschung in diesem Feld, terminologische Klärungen, abstrakte methodologische, aber auch konkrete und basale methodische Überlegungen. Abschließend werden einige Konsequenzen formuliert, zu denen ein Plädoyer für stärkere Forschungsbemühungen in Bezug auf die Analyse von Prozessen des historischen Lernens gehört.
Sönke NeitzelGeschichtsbild und Fernsehen Ansätze einer Wirkungsforschung GWU 61, 2010, H. 9, S. 488–502
Geschichte im Fernsehen löst in Deutschland immer wieder heftige Debatten aus. Über einen entscheidenden Aspekt – den Einfluss der einschlägigen Sendungen auf die Zuschauer – kann bislang allerdings nur spekuliert werden, da entsprechende Studien der Medienwirkungsforschung fehlen. Eine Untersuchung der Universität Mainz will einen ersten Beitrag leisten, dieses Forschungsfeld zu bearbeiten. Sie zeigt u. a., dass selbst Schüler und Studenten Fernsehdokumentationen weit differenzierter wahrnehmen, als dies in den Diskursen über das Geschichtsfernsehen angenommen wird.
Björn Bergold"Man lernt ja bei solchen Filmen immer noch dazu" Der Fernsehzweiteiler "Die Flucht" und seine Rezeption in der Schule GWU 61, 2010, H. 9, S. 503–515
Der Artikel präsentiert die Ergebnisse einer Studie, die die Wirkung des Zweiteilers "Die Flucht" auf Schüler untersuchte. Eine Mischung quantitativer und qualitativer Methoden konnte dabei erste, exemplarische Einblicke in die transportierten Inhalte eines Geschichts-Spielfilms der neueren Generation liefern. Besonderes Augenmerk liegt auf dem Einfluss von unterrichtlichem Vorwissen, der Bedeutung des Mediums Film im Kontext anderer Unterrichtsmittel und individuellen Rezeptionsmustern der Schüler.