Editorial von Christoph Cornelißen:
Dass Karl Dietrich Erdmann im April 2010 seinen einhundertsten Geburtstag begangen hätte, war für die Kieler Landeszentrale für Politische Bildung im Frühjahr dieses Jahres der gebotene Anlass zu einem kleinen wissenschaftlichen Kolloquium. Mit ihm sollte zum einen das Leben und das Werk eines Historikers gewürdigt werden, der seit seinem Ruf an die Universität Kiel im Jahr 1953 für mehrere Jahrzehnte das Historische Seminar geprägt hatte und sowohl überregional als auch international über seine historischen Schriften ein breites Echo auszulösen vermochte. In diesen Zusammenhang gehört auch seine Tätigkeit als Mitgründer und langjähriger Herausgeber von Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, die im Oktoberheft unserer Zeitschrift von Olaf Blaschke ausführlich behandelt worden ist. Zum anderen ging es in der Kieler Veranstaltung darum, erneut an die Diskussionen über die tatsächliche oder auch nur vermeintliche Nähe des Historikers Erdmann zum Nationalsozialismus anzuknüpfen, die seit der Veröffentlichung des Buches über die Geschichtsbilder des Historikers Karl Dietrich Erdmann von Martin Kröger und Roland Thimme (1996) erheblich an Schärfe zugenommen hatten.
In einer Phase, in der auch andere „Gründerväter“ der westdeutschen Geschichtswissenschaft wegen ihrer Schriften in den NS-Jahren in die Kritik vor allem von Angehörigen einer Enkelgeneration gerieten, dauerte es nicht lange, bis Erdmann regelmäßig in einem Atemzug mit Theodor Schieder oder auch Werner Conze angeführte wurde, wenn es um den Nachweis der Infiltration nationalsozialistischer Ideologeme in die deutsche Geschichtswissenschaft ging. So gelangte unter anderen Volker Ullrich in der einflussreichen Wochenzeitung „Die Zeit“ zu der Überzeugung, der Nationalsozialismus habe eine große Anziehungskraft auf Erdmann ausgeübt. Der spätere Kieler Historiker habe wesentliche Elemente der NS-Ideologie akzeptiert und sich bereitwillig an deren historischer Legitimierung beteiligt.
Gegen diese kritische Zuordnung Erdmanns haben Agnes Blänsdorf und Eberhard Jäckel bereits vor einigen Jahren scharfen Widerspruch erhoben, unter anderem in einem Themenheft von GWU (48/1997). Auf dem Kieler Kolloquium dieses Jahres erneuerten sie ihre Antikritik im Bündnis mit Hartmut Lehmann, und sie spitzen sie sogar noch weiter zu, teilweise unter Rückgriff auf neue Quellenfunde. So vertreten Agnes Blänsdorf und Hartmut Lehmann in ihren nachfolgend abgedruckten Beiträgen die Überzeugung, dass von antisemitischen Positionen Erdmanns in keiner Weise die Rede sein könne. Eberhard Jäckel ging noch weiter, warf er doch den Kritikern Erdmanns eine „hysterische Vergangenheitsbewältigung“ vor, zumal der größte Teil seines wissenschaftlichen Lebenswerks in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg falle. An die Stelle einer völlig überzogenen Kritik an der Haltung Erdmanns während der NS-Jahre gehöre eine ausgewogene Würdigung seiner ungemein einflussreichen wissenschaftlichen und politischen Tätigkeit in der Nachkriegsepoche. Die drei Autorinnen und Autoren, deren Tagungsbeiträge hier dokumentiert werden, sämtlich zu Erdmann als Schüler/in und/oder Kollege/in in einem engen persönlichen Verhältnis gestanden. Ihre Darstellungen werden an verschiedenen Stellen Kritik oder sogar entschiedenen Widerspruch hervorrufen. Mit der ungekürzten Wiedergabe der eingereichten Manuskripte ist uns daran gelegen, den Anstoß zu einer abwägenden und weiterführenden wissenschaftlichen Einordnung der Publikationen Erdmanns im und nach dem „Dritten Reich“ zu geben. Zu diesem Zweck sollen zu einem späteren Zeitpunkt in der GWU sowohl die Antworten der hier kritisierten Kollegen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht als auch denjenigen ein Forum geboten werden, die sich in weiterführenden Studien mit dem Werk Erdmanns vertiefend beschäftigt haben.
Inhalt der Ausgabe 12/10
ABSTRACTS (S. 690)
EDITORIAL (S. 691)
BEITRÄGE
Christoph Cornelißen Karl Dietrich Erdmann: Fortsetzung einer Debatte und offene Fragen (S. 692)
Hartmut Lehmann Karl Dietrich Erdmann in der Zeit des Nationalsozialismus: Erdmann als Lehrer (S. 700)
Agnes Blänsdorf Zur Biographie Karl Dietrich Erdmanns 1939 –1945: Soldat im Zweiten Weltkrieg (S. 713)
Eberhard Jäckel Karl Dietrich Erdmann: Seine Wirkung in der Öffentlichkeit (S. 731)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Gregor Horstkemper/Alessandra Sorbello Staub Digi20: Eine Plattform für den freien Zugang zu Forschungsliteratur (S. 737)
LITERATURBERICHT
Mark Spoerer Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte (S. 739)
NACHRICHTEN (S. 756)
REGISTER DES JAHRGANGS 61, 2010 (S. 765)
Abstracts der Ausgabe 12/10
Christoph CornelißenKarl Dietrich Erdmann: Fortsetzung einer Debatte und offene Fragen GWU 61, 2010, H. 12, S. 692–699
Der Beitrag referiert zunächst die Entwicklung der Kontroverse um die „Geschichtsbilder des Historikers Karl Dietrich Erdmann“, die im Jahr 1996 von der gleichnamigen Publikation Martin Krögers und Roland Thimmes ausgelöst wurde. Weiterhin bietet er eine kritische Einführung in die in diesem Themenheft abgedruckten Beiträge. Abschließend wirft er verschiedene forschungsleitende Fragen auf, die für die zukünftige Beschäftigung mit Erdmann und anderen Vertretern einer Historikergeneration von Bedeutung sein können, gehörte der Kieler Historiker doch zur Gründergeneration der westdeutschen Geschichtswissenschaft, die über mehrere Jahrzehnte die fachlichen und geschichtspolitischen Debatten in der Bundesrepublik dominierte.
Hartmut LehmannKarl Dietrich Erdmann in der Zeit des Nationalsozialismus: Erdmann als Lehrer GWU 61, 2010, H. 12, S. 700–712
Martin Kröger und Roland Thimme haben in ihrem 1996 publizierten Buch "Die Geschichtsbilder des Historikers Karl Dietrich Erdmann" den Nachweis zu führen versucht, auch Erdmann sei, ähnlich wie seine Nachfolger im Amt des Vorsitzenden des Verbandes der Historiker Deutschlands Theodor Schieder und Werner Conze, nach 1933 stark vom Nationalsozialismus beeinflusst gewesen. Aufgrund einer umfassenden Sichtung aller Quellen, die von der Tätigkeit des Lehrers Erdmann aus den Jahren 1934 bis 1938 vorliegen, komme ich zu dem Ergebnis, dass diese Einschätzung korrigiert werden muss: Erdmann war nie Antisemit und passte sich auch der nationalsozialistischen Ideologie nicht an.
Agnes BlänsdorfZur Biographie Karl Dietrich Erdmanns 1939 –1945: Soldat im Zweiten Weltkrieg GWU 61, 2010, H. 12, S. 713–730
Erdmann meldete sich Mitte August 1939 freiwillig zur Wehrmacht und blieb bis Kriegsende Soldat. Er nahm am Krieg gegen Holland, Belgien und Frankreich teil, war dann beim Küstenschutz in Nordfrankreich und von Oktober 1941 bis Dezember 1943 an der Ostfront bei Leningrad und machte eine beachtliche militärische Karriere. Von April 1944 bis April 1945 war er an einer Fahnenjunkerschule tätig. Dieser Aufsatz befasst sich vor allem mit Erdmanns Auffassung vom Dienst in Hitlers Wehrmacht und seinen Erwartungen für die Folgen von Sieg oder Niederlage. Die Grundlage bilden seine private Korrespondenz und zwei Notizhefte aus der Kriegszeit sowie die Personalakten des Heeres.
Eberhard JäckelKarl Dietrich Erdmann: Seine Wirkung in der Öffentlichkeit GWU 61, 2010, H. 12, S. 731–736
Ohne Zweifel gehört Karl Dietrich Erdmann zu den Hochschullehren, deren Ausstrahlung weit über die Grenzen des Hörsaals hinausreichte. Denn mit seinen Büchern und Aufsätzen erreichte der Kieler Historiker nicht nur das studentische Publikum und die Fachkollegen, sondern ebenfalls die breitere Öffentlichkeit. Seine große Wirksamkeit erklärt sich zudem mit seinem beträchtlichen Engagement in Berufsverbänden sowie seiner aktiven Rolle in öffentlichen Kontroversen. Überdies zählte er zu den wenigen Historikern, die als Politikberater eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben der Bundesrepublik spielten – zeitweilig war Erdmann sogar für das Amt des Kultusministers im Land Schleswig-Holstein im Gespräch. Der Beitrag zeichnet die Wirksamkeit Erdmanns in diesen verschiedenen Tätigkeitsfeldern nach, wobei dem Ineinanderwirken politischer und historischer Beweggründe ein besonderes Augenmerk geschenkt wird.